<284> mir zu sagen, was Sie darüber denken. Vielleicht stimmen wir überein. Wie dem aber auch sei, nichts wird die Gefühle der Achtung und Freundschaft vermindern, mit denen ich bin usw.
4. Brief des Philopatros
Ich glaubte, lieber Freund, mit der zusammenhängenden Darlegung meiner Ansichten über die bürgerlichen Pflichten Ihre Wißbegier befriedigt zu haben, aber da kommen Sie mir mit einer neuen Frage. Ich sehe, Sie wollen mich mit Epikur in Streit bringen. Das ist kein unsanfter Gegner; ich schlage den Kampf also nicht aus. Und da Sie mich nun einmal in die Schranken geführt haben, so will ich mein möglichstes tun, um die Bahn zu durchlaufen. Um aber die Dinge nicht zu verwirren, werde ich Ihren Einwendungen in der Ordnung folgen, die Ihr Brief enthält.
Ich weise Sie zunächst darauf hin, daß es für einen Ehrenmann nicht genügt, keine Verbrechen zu begehen; er muß auch tugendhaft sein. Wenn er die Gesetze nicht übertritt, so vermeidet er nur Strafen. Ist er aber weder gefällig noch dienstfertig, noch nützlich, so ist er ohne alles Verdienst und muß folglich auf die öffentliche Achtung verzichten. Sie werden also zugeben, daß Ihr eigner Vorteil Ihnen anrät, sich nicht von der Gesellschaft loszulösen, vielmehr eifrig an allem mitzuwirken, was ihr ersprießlich sein kann. Wie? Sie halten die Vaterlandsliebe für eine abstrakte Tugend, wo so viele geschichtliche Beispiele beweisen, wieviel Großes sie vollbracht hat, indem sie die Menschen hoch über alles Menschliche erhob und ihnen die Kraft zu den edelsten und ruhmvollsten Taten einhauchte! Das Wohl der Gesellschaft ist auch das Ihre. Ohne es zu wissen, sind Sie mit so starken Banden an Ihr Vaterland geknüpft, daß Sie sich weder absondern, noch von ihm lossagen können, ohne diesen Fehler schwer zu büßen. Ist die Regierung glücklich, so werden Sie selbst gedeihen. Leidet sie, so fällt ihr Mißgeschick auf Sie zurück. Erfreuen die Bürger sich ehrbaren Wohlstands, so wird es auch dem Fürsien wohl ergehen. Werden aber die Bürger vom Elend bedrückt, so ist die Lage des Fürsien bedauernswert. Die Vaterlandsliebe ist also nicht etwas rein Ideelles, sie ist sehr real. Nicht diese Häuser, Mauern, Wälder und Felder nenne ich Ihr Vaterland, sondern Ihre Eltern, Ihr Weib, Ihre Kinder und Freunde, die, welche in den verschiedenen Zweigen der Staatsverwaltung für Ihr Wohl arbeiten und Ihnen tägliche Dienste leisten, ohne daß Sie sich nur die Mühe geben, von ihrem Wirken Notiz zu nehmen. Das sind die Bande, die Sie an die Gesellschaft ketten: der Vorteil der Menschen, denen Sie Liebe schulden, Ihr eigner und der Vorteil der Regierung, die, unlöslich verknüpft, das sogenannte Ge- meinwohl der Gesamtheit bilden.