<290> Briefe stellte sich in meinem Geiste eine Fülle neuer Gedanken ein. Es erübrigt nur, sie Ihnen möglichst klar und bündig darzulegen.
Wenn Sie gestatten, beginne ich mit der Erklärung, was ich unter dem Gesellschaftsvertrage versiehe. Er ist eigentlich eine stillschweigende Übereinkunft aller Staatsbürger, mit gleichem Eifer an der allgemeinen Wohlfahrt mitzuwirken. Hieraus entspringt für jeden Einzelnen die Pflicht, nach Maßgabe seiner Mittel, seiner Talente und seines Standes zum Wohl des gemeinsamen Vaterlandes beizutragen. Die Notwendigkeit der Selbsierhaltung und der eigne Vorteil wirken auf den Geist des Volkes und treiben es an, um des eignen Nutzens willen für das Wohl seiner Mitbürger zu arbeiten. Daher der Land-, Wein- und Gartenbau, die Viehzucht, die Manufakturen, der Handel; daher die vielen tapferen Vaterlandsverteidiger, die dem Staat ihre Ruhe, ihre Gesundheit und ihr ganzes Dasein weihen. Ist aber auch der Eigennutz zum Teil die Triebfeder dieser edlen Tätigkeit, so gibt es doch noch mächtigere Motive, sie zu wecken und anzuregen, besonders bei denen, die durch edlere Geburt und höhere Gesinnungen mit ihrem Vaterlande enger verknüpft sein sollen. Pflichttreue, Ehr- und Ruhmliebe sind die stärksten Triebfedern, die in wahrhaft tugendhaften Seelen wirken.
Wie kann man sich vorstellen, daß Reichtum dem Müßiggang zum Schild dienen könnte und daß man der Regierung um so weniger anhinge, je mehr man besäße? Solche irrigen Behauptungen sind unhaltbar; sie können nur aus einem ehernen Herzen, einer fühllosen, in sich verschlossenen Seele entspringen, die nichts als Eigenliebe kennt und sich nach Kräften von allen absondert, an die Pflicht, Vorteil und Ehre sie bindet. Herkules allein ist, so sehr die Sage ihn auch als Herkules darstellt, nicht furchtbar; er wird es erst, wenn seine Genossen ihm helfen und beistehen.
Aber vielleicht ermüdet Sie die abstrakte Beweisführung. Nehmen wir Beispiele zu Hilfe. Ich will Ihnen einige aus dem Altertum, besonders aus den Republiken anführen, für die Sie, wie ich bemerkt habe, besondere Vorliebe hegen. Ich mache also den Anfang mit einigen Zitaten aus den Reden des Demosthenes, die unter dem Namen „Philippika“ bekannt sind. „Man sagt, Athener, Philipp sei gestorben. Aber was liegt daran, ob er tot oder lebendig ist? Ich sage Euch, Athener, ja ich sage Euch, Ihr werdet Euch durch Eure Nachlässigkeit, Eure Trägheit und Eure Achtlosigkeit bei den wichtigsten Geschäften bald einen andren Philipp schaffen.“ Nun werden Sie wenigstens überzeugt sein, daß dieser Schriftsteller so wie ich dachte. Doch ich begnüge mich nicht mit der einen Stelle. Hier eine zweite. Demosihenes sagt vom König von Mazedonien: „Man hält es stets mit dem, bei dem man Eifer und Tätigkeit findet.“ Dann fährt er fort: „Wenn Ihr also ebenso denkt, Athener, wenigstens jetzt, denn bisher tatet Ihr es nicht, wenn Jeder von Euch, sobald es nötig sein wird und er sich nützlich machen kann, jeden schlechten Vorwand beiseite läßt und bereit ist, der Republik zu dienen, die Reichen mit ihrem Vermögen, die Jugend mit ihrem Leben, wenn jeder handeln will wie für sich selbst und sich nicht mehr darauf verläßt,“