<294> Ihre Grundsätze würden also bei allgemeiner Befolgung unerträgliche Mißstände in der Gesellschaft hervorrufen. Nehmen wir schließlich an, Sie hätten treulich Ihres Amtes gewaltet und fielen durch eine schreiende Ungerechtigkeit in Ungnade. Bliebe Ihnen da nicht ein großer Trost im Zeugnis Ihres guten Gewissens, das Ihnen für alles andre Ersatz zu bieten vermag, ganz abgesehen davon, daß die öffentliche Meinung Ihnen Gerechtigkeit widerfahren ließe?

Wenn Sie wollen, führe ich Ihnen eine Menge von Beispielen großer Männer an, deren Ruhm durch ihr Unglück nicht geschmälert, sondern vielmehr gesteigert wurde. Hier einige Beispiele aus Republiken. Im Kriege des Xerxes gegen die Griechen rettete Themistokles zweimal die Athener, indem er sie bewog, ihre Mauern zu verlassen, und indem er die berühmte Seeschlacht von Salamis gewann. Dann erneuerte er die Mauern seiner Vaterstadt und legte den Piräushafen an. Trotzdem ward er durch das Scherbengericht verbannt. Er ertrug sein Mißgeschick mit Seelengröße, und sein Ruf litt darunter nicht nur nicht, sondern nahm noch zu, und sein Name wird in der Geschichte oft neben denen der größten Männer genannt, die Griechenland hervorbrachte. Aristides, mit dem Beinamen der Gerechte, erfuhr fast das gleiche Schicksal. Er wurde verbannt, dann zurückgerufen, aber stets wegen seiner Weisheit geschätzt. Ja, nach seinem Tode setzten die Athener seinen unbemittelten Töchtern einJahresgehalt aus. Soll ich Sie noch an den unsterblichen Cicero erinnern, der durch Ränke verbannt wurde, nachdem er das Vaterland gerettet hatte? Soll ich Sie an all die Gewalttaten erinnern, die sein Feind Clodius gegen ihn und seine Angehörigen verübte? Trotzdem rief ihn das römische Volk einstimmig zurück. Er selbst spricht sich folgendermaßen darüber aus: „Ich wurde nicht allein zurückgerufen; meine Mitbürger trugen mich gleichsam auf ihren Schultern nach Rom zurück, und meine Heimkehr in die Vaterstadt war ein wahrer Triumph.“1

Unglück kann den Weisen nicht erniedrigen; denn es kann ebenso leicht gute wie schlechte Bürger treffen. Nur Verbrechen, die wir begehen, entehren uns. Also, statt Beispiele verfolgter Tugend als Zügel zu brauchen und sich durch sie abhalten zulassen, sich auszuzeichnen, lassen Sie sich lieber durch meinen Sporn dazu antreiben! Ich ermuntere Sie, Ihre Pflichten zu erfüllen, Ihre guten Eigenschaften an den Tag zu legen, durch Taten zu beweisen, daß Sie für das Vaterland ein dankbares Herz haben, kurz, die Laufbahn des Ruhmes einzuschlagen, die Sie zu betreten würdig sind. Ich verlöre Zeit und Mühe, überzeugte ich Sie nicht, daß meine Ansichten richtiger sind als die Ihren und allein einem Manne Ihrer Herkunft geziemen. Ich liebe mein Vaterland mit Herz und Seele. Meine Erziehung, mein Hab und Gut, mein Dasein — alles verdanke ich ihm. Hätte ich tausend Leben, ich würde sie alle mit Freuden opfern, wenn ich ihm dadurch einen Dienst erweisen oder meine Dankbarkeit bezeigen könnte. Mein Freund Cicero sagt in einem seiner Brefe: „Ich glaube niemals dankbar“


1 Oratio post reditum in senatu, Kap. XI, XV.