<45> daß die verschiedenen Beweggründe zur Tugend nicht mehr die guten Wirkungen hervorrufen, die man erwarten sollte. Wie viele Heiden waren nur dem Namen nach Philosophen! Man braucht nur bei Lucian zu lesen, in wie schlechtem Rufe die Philosophen zu seiner Zeit standen. Wie viele Christen arteten aus und verderbten die alte Sittenreinheit! Habgier, Ehrgeiz und Fanatismus erfüllten die Herzen derer, die der Welt zu entsagen gelobt hatten, und untergruben das, was die schlichte Tugend begründet hatte. Die Geschichte ist voll von solchen Beispielen. Mit Ausnahme von einigen frommen, aber für die Gesellschaft unnützen Klausnern geben die heutigen Christen den Römern zur Zeit des Marius und Sulla nichts nach. Wohlgemerkt beschränke ich mich bei diesem Vergleich nur auf die Sitten.
Diese und ähnliche Betrachtungen haben mich veranlaßt, den Ursachen nachzuspüren, die eine so seltsame Verderbnis des Menschengeschlechts herbeigeführt haben. Ich weiß zwar nicht recht, ob ich meine Mutmaßungen über eine so schwerwiegende Frage äußern darf. Es scheint mir jedoch, als hätte man vielleicht eine falsche Wahl der Beweggründe getroffen, die die Menschen zur Tugend antreiben sollen. Diese Beweggründe haben nach meiner Ansicht den Mangel, daß sie der großen Masse nicht faßlich sind.
Die Stoiker bedachten nicht, daß die Bewunderung ein erzwungenes Gefühl ist, dessen Eindruck sich schnell verwischt, und dem die Eigenliebe sich nur widerwillig fügt. Daß die Tugend schön sei, gesieht man leicht zu, well dies Geständnis nichts kostet. Da wir es aber mehr aus Gefälligkeit als aus Überzeugung ablegen, so bestimmt es uns nicht zur eignen Besserung, zur Bezwingung unsrer schlechten Neigungen, zur Bezähmung unsrer Leidenschaften.
Die Platoniker hätten an die unermeßliche Kluft zwischen dem höchsten Wesen und dem gebrechlichen Geschöpf denken sollen. Wie tonnten sie diesem Geschöpf zumuten, seinen Schöpfer nachzuahmen, von dem es sich bei seinem beschränkten und begrenzten Verstande nur eine unbestimmte, schwankende Vorstellung bilden konnte? Unser Geist ist der Herrschaft der Sinne unterworfen. Unser Verstand befaßt sich nur mit Dingen, bei denen die Erfahrung uns erleuchtet. Ihm abstrakte Gegenstände vorlegen, heißt ihn in ein Labyrinth führen, aus dem er nie herausfinden wird. Stellt man ihm aber greifbare Gegenstände vor Augen, so kann man ihm Eindruck machen und ihn überzeugen. Nur wenige große Geister vermögen den gesunden Verstand zu bewahren, wenn sie in die Finsternisse der Metaphysik eindringen. Der Mensch ist im allgemeinen mehr sinnlich als vernünftig veranlagt.
Die Epikuräer wiederum mißbrauchten den Begriff der Lust und schwächten dadurch unbewußt das Gute ihrer Grundsätze. Durch dies zweideutige Wort gaben sie ihren Schülern Waffen zur Entstellung ihrer Lehre in die Hand.
Die christliche Religion — ich verehre das Göttliche, das man ihr zuschreibt, und rede hier bloß als Philosoph — bot dem Verstand nur abstrakte Begriffe. Um sie ihm begreiflich zu machen, hätte man also jeden Katechumenen zum Metaphysiker