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Weshalb sucht man die Menschen bei ihrem eignen Vorteil zu fassen, wenn man sie zu diesem oder jenem Entschluß bewegen will? Doch nur, weil der eigne Vorteil von allen Gründen der stärkste und überzeugendste ist. Brauchen wir also dasselbe Argument für die Moral. Machen wir den Menschen klar, daß sie sich durch lasterhaften Wandel unglücklich machen, daß aber mit guten Handlungen gute Folgen unzertrennlich verknüpft sind. Wenn die Kreter ihren Feinden fluchten, so wünschten sie ihnen lasterhafte Leidenschaften, das heißt, sie wünschten ihnen, sie möchten sich selber in Unglück und Schande stürzen1. Diese einleuchtenden Wahrheiten können bewiesen werden und sind für Weise, für Leute von Verstand und für den Pöbel gleich faßlich.

Man wird mir ohne Zweifel einwenden: meine Behauptung, daß mit guten Handlungen Glück verknüpft ist, sei schwer in Einklang zu bringen mit den Verfolgungen der Tugend und mit der Art von Wohlstand, in der sich viele verderbte Menschen befinden. Der Einwand ist leicht zu beheben, wenn wir unter dem Worte Glück nichts andres verstehen als vollkommene Seelenruhe. Sie gründet sich auf Zufriedenheit mit sich selbst und darauf, daß wir mit gutem Gewissen unsre Handlungen gutheißen können und uns keine Vorwürfe zu machen haben. Nun ist es ja klar, daß diese Empfindung in einem sonst unglücklichen Menschen herrschen kann, nicht aber in einem rohen und wilden Herzen; denn ein solches Herz muß, wenn es sich betrachtet, sich selbst verabscheuen, so glänzend auch sein äußeres Geschick scheinen mag.

Wir wollen nicht gegen die Erfahrung streiten, sondern zugeben, daß es eine Menge Beispiele unbestrafter Verbrechen gibt, daß viele Bösewichter ein Ansehen genießen, das vom blöden Volke bewundert wird. Aber fürchten diese Verbrecher nicht, daß die für sie so schreckliche Wahrheit eines Tages ans Licht kommt, daß die Zeit ihre Schande enthüllt? Konnte wohl der eitle Glanz, der die gekrönten Ungeheuer, einen Nero, Caligula, Domitian oder Ludwig XI. umgab, die geheime Stimme ihres Gewissens ersticken, die sie verurteilte? Konnte er verhindern, daß sie von Gewissensbissen verzehrt und von der unsichtbaren Rachegeißel zerfleischt wurden? Welche Seele kann in solcher Lage ruhig bleiben? Empfindet sie nicht schon im Leben alles Gräßliche, was die Höllenqual haben kann? Übrigens urteilt man sehr falsch, wenn man das Glück eines andren nur nach dem äußeren Schein bemißt. Es läßt sich nur nach der Denkart dessen schätzen, der es empfindet: die aber ist sehr verschieden. Der eine liebt den Ruhm, der andre das Vergnügen. Dieser hängt sein Herz an Kleinigkeiten, jener an Dinge, die man für wichtig hält. Ja, einige verabscheuen das, was andre sich wünschen oder als das höchste Gut ansehen.

Es gibt also keine feste Norm zur Beurtellung dessen, was von einem willkürlichen und oft phantastischen Geschmack abhängt. Daher kommt es oft, daß man laut das Glück und den Wohlstand von Leuten bewundert, die im Stillen bitter unter der Last ihres Kummers seufzen. Da wir nun also das Glück weder in äußeren Dingen noch


1 Valerius Maximus, Buch VII, Kapitel 2.