<50> aufbäumen, das die Religion ihren Leidenschaften auflegen will. Sie streifen ihre Fesseln ab, sprechen sich stillschweigend von einem Gesetze los, das ihnen Zwang antut, und suchen in völligem Unglauben eine Freistätte. Ich behaupte nun: alle Beweggründe, die man zur Besserung solcher Charaktere anwenden kann, gereichen der christlichen Religion offenbar zum größten Vorteil. Ja, ich glaube, der eigne Vorteil des Menschen ist das mächtigste Motiv, mit dem man sie von ihren Verirrungen abbringen kann. Ist der Mensch einmal davon überzeugt, daß es in seinem eignen Interesse liegt, tugendhaft zu sein, so wird er sich auch lobenswerter Handlungen befleißigen, und da er dann der Moral des Evangeliums tatsächlich gemäß lebt, wird man ihn auch leicht dahin bringen, aus Liebe zu Gott das zu tun, was er schon aus Liebe zu sich selbst getan hat. Das nennen die Theologen: heidnische Tugenden in christliche, geheiligte verwandeln.
Doch hier stellt sich ein neuer Einwand dar. Man wird mir gewiß entgegenhalten: „Du widersprichst dir selbst. Du denkst nicht daran, daß man die Tugend als einen Trieb der Seele zu größter Selbstlosigkeit definiert. Wie kannst du also wähnen, man könne zu dieser völligen Selbstaufgabe durch den eigenen Vorteil gelangen, das heißt, durch den ihr strikt entgegengesetzten Seelenzustand?“
Der Einwurf ist stark, aber doch leicht zu widerlegen, wenn man die verschiedenen Triebfedern der Selbstliebe betrachtet. Bestünde sie nur aus dem Verlangen nach Gütern und Ehren, so hätte ich nichts zu erwidern. Aber ihr Trachten beschränkt sich nicht auf so wenig. Sie umfaßt zunächst Liebe zum Leben und zur Selbsterhaltung, dann Begierde nach Glück, Furcht vor Tadel und Schmach, Verlangen nach Ansehen und Ruhm und schließlich die Leidenschaft für alles, was man für nützlich hält. Dazu tritt noch Abscheu vor allem, was man der Selbsierhaltung schädlich glaubt. Man braucht also nur die Urteile der Menschen zu berichtigen. Wonach muß ich trachten, was muß ich meiden, um die sonst rohe und schädliche Eigenliebe nützlich und lobenswert zu machen?
Die Beispiele der größten Uneigennützigkeit, die wir haben, rühren aus der Eigenliebe her. Die hochherzige Aufopferung der beiden Decius1, die ihr Leben freiwillig Hingaben, um dem Vaterland den Sieg zu erringen — woraus entsprang sie, wenn nicht daraus, daß sie ihr Leben weniger hoch einschätzten als den Ruhm? Weshalb widerstand Scipio im Jünglingsalter, wo die Leidenschaften so gefährlich sind, der Versuchung, in die ihn die Schönheit seiner Gefangenen brachte? Warum gab er sie als Jungfrau ihrem Verlobten zurück und überhäufte beide mit Geschenken2? Können wir zweifeln, daß der Held gemeint hat, sein edles, großmütiges Benehmen werde
1 Publius Decius Mus opferte sich als Konsul freiwillig für das Vaterland, um den Sieg in der Schlacht am Vesuv (340 v. Chr.) zu erringen. Sein gleichnamiger Sohn tat dasselbe in der Schlacht bei Sentinum (295 v. Chr.). Nur dessen Opfertod ist historisch beglaubigt.
2 Wie Valerius Maximus (Buch IV, Kapitel 3) berichtet, trug sich der Vorgang im Jahre 210 nach der Eroberung von Neu-Karthago in Spanien durch den älteren Scipio Africanus zu.