<58> heute, gleich unsren Vorfahren, erdichteten Göttern Menschenopfer darbringen und das Werk unsrer eignen Hände anbeten. Wir würden gezwungen sein, zu glauben, und wagten nicht nachzudenken, und so dürften wir vielleicht noch immer nicht unsre Vernunft dazu brauchen, die für unser Schicksal wichtigsten Fragen zu prüfen. Wir würden noch immer wie unsre Väter den Freipaß für das Paradies und Ablaß für Verbrechen mit Gold aufwiegen. Die Wüstlinge wurden Hab und Gut drangeben, um nicht ins Fegefeuer zu kommen. Wir würden noch Scheiterhaufen für Andersdenkende errichten. Leere Gebräuche würden den Zwang zur Tugend ersetzen, und tonsurierte Betrüger würden uns im Namen der Gottheit zu den abscheulichsten Schandtaten antreiben. Wenn der Fanatismus zum Teil noch besieht, so kommt das daher, weil er in den Zeiten der Unwissenheit zu tiefe Wurzeln geschlagen hat, und weil der Vorteil gewisser Gesellschaften in grauen, schwarzen, braunen und weißen Kutten es erheischt, das Übel stets wieder zu beleben und seine Ausbrüche zu vermehren, nur damit sie das Ansehen nicht einbüßen, das sie noch im Geiste des Volkes besitzen.

Wir geben zu, daß die Logik das Begriffsvermögen des Pöbels übersteigt. Diese zahlreiche Menschengattung läßt sich immer zu allerletzt die Augen öffnen. Aber wenn sie auch in allen Ländern den Schatz des Aberglaubens behütet, so darf man doch sagen, daß man ihr den Wahn von Zauberern, Besessenen, Goldmachern und andre, ebenso kindische Albernheiten ausgetrieben hat. Das verdanken wir der tieferen Naturerkenntnis.

Die Physik hat sich mit der Analyse und mit der Erfahrung verbündet. Man hat kräftig in die Dunkelheiten hineingeleuchtet, die den Gelehrten des Altertums so viele Wahrheiten verbargen. Wenn wir auch nicht zur Kenntnis der geheimen Urgründe gelangen können, die der große Weltenbaumeister sich selbst vorbehalten hat, so fanden sich doch mächtige Geister, die die ewigen Gesetze der Schwerkraft und der Bewegung entdeckt haben. Der Kanzler Bacon, der Vorläufer der neuen Philosophie, oder besser gesagt der Mann, der ihre Fortschritte ahnte und vorhersagte, hat Newton auf die Pfade seiner wunderbaren Entdeckungen geführt. Newton löste Descartes ab, der die alten Irrtümer beseitigte, um sie durch eigne zu ersetzen. Seitdem hat man die Luft gewogen1, den Himmel ausgemessen, den Lauf der Gestirne mit unendlicher Genauigkeit berechnet2, die Finsternisse vorhergesagt, eine unbekannte Eigenschaft der Materie, die Elektrizität, entdeckt, deren Wirkungen die Vorstellungskraft in Erstaunen setzen. Ohne Zweifel wird man binnen kurzem auch die Wiederkehr der Kometen ebenso vorausbestimmen können wie die Finsternisse. Doch eins danken wir schon dem gelehrten Bayle: er hat den Schrecken verscheucht, den das Erscheinen des Kometen bei den Unwissenden hervorrief3. Gestehen wir es nur: so sehr unsre menschliche Schwäche uns auch demütigt, so sehr stärken die Leistungen jener großen Männer unsren Mut und lassen uns die Würde unsres Seins empfinden.


1 Toiricelli, vgl. Bd. II, S. 44.

2 Newton, vgl. Bd. II. S. 44.

3 Anspielung auf die 1682 von Bayle veröffentlichte Schrift über den großen Kometen von 1680.