Alle Allegorien in diesem Gedicht sind neu. Die Politik, die im Vatikan haust, der Tempel der Liebe, die wahre Religion, die Tugenden, die Zwietracht, die Laster — alles lebt, alles regt sich unter Voltaires Griffel. Lauter Bilder, die nach dem Urteil der Kenner den geschickten Pinsel Poussins und der Caracci1 übertreffen.
Es bleibt mir nur noch ein Wort über die Poesie des Stiles — das, worin sich der Dichter als solcher erweist. Nie war die französische Sprache so kraftvoll wie in der „Henriade“, überall herrscht Adel. Mit unendlichem Feuer erhebt sich der Dichter zum Erhabenen, und steigt er herab, so geschieht es mit Anmut und Würde. Welche Lebhaftigkeit in der Darstellung, welche Kraft in den Charakteren und Schilderungen, welche Vornehmheit in den Einzelheiten! Der Kampf des jungen Turenne2 wird zu allen Zeiten die Bewunderung der Leser herausfordern. Hier, in der Schilderung des Degenkampfes, bei den Stößen, Paraden, Gegenstößen und Treffern fand Voltaire das Haupthindernis in seiner Sprache. Trotzdem hat er die Schwierigkeit glänzend überwunden. Er versetzt den Leser auf das Schlachtfeld, und man glaubt mehr, einem Kampfe beizuwohnen, als dessen Beschreibung in Versen zu lesen.
Die gesunde Moral, die Schönheit der Gefühle findet in diesem Gedicht ihren wünschenswertesten Ausdruck. Heinrichs IV. besonnene Tapferkeit, sein Edelmut, seine Menschlichkeit sollten allen Königen und Helden zum Vorbild dienen. Wie oft verfahren sie hart und roh gegen die, die das Schicksal der Staaten oder das Kriegsglück in ihre Hand gegeben hat! Ihnen sei im Vorübergehen gesagt: wahre Größe liegt nicht in der Unbeugsamkeit und Tyrannei, sondern in den Gefühlen, die der Verfasser so edel kennzeichnet:
Freundschaft, du Himmelsgabe, großer Seelen Lust,
Freundschaft, nie heimisch in der Herrscher Brust —
Zum Unglück der erlauchten Undankbaren3.
Zu den Meisterstücken der „Henriade“ gehört der Charakter Philipps von Mornay4. Ein ganz neuer Charakter: ein philosophischer Krieger, ein menschlicher Soldat, ein Hofmann, wahr und ohne Schmeichelei. Ein solcher Ausbund seltener Tugend verdient unsern Beifall. Und so bildet er denn auch für den Dichter einen reichen Quell edler Gefühle. Wie gern sehe ich diesen Philipp von Mornay, den treuen, stoischen Freund, an der Seite seines jungen, tapfern Herrn, wie er überall den Tod abwehrt und ihn doch nie austeilt5. Welcher Abstand zwischen diesem weisen Philosophen und den heutigen Sitten! Ja, für das Wohl der Menschheit ist es tief zu beklagen, daß ein so schöner Charakter nur in der Phantasie existiert.
Übrigens atmet die ganze „Henriade“ nichts als Menschlichkeit. Unablässig hebt Voltaire diese Tugend hervor, die den Fürsten so nötig, ja ihre einzige Tugend ist.
1 Nicolas Poussin († 1665); Lodovico Caracci († 1619): Annibale Caracci († 1609).
2 Henri de la Tour d'Auvergne, Vicomte de Turenne, der Vater des berühmten Feldherrn (X. Gesang, Vers 107).
3 VIII. Gesang, Vers 322—324.
4 Philipp de Mornay Duplessis († 1623), Führer der Protestanten und Freund Heinrichs IV.
5 VIII. Gesang, Vers 180—204.