Betrachtungen über die Betrachtungen der Mathematiker über die Dichtkunst (1762)1
alle Welt schweigt, übernehme ich Unwürdiger, der Letzte unter den französischen Dichtern, die Verteidigung meiner Brüder in Apoll und ihrer zaubere vollen Kunst gegen die Angriffe der verderblichen Sekte der Mathematiker. Gibt es nichts Besseres zu tun? werden diese in ihrer Bosheit fragen. Vielleicht! kann man ihnen antworten. Aber es gilt die Ehre einer göttlichen Kunst zu rächen. Der Ge> meinsinn, den man als Mitglied der Dichterzunft erlangt, zwingt mich zu handeln und das Schweigen zu brechen, das bei längerer Dauer verbrecherisch würde. Geht es hier doch um einen großen Gegenstand. Indes zur Sache!
Nach der Behauptung der Mathematiker finden Leute, die in ihrer Jugend die Dichtkunst liebten, sie langweilig, wenn sie alt und schwach werden. Schade um sie! Aber was ist damit bewiesen? Worauf wollen die Mathematiker mit ihrer Behauptung hinaus? Ich glaube ihre Absicht zu erraten, und mein Gewissen zwingt mich, sie zu offenbaren. „Die Greise“, so sagen sie, „sind voll Weisheit. Sie sind von den Irrtümern und Vorurteilen der Jugend geheilt, durch lange Erfahrung gewitzigt und genießen die öffentliche Achtung. Wenn wir beweisen, daß die Greise in ihrer Weisheit der Poesie überdrüssig sind, verleugnen wir die Poesie selber. Zugleich beschämen wir alle, die Liebhaber der Poesie sind und für verständig gelten wollen. Dadurch schwächen wir ihren Anhang beträchtlich und belustigen die Leute weidlich mit unsren Kurven, Tangenten, Ellipsen und Parabeln und all unsren Spielsachen, die bisher einen sehr schlechten Absatz fanden.“ Welch eine Verschwörung! Wieviel Langeweile würde sich über die Erde verbreiten, könnten sie ihren Plan zur Ausführung bringen!
Die Dichtkunst ist eine lebendige und harmonische Schilderung aller Dinge der Natur und aller Gefühle unsres Herzens. Ist sie das, so behaupte ich dreist: man
1 Der obige, im April 1762 verfaßte Aufsatz richtet sich gegen die 1760 von d'Alembert in der Pariser Akademie verlesene Abhandlung: „Réflexions sur la poésie, écrites à l'occasion des pièces que L'Académie a reçues cette année pour le concours.“ Der Aussatz führt daher auch den Untertitel: „Zweifel über t/Alemberts Betrachtungen über die Dichtkunst.“ Jean le Rond d'Alembert, der Freund des Königs, gehörte zu den bedeutendsten Philosophen und Mathematikern des Jahrhunderts.