<63> kann den Geschmack an ihr nur verlieren, wenn man das seelische Feingefühl verloren hat — wofern man nicht zeitlebens geistig gelähmt war. Die Dichtkunst kann somit nie außer Mode kommen. Sie kann zu einer Zeit mehr blühen als zu einer andren; das hängt von dem Genie oder der Talentlosigkeit ihrer Hüter ab.

Die Sonette, Gedichte mit zwei feststehenden Reimen und andre Versspielereien hat man mit Recht vernachlässigt; denn wenn sie auch gelingen, entspricht ihr Erfolg doch nicht der aufgewandten Mühe. Die Elegie ist mehr im Schwange denn je. Man gibt ihr nur einen andren Namen. Gehört nicht ein Viertel aller guten Tragödien zur elegischen Dichtung? Die Trauerelegie mißfallt durch das Gekünstelte ihrer Gefühle und weil die meisten Dichter zu lange Elegien schreiben, die den Leser ermüden.

Die Gattung der Eklogen ist geteilt worden. Die Landschaftsschilderung führt zu einer Unzahl von reizvollen Einzelbildern, und die Liebe kommt überall zur Darstellung, wo sie in den ältesten Zeiten möglich ist. Die Besitzer großer Herden waren damals die vornehmen Herren, und ihre Troubadoure besangen die Reize des Landlebens. Theokrit, der jenen Zeiten noch nahe stand, schilderte ihre Sitten in seinen Idyllen. Er fand damit Anklang, weil die Griechen die Erinnerung an jene Zeiten noch bewahrten. Virgil ahmte Theokrit nach, und die Römer, die in der griechischen Literatur bewandert waren, fanden Geschmack an ihren Werken, obwohl die Sitten sich bereits sehr verändert hatten. Vollends in unsrem Jahrhundert des Luxus und der Weichlichkeit sind die Sitten zum Gegenteil der holden Schlichtheit geworden, die in jenen alten Zeiten herrschte. Die Hirten, die wir sehen, sind armseliges Volk und durch den beständigen Umgang mit ihren Herden verdummt. Aus ihnen könnte man keine Amaryllis oder Thyrsis1 mehr machen, und folglich können sie keine Rolle mehr spielen. Immerhin besitzen wir den „Bach“ von Madame Deshoulières2, ein reizendes Gedicht, und wir bedauern die Verehrer der Algebra, daß es nicht die Ehre hat, ihnen zu gefallen.

Die Satire in Versen ist ebensowenig langweilig. Ihr Salz reizt und gefällt; denn der Mensch ist eine boshafte Kreatur. Sie ist freilich gefährlicher als die Prosasatire, da man Verse leichter im Gedächtnis behält. Sie werden zu Sprichwörtern, und wehe dem, den sie verspotten! Die Prosasatire hat den Vorzug, daß sie leichter vergessen wird. Wenn es schon Satiren geben muß, so verträgt sie sich besser mit der Menschlichkeit. Die kleinen Gedichte sind, wenn sie lustig, naiv und liebenswürdig sind, die Träger des harmlosen Scherzes. Sind auch niederträchtige darunter, so bilden die gutartigen doch den Reiz der Geselligkeit.

Aber unsre Mathematiker, die auf dem Saturnring hocken, wissen von alledem nichts. Der Dunst der Gleichungen verschleiert ihnen, was auf der kleinen Erdkugel


1 Schäferinnen aus Virgils Eklogen.

2 Antoinette Deshoulières (1633—1694), genannt die zehnte Muse.