<7> Er zeigt uns einen siegreichen König, der den Besiegten vergibt. Er führt den Helden bis vor die Mauern von Paris, aber statt die rebellische Stadt zu plündern, gibt er den von furchtbarer Hungersnot heimgesuchten Einwohnern die nötigen Lebens, Mittel. Umgekehrt braucht der Dichter die grellsten Farben für die scheußliche Metzelei der Bartholomäusnacht und die unerhörte Grausamkeit Karls IX., der mit eigener Hand gegen seine kalvinistischen Untertanen wütete. Die düstre Politik Philipps II., die Ränke und Kunstgriffe Sirtus' V., die schlaffe Untätigkeit Valois' und die Sünden, die Heinrich IV. aus Liebe begeht, werden beim rechten Namen genannt. Der Dichter umrankt alle seine Schilderungen mit kurzen, treffsicheren Bemerkungen, die das Urteil der Jugend bilden und den rechten Begriff von Tugend und Lasier geben müssen. Immer wieder mahnt Voltaire die Völker zur Treue gegen Gesetz und Herrscher. Er verewigt den Namen des Präsidenten Harlay1, dessen unerschütterliche Treue gegen seinen Herrn solchen Lohn wohl verdiente. Ein gleiches gilt von den Räten Brisson, Larcher, Tardif, die von den Rebellen umgebracht wurden. Hier macht der Dichter folgende Bemerkung:
„Unsterblichkeit sich euer Ruf erwirbt:
Mit Ruhm stirbt, wer für seinen König stirbt2.
Poliers Rede vor den Rebellen3 ist gleich schön durch die Richtigkeit der Empfindungen wie durch die Kraft der Beredsamkeit. Der Dichter läßt einen ernsten Beamten vor der Ratsversammlung der Ligue reden. Mutig tritt er den Plänen der Rebellen entgegen, die einen König aus ihrer Mitte wählen wollen. Er mahnt sie, sich ihrem rechtmäßigen Gebieter4 zu unterwerfen, dessen Herrschaft sie sich entziehen wollen, verurteilt alle Mannstugend der Aufständischen, all ihre kriegerische Tapferkeit, die sich gegen ihren König richtet und dadurch zum Verbrechen wird. Aber was ich auch über diese Rede sage, ich reiche doch nicht an sie heran. Man muß sie aufmerksam lesen. Ich will ja auch nur die Leser auf die Schönheiten hinweisen, die sie übersehen könnten.
Ich gehe zu dem Religionskrieg über, der den Gegenstand der „Henriade“ bildet. Der Dichter mußte natürlich die Mißbräuche geißeln, die durch Aberglauben und Fanatismus in der Religion eingerissen sind. Hat man doch stets bemerkt, daß Glaubenskriege — das ist ihr besonderes Verhängnis — stets blutiger und erbitterter waren als Kriege, die der Ehrgeiz der Fürsten oder die Widerspenstigkeit der Untertanen hervorrief. Da nun Fanatismus und Aberglaube stets die Triebfedern der abscheulichen Politik der Großen und der Geistlichen waren, so mußte ihnen unbedingt ein Damm entgegengesetzt werden. Mit der ganzen Glut seiner Einbildungskraft, der ganzen Macht der Poesie und Beredsamkeit hat der Dichter die Torheiten unsrer Vorfahren der Gegenwart vor Augen gestellt, um uns für immer davor zu
1 Achille de Harlay, Präsident des Pariser Parlaments (IV. Gesang, Vers 439).
2 IV. Gesang, Vers 467. 468.
3 Nicolas Polier de Blancmesnil, Präsident des Pariser Parlaments (VI. Gesang, Vers 83—134).
4 Heinrich IV.