<81> Mangel einer allgemeinen Methode für den gelehrten Unterricht. Jeder Professor hat seine eigne. Nach meiner Ansicht gibt es nur eine gute Methode; an die muß man sich halten. Wie aber geht es heute zu? Ein Professor der Jurisprudenz z. B. hat einige Lieblingsjuristen, deren Meinungen er erklärt. Er hält sich an ihre Werke und verschweigt, was andre Autoren über das Recht geschrieben haben. Er streicht die Würde seiner Wissenschaft heraus, um seine eignen Kenntnisse ins Licht zu setzen. Er glaubt für ein Orakel zu gelten, wenn er in seinen Vorträgen dunkel ist. Er spricht von den Gesetzen von Memphis, wenn es sich um das Osnabrücker Gewohnheitsrecht handelt1, oder bläut einem würdigen Zögling des Klosters Sankt Gallen die Gesetze des Minos ein. Der Philosoph hält sich ungefähr in der gleichen Weise an sein Lieblingssystem. Die Schüler verlassen sein Kolleg voller Vorurteile. Sie haben nur einen kleinen Teil der philosophischen Systeme vernommen und kennen weder all ihre Irrtümer noch all ihre Ungereimtheiten. Was die Medizin betrifft, so schwanke ich noch, ob sie eine Kunst ist oder nicht. Jedenfalls aber bin ich überzeugt, daß kein Mensch die Macht besitzt, einen Magen, Lungen oder Nieren zu erneuern, wenn diese wichtigen Organe des menschlichen Lebens schadhaft sind. Meinen Freunden rate ich ernstlich, im Krankheitsfalle lieber einen Arzt zu rufen, der schon mehrere Kirchhöfe angefüllt hat, als einen Schüler Hoffmanns2 oder Boerhaves3, der noch keinen umgebracht hat. Gegen die Mathematiklehrer habe ich nichts einzuwenden. Die Mathematik ist die einzige Wissenschaft, die keine Selten erzeugt hat. Sie beruht auf Analysis, Synthesis und Berechnung. Sie beschäftigt sich nur mit greifbaren Wahrheiten, und so hat sie denn in allen Ländern die gleiche Methode. Auch der Theologie gegenüber hülle ich mich in ehrfürchtiges Schweigen. Man sagt, sie sei eine göttliche Wissenschaft und Ungeweihte dürften das heilige Rauchfaß nicht berühren. Mit den Herren Geschichtsprofessoren darf ich wohl etwas weniger behutsam verfahren und bei ihrer Prüfung einige leise Zweifel ausdrücken. Ich gestatte mir die Frage an sie: Ist das Studium der Chronologie das Wichtigste in der Geschichte? Ist es eine unverzeihliche Sünde, sich im Todesjahr des Belos4 zu irren, oder in dem Tage, da Darius durch das Wiehern seines Pferdes auf den persischen Thron erhoben wurde? Zu welcher Stunde die Goldene Bulle bekannt gemacht wurde, ob um sechs Uhr morgens oder um vier Uhr nachmittags? Was mich betrifft, so genügt mir der Inhalt der Goldenen Bulle und daß sie im Jahre 1356 erlassen wurde. Ich will damit zwar nicht die Historiker in Schutz nehmen, die Verstöße in der Zeitrechnung begehen. Aber ich würde ihnen solche kleinen Fehler eher nachsehen als bedeutende Mängel,


1 Die Schriften von Justus Moser waren dem König jedenfalls unbekannt. In dem Hinweis auf das „Osnabrücker Gewohnheitsrecht“, auf das im folgenden erwähnte Kloster Sankt Gallen liegt bittere Ironie, verband doch die damalige Zeit mit allem Westfälischen die Vorstellung des Groben und Bäurischen und mit dem Kloster Sankt Gallen den Begriff der Einfalt und Beschränktheit.

2 Friedrich Hoffmann (1660—1742), Professor in Halle.

3 Hermann Boerhave (1668—1738), Professor der Medizin, Botanik und Chemie in leiden.

4 Ein alter König der Ägypter.