<87> Logiker Europas. Seine Schlüsse besitzen nicht nur Kraft und Schärfe, sondern er zeichnet sich vor allem auch dadurch aus, daß er eine Behauptung mit einem Blick übersieht, ihre starke und schwache Seite erkennt, wie man sie stützen und wie man die Gegner widerlegen kann. In seinem großen „Dictionnaire“1 greift er Ovid wegen der Entstehung der Welt aus dem Chaos an. Da findet man vorzügliche Artikel über die Manichäer, über Epikur, Zoroaster usw. Alle verdienen gelesen und studiert zu werden. Das wird ein unschätzbarer Gewinn für die Jugend sein, die sich die Urteilskraft und den durchdringenden Verstand dieses großen Mannes zu eigen machen kann.

Sie erraten schon im voraus, welche Autoren ich den Schülern der Beredsamkeit empfehle. Damit sie den Grazien opfern lernen, wünschte ich, sie läsen die großen Dichter, Homer, Virgil, ein paar ausgewählte Oden des Horaz, einige Verse des Anakreon. Damit sie Geschmack an der hohen Redekunst gewinnen, würde ich ihnen Demosthenes und Cicero in die Hand geben. Man müßte ihnen klarmachen, worin der Unterschied zwischen beiden Redekünstlern besteht. Dem einen ließe sich nichts hinzufügen, dem andern nichts fortnehmen.2 Auf diese Lektüre könnten die schönen Grabreden Bossuets3 und Flechiers4, des französischen Demosthenes und Cicero, und die kleinen Fastenpredigten von Massillon5 folgen, die voller Züge erhabenster Beredsamkeit sind.

Damit die Schüler lernen, wie man Geschichte schreiben soll, möchte ich, daß sie Livius, Sallust und Tacitus läsen. Man müßte sie auf den Adel des Stils, die Schönheit der Darstellung aufmerksam machen, aber zugleich die Leichtgläubigkeit rügen, mit der Livius am Ende jedes Jahres eine Aufstellung von Wundern gibt, deren eins immer lächerlicher ist als das andre. Danach könnten die jungen Leute die Weltgeschichte von Bossuet und die „Römischen Staatsumwälzungen“ vom Abbé Vertot6 lesen. Auch könnte man die Einleitung zur „Geschichte Karls V.“ von Robertson7 hinzufügen. Auf die Weise würde man ihren Geschmack bilden und sie lehren, wie man schreiben muß. Besitzt aber der Lehrer selbst solche Kenntnisse nicht, so wird er sich mit dem Hinweis begnügen: „Hier wendet Demosihenes das große oratorische Argument an. Hier und im größten Teil seiner Rede bedient er sich des Enthymema8. Hier ist eine Apostrophe, dort eine Prosopopöe9, hier“


1 Vgl. S. 40ff.

2 Nach Quintilian, „Institutio oratoria“. Buch X, 1,106. „IIIi (Demosthenes) nihil detrahi potest, huic (Cicero) nihil adijici.“

3 Jacques Bénigne Bossuet (1627—1704), BischofvonMeaur, Verfasser der berühmten „Oraisons funèbres“ und des „Discours sur I'histoire universelle“ (1679).

4 Auch Esprit Fléchier (1632—1710), Bischof von Nimes, hat „Oraisons funèbres“ veröffentlicht.

5 Jean Baptiste Massillon (1662—1742), französischer Kanzelredner, Verfasser der berühmten Fastenpredigten „Petit carême“ (1718).

6 René Aubert, Abbé de Verto (1655—1735), Verfasser der „Histoire des révolutions arrivées dans le Gouvernement de la République romaine.“

7 William Robertson (1721—1793), englischer Historiker, Verfasser von „History of the reign of the Emperor Charles V.“ (1769: eine französische Übersetzung erschien 1771 in Amsterdam).

8 Schlußfolgerung mit stillschweigend vorausgesetzter Prämisse.

9 Personifikation.