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Betrachtungen über die Betrachtungen der Mathematiker über die Dichtkunst (1762)62-1

alle Welt schweigt, übernehme ich Unwürdiger, der Letzte unter den französischen Dichtern, die Verteidigung meiner Brüder in Apoll und ihrer zaubere vollen Kunst gegen die Angriffe der verderblichen Sekte der Mathematiker. Gibt es nichts Besseres zu tun? werden diese in ihrer Bosheit fragen. Vielleicht! kann man ihnen antworten. Aber es gilt die Ehre einer göttlichen Kunst zu rächen. Der Ge> meinsinn, den man als Mitglied der Dichterzunft erlangt, zwingt mich zu handeln und das Schweigen zu brechen, das bei längerer Dauer verbrecherisch würde. Geht es hier doch um einen großen Gegenstand. Indes zur Sache!

Nach der Behauptung der Mathematiker finden Leute, die in ihrer Jugend die Dichtkunst liebten, sie langweilig, wenn sie alt und schwach werden. Schade um sie! Aber was ist damit bewiesen? Worauf wollen die Mathematiker mit ihrer Behauptung hinaus? Ich glaube ihre Absicht zu erraten, und mein Gewissen zwingt mich, sie zu offenbaren. „Die Greise“, so sagen sie, „sind voll Weisheit. Sie sind von den Irrtümern und Vorurteilen der Jugend geheilt, durch lange Erfahrung gewitzigt und genießen die öffentliche Achtung. Wenn wir beweisen, daß die Greise in ihrer Weisheit der Poesie überdrüssig sind, verleugnen wir die Poesie selber. Zugleich beschämen wir alle, die Liebhaber der Poesie sind und für verständig gelten wollen. Dadurch schwächen wir ihren Anhang beträchtlich und belustigen die Leute weidlich mit unsren Kurven, Tangenten, Ellipsen und Parabeln und all unsren Spielsachen, die bisher einen sehr schlechten Absatz fanden.“ Welch eine Verschwörung! Wieviel Langeweile würde sich über die Erde verbreiten, könnten sie ihren Plan zur Ausführung bringen!

Die Dichtkunst ist eine lebendige und harmonische Schilderung aller Dinge der Natur und aller Gefühle unsres Herzens. Ist sie das, so behaupte ich dreist: man<63> kann den Geschmack an ihr nur verlieren, wenn man das seelische Feingefühl verloren hat — wofern man nicht zeitlebens geistig gelähmt war. Die Dichtkunst kann somit nie außer Mode kommen. Sie kann zu einer Zeit mehr blühen als zu einer andren; das hängt von dem Genie oder der Talentlosigkeit ihrer Hüter ab.

Die Sonette, Gedichte mit zwei feststehenden Reimen und andre Versspielereien hat man mit Recht vernachlässigt; denn wenn sie auch gelingen, entspricht ihr Erfolg doch nicht der aufgewandten Mühe. Die Elegie ist mehr im Schwange denn je. Man gibt ihr nur einen andren Namen. Gehört nicht ein Viertel aller guten Tragödien zur elegischen Dichtung? Die Trauerelegie mißfallt durch das Gekünstelte ihrer Gefühle und weil die meisten Dichter zu lange Elegien schreiben, die den Leser ermüden.

Die Gattung der Eklogen ist geteilt worden. Die Landschaftsschilderung führt zu einer Unzahl von reizvollen Einzelbildern, und die Liebe kommt überall zur Darstellung, wo sie in den ältesten Zeiten möglich ist. Die Besitzer großer Herden waren damals die vornehmen Herren, und ihre Troubadoure besangen die Reize des Landlebens. Theokrit, der jenen Zeiten noch nahe stand, schilderte ihre Sitten in seinen Idyllen. Er fand damit Anklang, weil die Griechen die Erinnerung an jene Zeiten noch bewahrten. Virgil ahmte Theokrit nach, und die Römer, die in der griechischen Literatur bewandert waren, fanden Geschmack an ihren Werken, obwohl die Sitten sich bereits sehr verändert hatten. Vollends in unsrem Jahrhundert des Luxus und der Weichlichkeit sind die Sitten zum Gegenteil der holden Schlichtheit geworden, die in jenen alten Zeiten herrschte. Die Hirten, die wir sehen, sind armseliges Volk und durch den beständigen Umgang mit ihren Herden verdummt. Aus ihnen könnte man keine Amaryllis oder Thyrsis63-1 mehr machen, und folglich können sie keine Rolle mehr spielen. Immerhin besitzen wir den „Bach“ von Madame Deshoulières63-2, ein reizendes Gedicht, und wir bedauern die Verehrer der Algebra, daß es nicht die Ehre hat, ihnen zu gefallen.

Die Satire in Versen ist ebensowenig langweilig. Ihr Salz reizt und gefällt; denn der Mensch ist eine boshafte Kreatur. Sie ist freilich gefährlicher als die Prosasatire, da man Verse leichter im Gedächtnis behält. Sie werden zu Sprichwörtern, und wehe dem, den sie verspotten! Die Prosasatire hat den Vorzug, daß sie leichter vergessen wird. Wenn es schon Satiren geben muß, so verträgt sie sich besser mit der Menschlichkeit. Die kleinen Gedichte sind, wenn sie lustig, naiv und liebenswürdig sind, die Träger des harmlosen Scherzes. Sind auch niederträchtige darunter, so bilden die gutartigen doch den Reiz der Geselligkeit.

Aber unsre Mathematiker, die auf dem Saturnring hocken, wissen von alledem nichts. Der Dunst der Gleichungen verschleiert ihnen, was auf der kleinen Erdkugel<64> vorgeht. Das Volk der Reimschmiede ist sehr zu beklagen, daß es von den Kurvenzeichnern zu Boden geschlagen wird. Aber es gibt sich nicht verloren. Es ist vielmehr überzeugt, daß dreißig gute Verse dem Publikum mehr Spaß machen als alle astronomischen Tabellen.

Ich komme nun zu einem andren Trick der kunstfeindlichen Mathematiker. Sie fallen über die mäßigen Dichter her, deren Zahl leider Legion ist, und lassen durchblicken, daß ihr Ansehen sinkt. Daraus wollen sie allgemeine Schlüsse ziehen, die auf den Untergang der ganzen Poesie abzielen. Wie sehr das zutrifft, ergibt sich aus ihrer Erklärung, Virgil habe nicht die Ehre, ihnen zu gefallen. Sie würden wohl noch manche andre angreifen, aber sie fürchten die Lebenden. Nur die Toten beißen nicht. Mögen sie selbst sich in die Algebra vergraben, mögen sie bleich werden über ihren Integralrechnungen, die das Ergötzlichste auf Erden sind. Aber mögen sie auch darauf verzichten, den Krieg in eine Nachbarprovinz zu tragen, deren Sitten und Gesetze sie nicht kennen und in der sie unter dem nichtigen Vorwand, Mißbräuche zu beseitigen, nur alles auf den Kopf stellen würden.

Die Herren Mathematiker möchten die Herren des Menschengeschlechts spielen. Sie berufen sich auf die Vernunft, als hätten sie sie allein gepachtet. Sie reden hochtrabend vom philosophischen Sinne, als könnte man den nicht auch ohne ab minus x und dergleichen Zeug besitzen. Mögen sie sich gesagt sein lassen, daß Verstand in allen Lebenslagen erforderlich ist und daß der Dichter Analyse, Methode und Urteilskraft ebenso nötig hat wie der Rechner.

In der Dichtkunst verschließt sich der Verstand nicht dem Zauber der Einbildungskraft. Ebensowenig verachtet er das Wunderbare, vorausgesetzt, daß es sich in gewissen Grenzen hält. Streng prüft er die Gedanken, die grammatische Richtigkeit, die Fabel, den Knoten, die Entwicklung der Handlung, die Charaktere, wenn solche vorhanden sind, den Aufbau, die Methode und Struktur des Werkes, den Dialog, wenn es ein Drama ist. Aber er überläßt dem Gehör das Urteil über den Wohlklang und dem Geschmack die Entscheidung über gewisse Ausschmückungen, die in einem Lande ergötzen, aber im andren mißfallen. Varignon64-1 gibt keinen Lehrsatz zur Bildung des Gehörs. Duverney64-2 soll bei seinem Seziermesser bleiben, aber Boileau64-3 soll über die Dichter richten. Ein Mathematiker, der bei seinen Berechnungen ein Auge verloren hatte64-4, kam auf den Einfall, ein Menuett nach a plus b zu komponieren. Wäre es vor dem Richterstuhl Apolls gespielt worden, so hätte es dem armen Mathematiker leicht so ergehen können wie Marsyas, dem lebendig Geschundenen.

Die Poesie wirkt belehrend im Epos und im Drama, wo sie große Tugenden und Laster darstellt. Sie wird zur strengen Tadlerin in der Satire. Scherzend bessert sie<65> die Sitten in der Komödie oder hüllt sich mahnend in das Gewand der Fabel. Bei ihr finden wir Erholung, Zerstreuung und Ergötzung. Cicero, der Vater des Vaterlandes und der Beredsamkeit, gesteht65-1, daß er sich des Abends von den Anstrengungen seines Advokatenberufes an den Reizen der Poesie erquickt habe. Die edelsten Geister des Altertums fanden ihren Hochgenuß in ihr. Die Poesie hat verschiedene Gattungen; jede besitzt ihre Vorzüge. Wir wollen keine ausschließen und uns vor den barbarischen Rechenmeistern hüten, die die Zahl unsrer Freuden verringern wollen.

Diese Barbaren messen alles mit der gleichen Elle, den Lehrsatz und das Epigramm. Sie möchten die Ars poetica Boileaus der Algebra unterwerfen, so gut wie die Berechnung der lebendigen Kräfte. Mögen sie sich gesagt sein lassen, daß Gefühl und Genuß sich nicht berechnen lassen. Mögen sie ihren durch das Opium der Integral- und Differentialrechnung betäubten Sinnen mißtrauen. Diese Banausen wähnen uns lächerlich zu machen, indem sie von einem großen Dichter berichten, er habe sich gerühmt, das Wort Perücke in einem Vers angebracht zu haben65-2. Mögen sie nicht erröten, wenn sie erfahren, was sie da so geringschätzig und hochmütig abtun.

Die feinfühlige französische Poesie sieht in gewissen volkstümlichen Worten etwas Gewöhnliches. Kann man sie also durchaus nicht umgehen, so muß man sie umschreiben. Dieser Zwang ist hart, denn man muß einem gewöhnlichen Gedanken eine vornehme Wendung geben. Mit seltenem Geschick hat Racine solche gemeinen Ausdrücke unter kraftvollen Beiwörtern sozusagen versteckt, z. B. in den folgenden Versen:

So liegt sein Leib, von keinem Grab gedeckt,
Zum Fraß den gierigen Hunden hingestreckt 65-3.

Man muß selbst viele Verse gemacht haben, um die große Kunst in der Überwindung der Schwierigkeit voll zu ermessen. Doch was sind Verse für die Despoten des<66> Firmaments! Dieselben Despoten haben — offenbar mit einem unzulänglichen Fernrohr — die Beobachtung gemacht, daß die wahren Dichter fröhlichen Gedanken abhold sind. Ach, sie haben selbst keine, die armen Schlucker, und das gestehen sie ja auch ziemlich gutwillig durch ihre Versicherung, daß alles sie langweilt. Lassen wir sie also nach Herzenslust gähnen, und wäre es im siebenten Himmel, und verzichten wir auf die frohen Gedanken nur in der Tragödie und in der Elegie. Aber so sehr sie auch gähnen, sie lassen es dabei nicht bewenden. Sie wollen uns auch noch das Reich der Mythologie rauben. Doch wir wollen sie mit dem Blitz des gewaltigen Boileau niederschmettern:

Bald ist's verpönt, die Weisheit vorzuführen,
Mit Wag' und Binde Themis zu zitieren66-1.

Sie wollen die alte Mythologie in Bann tun, damit wir uns eine neue ersinnen und uns den frommen Henkern ausliefern, in deren Händen Galilei — einer der ihren — fast umkam. Lassen wir das, meine Brüder, und behalten wir unser Besitztum! Was liegt daran, welcher Alte diese geistreichen Allegorien ersann? Benutzen wir sie mit Verstand und am rechten Orte. Es kommt nur darauf an, sie geschickt anzubringen. Glauben sie etwa, es gäbe neue Gedanken? Da täuschen sie sich. Unser Ideenkreis ist nicht so weit, wie sie wähnen. Neu ist an den meisten Gedanken nur die Form und die Art ihrer Darstellung. Wer uns engere Grenzen zieht, macht uns arm; unsre Kunst braucht Überfluß und Verschwendung. Cicero66-2 wünscht, bei einem angehenden Redner Überschüssiges wegschneiden zu können. Mit Recht. Wir glauben ihm mehr als Euklid, trotz all seiner Gelehrsamkeit. Schon Salomo hat gesagt: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Er hat sich nicht geirrt, wenn man von einigen metaphysischen Abgeschmacktheiten absieht, von denen schwer zu erraten war, daß der menschliche Geist sie eines Tages aushecken und ein furchtgebietendes System daraus zimmern würde. Aber es kommt noch besser: Leibniz und Newton haben fast gleichzeitig die gepriesene Integralrechnung erfunden. Wenn also zwei Mathematiker sich in den abstraktesten Gedanken begegnen und die andren ewig ihre Kurven berechnen, warum will man uns dann das Recht nehmen, die antike Mythologie zu benutzen? Haben wir darauf nicht den gleichen Anspruch wie auf die Systeme von Newton oder Descartes? Ich wiederhole: unser Gebiet ist die Wirklichkeit und die Welt der Phantasie. Benutzen wir alles und folgen wir dem Beispiel der Natur, die sich in dem, was sie schafft, stets wiederholt, aber nie abschreibt.

Ach, meine Herren Mathematiker, was haben Sie für eine sonderbare Logik! Da Sie Anakreon nichts anhaben können, setzen Sie zunächst die Gattung, in der er gedichtet hat, herab, und dann sagen Sie: das Original darf nicht kopiert werden!<67> Wir Dichter bitten Sie submissest um Verzeihung, wenn Ihre Richtersprüche bei uns so wenig Geltung finden. Sie müssen irgend eine falsche Zahl in Ihre Rechnung eingesetzt haben; denn wenn Eure Hoheiten gütigst erlauben, machen wir Sie darauf aufmerksam, daß ein gewisser Chaulieu und ein Mann namens Gresset besagten Anakreon mit Glück nachgeahmt haben, daß ihre Werke manches Schöne enthalten, auf das Sie kein Auge geworfen haben, kurz, daß Sie von unsren Dichtern reden wie der Blinde von der Farbe. Die Poesie ist keineswegs eine bloße Phantastekunst, sondern eine Kunst der Nachbildung: Ut pictura poesis erit67-1.

Wie gesagt: die Poesie soll alle Gebilde der Natur und alle Regungen des Gemüts malen, soll das Gewaltige mit dem Lieblichen paaren, soll belehren und ergötzen. Und das gelingt den Dichtern, denen die Natur Genie und Talent verliehen hat. Und wenn es schlechten Dichtern wie z. B. mir nicht gelingt, so beweist das nichts gegen die Kunst. Die Schönheit bleibt ihr unzerstörbares Erbteil, auch wenn tausend Chapelains und Pradons67-2 dagegen sündigen.

Nachdem unsre Feinde uns soviel Anlaß zu Klagen gegeben, meine Brüder in Apoll, stellt sich hier ein Grund zur Dankbarkeit ein. Sie geruhen nämlich, die hehren Ausdrücke ihrer erhabenen Wissenschaft auf uns anzuwenden, und beehren uns — vielen Dank dafür — mit Formeln, um uns klarzumachen, daß unsre Formeln in der Prosa abgeschmackt sind. Die Poesie ist die Sprache der Götter und die Prosa die der Lastträger. Da nun so verschiedene Redeweisen auch verschiedene Ausdrücke haben müssen, so sehe ich nicht ein, warum sie sich ereifern. Sollten vielleicht gewählte Worte, wie „zuvor“, „verscheiden“, „Gewaffen“, „Roß und Reisige“, die zur Dichtersprache gehören, nicht in ihren Gleichungen vorkommen? Die Poesie besitzt ohne Zweifel Wendungen, die in der Prosa an anderer Stelle stehen als im Verse. So sagt Voltaire:

Mitrane, ja, geheimer Wink vom Thron
Führt dir Arsazes zu in Babylon67-3.

Der Prosaiker würde sagen: „Auf geheimen Befehl des Königs sollst du Arsazes in Babylon freien.“ Sollten wir aber nicht die Ehre haben, die Herren recht zu verstehen, so bitten wir sie inständigst, uns ihre erhabenen Gedanken klarzumachen, da wir sie sonst für dunkel halten müßten. Die Poesie hat ihre Regeln und die Prosa desgleichen, genau wie Athen und Sparta ihre Gesetze hatten, die dem Geiste des Volkes, für das sie geschaffen worden, angepaßt waren. Vielleicht aber wollten die neuen Gesetzgeber uns nur darüber belehren, daß die Regeln der Prosa andere sind als<68> die unsren. In diesem Falle danken wir ihnen für die ebenso neue wie tiefe Bemerkung, mit der sie uns beehren. Allerdings erinnere ich mich, schon so etwas gehört zu haben, und täuscht mich mein Gedächtnis nicht — denn ich bin nicht unfehlbar —, so ist das ein Diebstahl an Vaugelas68-1, den sie bei aller ihrer mathematischen Würde begangen haben. Nun aber frage ich sie: ist's ein Verbrechen, wenn die Poesie vor der Prosa den Vorrang hat? Dann müßte ja auch eine Melodie in drei Takten für schlecht gelten, weil sie nicht in vier Takten komponiert ist. Zum Glück denken wir nicht so, oder — wie man uns wohl vorwerfen könnte — wir sind keine Mathematiker und haben keine Ahnung davon, was philosophischer Geist ist. Die Mathematiker aber dürfen sich so viel Paradorien leisten, wie sie wollen. Jede Sophisterei wird durch den mathematischen Sinn sanktioniert.

Eine neue Entdeckung: sie machen uns darauf aufmerksam, daß der Geschmack an der Ode erkaltet. Dann wollen wir ihn doch wieder aufwärmen! Indes prüfen wir erst einmal, ob das zutrifft. Ich sehe Horaz und Rousseau68-2 in aller Händen; geistvolle Leute finden ihren Hochgenuß daran. Die Herren Mathematiker haben die Antwort bereit: „Schade um die Leute! Sie haben keinen philosophischen Sinn.“ Das ist der Kern des ganzen Streites, und diese Formel führt zu bündigen Schlüssen.

Unsre neuen Schulmeister dozieren: die Ode muß von Anfang bis zu Ende erhaben sein. Bitte lesen Sie doch die Abhandlung über das Erhabene von Longinus68-3, die Sie sicherlich nicht kennen. Aber solche raschen Richtersprüche haben etwas Imponierendes, das Sie mehr befriedigt als die Erörterung von so kindischem Zeug. Wollten wir es uns indes herausnehmen, Sie unsrerseits zu schulmeistern, so würden wir Ihnen submissest vorhalten, daß es mehr als eine Art von Oden gibt. Es gibt Pindarische, die man mit erhabenen Gedanken so vollpfropft, wie man kann, und andre, weniger erhabene, die auch ihren Reiz besitzen. Kurz, bei uns muß der Stil dem Gegenstand entsprechen. Wir ziehen alle Register des Pathos auf, wenn wir Zeus die Titanen stürzen lassen. Wir setzen einen Dämpfer auf, wenn Apoll die Daphne verfolgt, und stimmen unsren Sang vollends auf piano bei der Geschichte des Argus. Welcher Aufwand von Bescheidenheit! Unsre kurvenzeichnenden Despoten gestehen, sie wüßten nicht, was die schöne Regellosigkeit der Ode sei. Daraus schließe ich, daß es mit ihrer Kenntnis in der Poetik auch sonst nicht weit her ist. Um Ihnen jedoch die schöne Regellosigkeit der Ode klarzumachen, so gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Apollo ehedem seine Orakel durch den Mund einer Priesterin, der Pythia, verkündete. Die geriet in Ekstase und stieß die heiligen Worte begeistert hervor. Man nimmt nun an, der Dichter sei gleich ihr des Gottes voll. Sein verzückter Geist überspringt die verbindenden Gedanken, die zur Verkettung der gewöhnlichen<69> Rede dienen und die der denkende Leser sich leicht ergänzt. Seine Begeisterung stürmt zu den Kraftsiellen, und der Rest fällt als nebensächlich fort, da er nicht stracks zum Ziele führt. So drücken seine sich überstürzenden Worte nur das Wichtigste aus. Aber diese gesteigerte Sprache läßt sich auf die Dauer nicht durchhalten. Verständige Dichter schleudern sie nur wie Blitzstrahlen; dann dämpfen sie den Ton, weil alles sehr Leb, hafte kurz sein muß, just wie die tiefsten Wonnen der Menschheit.

Dürften wir wohl fragen, was ein Schüler der Logik von der folgenden Beweisführung halten würde: „Es sind schlechte Oden gedichtet worden, folglich hat der Geschmack sich von der Ode abgewandt.“ Er würde doch erkennen, daß der Geschmack sich nicht von der Ode, sondern nur von den schlechten Oden abwendet!

Kurz, unsre Gesetzgeber kommen mit der Sprache heraus und veröffentlichen ihre Gesetze: Wir danken ihnen! Offenbar machten Racine, Boileau und Voltaire regellose Verse, und für die Zukunft mußte eine Regel festgesetzt werden. Aber die Herren sagen ja nur Wohlbekanntes. Vielleicht gestatten sie uns eine Erklärung über gewisse Dinge, in die tiefer einzudringen sie sich offenbar nicht die Zeit genommen haben. Der Vers soll ebenso natürlich und grammatisch korrekt sein wie die beste Prosa. Das ist das große Verdienst Racines, durch das er seinen Ruf so lange behalten wird, wie die französische Sprache nicht entartet. Aber damit isi doch nicht gesagt, daß die Poesie keine Ausnahmen zuließe und daß man sie genau so beurteilen müßte wie die Prosa. Die Ellipse isi in der Poesie eine Schönheit. Wie fein sagt Racine:

Lieb war er mir im Unbestand. Was galt mir Treue?69-1

So spricht Hermione in einem Augenblick der Leidenschaft. In Prosa müßte es unbedingt heißen: „Was lag mir an seiner Treue?“ Nach den Regeln der Despoten wäre dieser Vers Racines also nichts wert. Daraus schließe ich, daß ungerechte Gesetze nichts taugen, und schließe ich falsch, dann sieht man's ja: ich habe keinen philosophischen Sinn.

Von einem Dichter verlangt man richtiges Denken, stete Eleganz und Harmonie, Zusammenhang und Aufbau der Gedanken, einen dem Gegenstand angemessenen Stil, Anmut, Reichtum und Mannigfaltigkeit, vor allem aber die Kunst, zu fesseln. Das alles sind Gaben der Natur, die man Genie und Talent nennt, die sich durch Studium der guten Autoren vervollkommnen und durch Geschmack verfeinern lassen. Wir wagen zu behaupten: wem immer diese Himmelsgaben verliehen wurden, der bedarf keines PrivUegs von unsren Despoten, um Leser und Bewunderer zu finden. Diese wahrhaft göttlichen Gaben sind bei allen zivilisierten Völkern und in allen<70> Zeitaltern so selten, daß die Namen derer, die sie besaßen, das Gedächtnis der Kunstfreunde nie beschweren werden. Vielleicht könnte man hinzufügen: die Mathematiker waren verbreiteter; denn mit Fleiß und rein mechanischer Kunstfertigkeit kann jedermann Kurven berechnen. Doch wir hüten uns, eine so waghalsige und ketzerische Behauptung aufzustellen, und begnügen uns mit der Versicherung, daß die Dichtkunst das größte Genie im Bunde mit mächtiger, aber geregelter Einbildungskraft erfordert.

Ich zitterte schon, als ich die neuen mathematischen Gesetze für die Poesie las, und fürchtete nicht ohne Grund, die Gesetzgeber möchten sich's beikommen lassen, den Reim zu verpönen und an seiner Statt Zahlen an die Versenden setzen, die der Silbenzahl entsprechen. Das hätte sie mit der Poesie vielleicht wiederausgesöhnt, und sie hätten die Verse dann von Rechts wegen durch Zahlen und Berechnungen unterjocht. Aber zum Glück sind sie nicht auf den Einfall gekommen. Sie waren so gütig, den Reim gutzuheißen, ja ihn für den französischen Versbau als notwendig zu fordern.

Es demütigt uns, daß sie ihre Gesetze so trocken verkünden, ohne sie zu begründen. Wir durften hoffen, sie würden mit ihrem philosophischen Sinn die Frage ergründen, ob der Reim oder das Versmaß unsre Alexandriner eintönig macht. Fällt beim Lesen solcher Verse auf die Dauer etwas zur Last, so ist es die ewige Wiederkehr des gleichen Rhythmus, ein Mißstand, dem sich durch wechselnde Versmaße leicht abhelfen ließe. Wir wähnten, unsre Schulmeister hätten irgend eine physikalische, aus der sinnlichen Wahrnehmung abgeleitete Betrachtung über den Reim angestellt und damit die Meinung des größten zeitgenössischen Dichters bestätigt. Denn der Maler und Bildhauer schafft für das Auge, der Dichter und Musiker aber für das Gehör. Jeder Künstler gehört vor den Richterstuhl des Sinnes, für den er schafft. Also haben die Ohren und nicht die Augen über den Reim zu entscheiden. Allein die Mathematiker würden sich etwas zu vergeben meinen, wenn sie zu solchen Kleinigkeiten herabstiegen. Das hieße ja, Milben mit der Keule des Herkules erschlagen.

Dieselben Herren wollen die Poesie aus der Musik verbannen und sie durch rhythmische Prosa ersetzen. Wir haben Anlaß zu glauben, daß sie ob der Harmonie der Sphären in Verzückung geraten waren, als ihnen dieser Gedanke entfuhr. Nicht Prosa braucht die Musik, sondern, wenn es doch gesagt werden muß, Verse mit männlichen Reimen. Da wir aber keine despotischen Gesetze erlassen, müssen wir unsre Meinung begründen. Beim Sprechen verletzt das stumme e das Ohr nicht; denn im Französischen liegt der Ton nicht auf der letzten Silbe. Nicht so bei der Musik. Die Note, die zur letzten Silbe gehört, muß betont werden, und durch diese Dehnung wirkt das an sich stumme e unangenehm und verletzend.

Unsre Mathematiker führen uns nun zum zweitenmal ihren Greis vor, offenbar ihr Lieblingsargument! Prüfen wir es aufmerksam und sehen wir zu, ob es tat<71>sächlich gegen die Poesie spricht. Um zu beweisen, daß die Poesie nur eine seichte Kurzweil sei, müßte jeder Mensch auf Erden in einem bestimmten Alter den Geschmack an der Poesie verlieren, wie die Kinder ihre Puppen nicht mehr mögen, ohne daß ein äußeres Motiv hinzuträte. Wenn es aber in Pais ein paar faselnde Greise, Misanthropen, Hypochonder, Kranke, Gelähmte und Schlagflüssige gibt: was beweist das? Doch nur, daß ein kranker und grämlicher Greis die Freuden seiner Jugend nicht mehr zu genießen vermag! Wenn ein Pascal, ein Malebranche die Poesie nicht liebten und beide großen Männer sie wie Dummköpfe beurteilten, so beweist das doch nur, daß man Unsinn redet, wenn man seine Sache nicht versieht, und daß es eine große Lehre für die Menge, ja selbst für die Philosophen ist, sich über alles zu unterrichten, bevor man urteilt. Uns ist es daher sehr recht, wenn alle Greise, die ihre seelische Spannkraft eingebüßt haben, keine Verse mehr lesen und Mathe, matiker werden.

Unser Gesetzgeber scheint bisweilen milder zu werden. Racine findet Gnade vor ihm; aber warum behandelt er die guten Stücke von Corneille nicht ebenso, und Boileau, den wahren Gesetzgeber des Parnasses, und Rousseau, den französischen Horaz? La Fontaine scheint mehr zu taugen als die übrigen. Aber hier enthüllen sich wieder die unheilvollen Absichten der Mathematiker. Nachdem sie mathematisch sirenge Gesetze erlassen haben, verfallen sie darauf, La Fontaines liebenswürdige Nachlässigkeit als Muster hinzustellen. Die Dialektik der Algebraiker ist fürwahr unverständlich für uns arme Poeten, die wir nach den gewöhnlichen Regeln der Logik denken.

Doch zitieren wir ihre eignen Worte: „Der Geist will vom Dichter stets ergötzt werden, will aber zugleich ausruhen können. Das findet er bei La Fontaine, dessen Nachlässigkeit ihren eignen Reiz hat, um so mehr, als sein Gegenstand es erfordert.“ So ruht sich der Geist der Mathematiler in den Nachlässigkeiten der Dichter aus, und es gibt Gegenstände, die nachlässige Dichter erfordern! Das nenne ich philosophische Urteile! Es ist klar, daß die Herren uns zum besten haben und auf dem Parnaß nur regieren wollen, um dort alles in Aufruhr zu versetzen und auf den Kopf zu stellen. Langweilen sie sich bei VirgU, so geschieht es, um ihn anzuschwärzen und uns weiszumachen, daß sein Ruf sich nur auf ein Vorurteil der Schulweisheit gründet. Loben sie Tasso, so geschieht es, weil es, nachdem Virgil abgefertigt ist, nur zweier Federstriche bedarf, um Tassos Abgeschmacktheiten an den Tag zu legen und ihm gleichfalls den Garaus zu machen. Und wenn es keine Dichtung mehr gibt, wird sich die Welt mit Kurven aller Art die Zeit vertreiben. Die Damen werden bei ihrer Toilette das Vorrücken der Tag- und Nachtgleiche berechnen. Das Boudoirgeplauder wird sich um Einfalls- und Reflexionswinkel, Kegelschnitte und alle Algebra der Welt drehen. Trotzdem wage ich unsren kurvenzeichnenden Gesetzgebern vorherzusagen, daß diese glückliche Zeit nie kommen, oder wenn sie kommt, nicht lange währen wird. Als Bürger des Weltenraumes kennen sie die Menschen nicht. Man<72> erwiese uns einen schlechten Dienst, wenn man uns die Poesie und ihre Freuden vergällte, und bestünden sie auch nur aus Trug und Irrtum, wenn man uns eine holde Kunst raubte, die unsre Sitten mildert, uns tröstet, den Geist erhebt und uns zerstreut.

Übrigens verlangen wir nicht von allen den gleichen Geschmack. Wir zwingen die Freunde der Poesie nicht, einen Dichter einem andern vorzuziehen. Wir finden es vielmehr ungerecht, seinen eignen Geschmack der Welt als allgemeines Gesetz vorzuschreiben.

Oh, meine Brüder in Apoll! An Euch wende ich mich nun, nachdem ich alle Listen und Fallstricke offenbart habe, mit denen unsre Feinde uns verderben wollen. Ihr seht, die Mathematiker wollen den Krieg in unser Land tragen, wollen uns das Reich der Mythologie rauben. Rüsten wir uns beizeiten zur Abwehr. Machen wir es wie die Römer, denen es durch Scipios Zug nach Afrika gelang, Hannibals Krieg auf karthagisches Gebiet hinüberzuspielen. Tragen wir gleichfalls den Krieg in Feindesland. Man wirft uns vor, wir schmückten uns mit den Federn der Mythoslogie. Beweisen wir ihnen, daß auch ihr Newton ein Plagiator ist. Er hat seine Berechnung der Planetenbewegung von Huyghens72-1 entlehnt, die Anziehung durch plastische oder geheime Kräfte von den Neuplatonikern72-2, den Begriff des Leeren von Epikur. Er hat dem Nichts ein Dasein gegeben und was schlimmer ist, das Nichts ausgemessen. Die Sache verhält sich so. Alle Planeten schweben im Leeren. Der Abstand zwischen zwei Planeten ist berechnet, z. B. auf drei Millionen Meilen von der Erde zum Jupiter. Damit sind also drei Millionen Nichtse berechnet. Was man aber berechnet, existiert, also kann das Nichts existieren. Durch solche Angriffe werdet Ihr sie zwingen, Euch den Frieden anzubieten, und es soll zur Bedingung gemacht werden, daß fortan jedermann nur von dem reden darf, was er versieht, und sich wohl hüten muß, den Künsten Gesetze vorzuschreiben, bevor er seinen Gegenstand kennt, daß die Architekten beim Bau eines Hauses nicht mit dem Dach, sondern mit den Fundamenten beginnen sollen, und daß man Geschichte nur nach der chronologischen Reihenfolge und nicht umgekehrt studieren darf.

Ich für mein Teil erkläre, daß ich auf meine alten Tage die Poesie ebenso leidem schaftlich liebe wie in meiner Jugend, und ich bitte Apollo, er möge mich gnädig in dem wahren und orthodoxen poetischen Glauben erhalten, den Homer uns gelehrt, Virgil ausgebaut, Horaz erklärt und kommentiert hat, dessen Apostel Tasso, Petrarca,<73> Ariost, Milton, Boileau, Racine, Corneille, Voltaire und Pope waren und der durch ununterbrochene Überlieferung bis auf uns gekommen ist. In diesem Glauben will ich leben und sterben, auf daß meine Seele nach meinem Tode zur Schar der erwählten seligen Geister eingehen möge, die im Elysium wohnen.


62-1 Der obige, im April 1762 verfaßte Aufsatz richtet sich gegen die 1760 von d'Alembert in der Pariser Akademie verlesene Abhandlung: „Réflexions sur la poésie, écrites à l'occasion des pièces que L'Académie a reçues cette année pour le concours.“ Der Aussatz führt daher auch den Untertitel: „Zweifel über t/Alemberts Betrachtungen über die Dichtkunst.“ Jean le Rond d'Alembert, der Freund des Königs, gehörte zu den bedeutendsten Philosophen und Mathematikern des Jahrhunderts.

63-1 Schäferinnen aus Virgils Eklogen.

63-2 Antoinette Deshoulières (1633—1694), genannt die zehnte Muse.

64-1 Pierre Varignon (1654—1722), berühmter französischer Mathematiler.

64-2 Joseph Guichard Duverney (1648—1730), berühmter französischer Anatom.

64-3 Boileau-Despréaux (1636—1711), als Verfasser der „Art poétique“ (1674) und zahlreicher Satiren und Episteln der Diktator des klassizistischen Geschmacks in Frankreich.

64-4 Leonhard Euler (1707—1783).

65-1 Pro Archia poeta, Kap. 6.

65-2 Boileau, Epistel X, Vers 26; Brief IX an Maucroir.

65-3

Et son corps désormais privé de sépulture
Des chiens dévorants deviendra la pâture.

Diese Verse, deren zweiter einen metrischen Fehler hat, kommen bei Racine nicht vor. Vielleicht liegt eine Reminiszenz an „Athalie“, II. Akt, 5. Szene vor:
     

Mais je n'ai plus trouvé qu'un horrible mélange
D'os et de chair meurtris et traînés dans la fange,
Des lambeaux pleins de sang et des membres afreux,
Que des chiens dévorants se disputaient entre eux.
(Doch fand ich nur noch einen grausen Klumpen
Von Fleisch und Knochen, durch den Kot gerissen.
Zermalmte Glieder sahn aus blutigen Lumpen,
Ein Fraß, um den sich gierige Hunde bissen.)

66-1

Bientôt ils défendront de peindre la Prudence,
De donner a Thémis ni bandeau, ni balance.

66-2 De Oratore II, Kap. 21.

67-1 Horaz, Ars poetica, 361: Die Poesie soll der Malerei gleichen.

67-2 Von Boileau verspottete Stümper.

67-3

Oui, Mitrane, en secret I'ordre émané du trône
Remet entre tes bras Arzace à BabyIone.

„Semiramis“„L'ordre en secret émané du trône, Mitrane.“

68-1 Claude Favre de Vaugelas (1585—1650), berühmter Grammatiker und Mitarbeiter am „Dictionnaire de I'Académie française“.

68-2 Jean Baptiste Rousseau (1671—1741).

68-3 Aus dem Griechischen übersetzt von Boileau.

69-1 Je l'aimais inconstant; qu'aurais-je fait fidèle? „Andromache“, IV. Akt, 5. Szene.

72-1 Christian Huyghens (1629—1695), holländischer Naturforscher.

72-2 Die von dem Neuplatoniler Plotin geschaffene Vorstellung von den plastischen oder geheimen Kräften, die als Emanationen der Gottheit die Welt erfüllen, wurde von den englischen Naturforschern zu Newtons Zeit übernommen, um das Kräftespiel der Natur, insbesondere die Anziehungskraft, zu erklären.