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II. Theologische Streitschriften

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Vorrede zum Auszug aus Fleurys Kirchengeschichte (1766)103-1

Das Christentum hat wie alle Mächte der Welt einen bescheidenen Anfang gehabt. Der Held dieser Sekte ist ein Jude aus der Hefe des Volkes, von zweifelhafter Herkunft, der in die Abgeschmacktheiten der alten hebräischen Weissagungen gute Morallehren sticht, dem man Wunder zuschreibt und der am Ende zu schimpflichem Tode verurteilt wird. Zwölf Schwärmer verbreiten seine Lehre vom Morgenland bis nach Italien, gewinnen die Geister durch die reine und heilige Moral, die sie predigen, und lehren — einige Wunder abgerechnet, die Menschen mit glühender Einbildungskraft aufregen konnten — nichts als den Deismus.

Die christliche Religion begann sich zu der Zeit auszubreiten, wo das römische Reich unter der Tyrannei einiger Wüteriche seufzte, die es nach einander beherrschten. Der Bürger, der unter ihrem blutigen Regiment schon auf alles Elend gefaßt war, das die Menschheit befallen kann, fand nirgends Trost und Beistand gegen so große Leiden außer im Stoizismus. Die christliche Moral war mit der stoischen Lehre verwandt: das ist die einzige Ursache der raschen Fortschritte, die das Christentum machte.

Seit der Regierung des Claudius103-2 hielten die Christen zahlreiche Versammlungen ab, in denen sie ihre Liebesmahle oder gemeinsamen Mahlzeiten einnahmen. Die Häupter der Regierung schöpften um so mehr Verdacht, als sie sich ihrer Tyrannei bewußt waren. Sie verboten diese Versammlungen, die heimlichen Zusammenkünfte und jede Zusammenrottung des Volkes; denn sie fürchteten, es könnte sich daraus eine Verschwörung entspinnen und irgend ein kühner Volksführer möchte die Fahne der Empörung aufpflanzen. Der Glaubenseifer der Frommen trotzte dem Verbot des Senates. Einige Schwärmer störten die Opferfeiern und trieben ihre fromme Frechheit so weit, daß sie die Götterbilder umstürzten. Andre zerrissen die kaiserlichen Edikte. Ja, einige Christen, die in den Legionen dienten, verweigerten den Gehorsam. Das war der Grund zu den Verfolgungen, die die Kirche sich<104> zum Triumph anrechnet. Daher die gerechte Bestrafung einiger obskurer Christen, die als Übertreter der Staatsgesetze und als Störer des bestehenden Kultus hingerichtet wurden. Natürlich mußten die Christen diese Schwärmer vergöttern. Die heidnischen Henker bevölkerten das Paradies. Nach der Hinrichtung sammelten Priester die Gebeine der Märtyrer und bestatteten sie ehrenvoll. Nun mußten bei ihren Gräbern Wunder geschehen. Das Volk in seinem dumpfen Aberglauben verehrte die Asche der Blutzeugen. Bald stellte man ihre Bilder in den Kirchen auf, und heilige Betrüger, die einander zu übertreffen suchten, führten allmählich die Anrufung der Heiligen ein. Sie wußten wohl, daß dieser Brauch gegen das Christentum und besonders gegen das mosaische Gesetz verstieß. Um also den Schein zu retten, unterschieden sie zwischen Anbetung und Verehrung104-1. Das dumme Volk aber, das keine Unterschiede macht, betete plump und ehrlich die Heiligen an. Indes kam dies Dogma und der neue Kultus nur allmählich in Aufnahme. Er wurde erst nach der Regierung Karls des Großen, um die Mitte des neunten Jahrhunderts, fest begründet.

Durch ähnliche Fortschritte kamen alle neuen Dogmen zur Macht. Im Urchristentum hatte Christus für einen Menschen gegolten, an dem das höchste Wesen Wohlgefallen fand. Als Gott wird er in den Evangelien nirgends bezeichnet, wenn anders man nicht Ausdrücke wie Gottes Sohn, Sohn Belials mißversteht, die nur sprichwörtliche Redensarten der Juden zur Bezeichnung der Güte oder Schlechtigkeit eines Menschen waren. Die Meinung, daß Christus Gott sei, kam erst in der Kirche auf und befestigte sich schließlich durch die Spitzfindigkeit einiger griechischer Philosophen von der peripatetischen Sekte, die zum Christentum übergetreten waren. Sie bereicherten es mit einem Teil jener dunklen Metaphysik, in die Plato einige Wahrheiten gehüllt hatte, deren Bekanntgabe ihm zu gefährlich erschien.

Im Kindesalter der Kirche, in den ersten Jahrhunderten, wo die Machthaber und Beherrscher des römischen Reiches Heiden waren, konnten die Förderer einer noch im Dunkeln lebenden Sekte keine Macht erlangen. Folglich mußte die Regierungsform der Kirche notwendig republikanisch sein. In den Lehren herrschte insgemein keinerlei Zwang, und die Christen blieben bei der größten Mannigfaltigkeit ihrer Ansichten doch immer vereint. Zwar verfocht mancher starrsinnige Priester seine Glaubenssätze hartnäckig und bäumte sich gegen jeden Widerspruch auf. Aber dieser Eifer beschränkte sich doch bloß auf das Disputieren. Die Geistlichen hatten keine Macht zur Verfolgung und daher keine Mittel, ihre Gegner zu ihrer Denkweise zu zwingen.

Zu Beginn des vierten Jahrhunderts, als Konstantin sich aus politischen Gründen zum Beschützer des Christentums aufwarf, änderte sich alles. Kaum saß er fest auf dem Throne, so schrieb er ein ökumenisches Konzil nach Nizäa aus (325). Von den Kirchenvätern, die zu diesem KonzU erschienen, stimmten dreihundert gegen Arius.<105> Sie erklärten und bestätigten rundweg die Göttlichkeit Christi, fügten ins Glaubens, bekenntnis die Worte „Gottes eingeborener Sohn“ ein und taten schließlich die Arianer in Bann. So erwuchsen bei jeder Kirchenversammlung neue Dogmen. Beim Konzil zu Konstantinopel (381) kam die Reihe an den Heiligen Geist. Den versammelten Kirchenvätern wäre es indessen wohl schwer gefallen, die dritte Person der Gottheit zum Vater und Sohn hinzuzufügen, wäre ihnen nicht ein Priester zu Hilfe gekommen, der verschmitzter und durchtriebener war als die andren. Er stickte nämlich einen eigens ersonnenen Vers vorn an das Johannesevangelium an: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ usw.105-1. So grob der Betrug in unsrer Zeit scheinen würde, so war er es damals doch nicht. Denn schon hatten anstatt des Volkes die Bischöfe die Bewahrung des Glaubens und der Schriften in die Hände bekommen und aus einer Menge von Schriften eine Anzahl ausgewählt, die sie für kanonisch erklärten. Zu diesem Vorteil, den sie bereits hatten, kam noch die Spaltung des Reiches, kamen die Kriege und die Verheerungen der Barbaren, die die Wissenschaft zerstörten und Unwissenheit und Dummheit beförderten. So war das Betrügen denn, wie man einsieht, keine große Kunst. Unbildung, Aberglaube und Stumpfsinn hatten ihm lange genug vorgearbeitet. Hätte auch jemand gewagt, die Stelle im Iohannesevangelium für interpoliert zu erklären, so brauchte man ja nur zu sagen, die Originalhandschrift sei erst neuerdings entdeckt worden.

Als Stifter neuer Dogmen mußten die Bischöfe sich notwendig ihrer Macht und ihres Einflusses bewußt werden. Es liegt in der Menschennatur, die Vorteile, die man hat, auszunutzen. Auch die Geistlichen waren Menschen und handelten demgemäß. Immerhin gingen sie mit einem gewissen Geschick zu Werke. Irgend ein Waghalsiger, den sie vorschoben, mußte eine neue Meinung äußern, die für sie vorteilhaft war und die sie annehmen wollten. Dann beriefen sie ein Konzil, und da wurde die Meinung als Glaubensartikel festgesetzt. So fand irgend ein Mönch in einer Stelle der Makkabäer105-2 die Lehre vom Fegefeuer. Die Kirche nahm sie an, und das neue Dogma brachte ihr mehr Schatze ein, als Spanien durch die Entdeckung von Amerika gewonnen hat. Ähnlichen Machenschaften ist auch die Verfertigung der falschen Dekretalien105-3 zuzuschreiben, die den Päpsten zum Schemel ihres Thrones gedient haben, von dem herab sie fortan den bestürzten Völkern Gesetze diktierten.

Bevor die Kirche aber zu dieser Höhe emporstieg, machte sie noch mehrere Wandlungen durch. Während der ersten drei Jahrhunderte dauerte die republikanische Form fort. Seit Kaiser Konstantins Übertritt zum Christentum aber entstand eine<106> Art von Aristokratie, deren Häupter die Kaiser, die Päpste und die vornehmsten Patriarchen waren. Diese Regierungsform erfuhr in der Folge Veränderungen, wie alles Menschenwerk. Wenn Ehrgeizige miteinander um Macht und Ansehen buhlen, so sparen sie weder List noch Kunstgriffe, um einander zu verdrängen, und am Ende siegen die Geriebensten über ihre Rivalen. Die Schlausten waren diesmal die Päpste. Sie benutzten die Schwäche des osirömischen Reiches, um die Macht der Cäsaren an sich zu reißen und die Rechte der Kaiserkrone auf die päpstliche Tiara zu übertragen. Gregor III. war der erste, der das versuchte. Papst Stephan III. ging auf diesem Wege weiter. Vom Langobardenkönig Aistulph aus Rom vertrieben, floh er nach Frankreich und krönte dort den Usurpator Pippin (754), unter der Bedingung, daß Pippin Rom von den Langobarden befreite. Nach Rom zurückgekehrt, schrieb der Papst, um die Hilfe aus Frankreich zu beschleunigen, einen Brief an den König, den er im Namen der Jungfrau, des heiligen Petrus und aller Heiligen gekrönt hatte, und drohte ihm mit ewiger Verdammnis, wenn er ihn nicht schleunigst vom Druck der Langobarden befreite. Das fränkische Reich, auf das er keinerlei Recht besaß, hatte er Pippin geschenkt, und Pippin schenkte ihm dafür — so behauptete er wenigstens — Rom und das römische Gebiet106-1, das doch eigentlich den Kaisern in Konstantinopel gehörte. Darauf wurde Karl der Große vom Papste106-2 zu Rom gekrönt (800) — nicht, weil er glaubte, die Kaiserkrone kraft päpstlicher Gnade zu empfangen, sondern weil geschrieben sieht, daß Samuel die Könige Saul und David salbte. Durch diese Zeremonie wollten die Kaiser nur Dem huldigen, der nach seinem Willen die Reiche erhebt oder erschüttert, erhält oder stürzt. Aber so verstanden die Päpste es nicht. Unter Ludwig dem Frommen, Karls des Großen Sohn, erhob Gregor IV. seine geistliche Macht über die weltliche und machte dem Kaiser begreiflich, daß sein Vater Krone und Reich nur dem Heiligen Stuhle zu danken hätte. So deuteten die Päpste, die Ausleger der Mysterien, die Salbung der Herrscher! Man hielt sie für Statthalter Christi; sie erklärten sich für unfehlbar und wurden angebetet. Die Finsternis der Unwissenheit wurde von Jahrhundert zu Jahrhundert tiefer. Was bedurfte es noch mehr, um dem Betrug Ansehen und Verbreitung zu verschaffen?

Die stets rastlose Politik der Geistlichkeit machte immer neue Fortschritte. Ein Mönch von anmaßendem, strengem und kühnem Charakter, namens Hildebrand, bekannter als Gregor VII.106-3, legte den eigentlichen Grund zur Größe des Papsttums. Er kannte kein Maß mehr, schrieb sich das Recht zu, Kronen auszuteilen und zu nehmen, Königreiche in den Bann zu tun, Untertanen vom Treueid zu entbinden. Seine Ansprüche waren grenzenlos, wie man sich aus seiner berüchtigten Bulle ln coena Domini106-4 überzeugen kann.

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Von seinem Pontifikat an muß man die Epoche des Despotismus der Kirche rechnen. Seine Nachfolger legten den Geistlichen die Vorrechte zu, die im alten Rom die Volkstribunen besaßen. Ihre Person wurde für unverletzlich erklärt, und um sie gänzlich der Strafgewalt ihrer rechtmäßigen Herrscher zu entziehen, entschieden die Konzile, der Niedere könne in keinem Fall über den Höheren richten, was im Stil der Zeit soviel hieß wie: die Fürsten hätten in ihren Staaten keine Gewalt über den Klerus. Durch dies Mittel sicherte sich der römische Bischof einen Anhang, ein Heer, das stets bereit war, in allen Ländern auf seinen Befehl zu kämpfen. So ungereimt uns derartige Unternehmungen heute vorkommen, so waren sie es damals doch nicht. Die Schwäche des in Europa allgemein eingeführten Feudal, systems, die großen Vasallen, die als geborene Feinde ihrer Lehnsherren die Bannbullen der Päpste aus Eigennutz unterstützten, benachbarte Fürsien, die Neider oder Feinde des Exkommunizierten waren, die Priester, die ganz dem päpstlichen Stuhle anhingen und der Macht ihres weltlichen Herrschers entzogen waren — all das waren Mittel, um die Könige zu plagen. So viele gemeinsame Interessen schufen den Päpsten eifrige und begeisterte Vollstrecker ihrer Bullen!

Wir wollen hier die Streitigkeiten zwischen Kaisern und Päpsten über ihre Anspräche auf die Stadt Rom, über die Belehnung mit Stab und Ring oder über die Erbfolge in den Ländern der Markgräfin Mathilde nicht aufzählen. Wie jedermann weiß, haben allein diese geheimen Triebfedern die häufigen Exkommunikationen der Kaiser und Könige veranlaßt. Die Art von Hochmut, die aus schrankenloser Macht erwächst, brach nie anstößiger hervor, als in dem Betragen Gregors VII. gegen Kaiser Heinrich IV. Im Schloß zu Canossa, wo er mit der Markgräfin Mathilde saß, zwang der Papst den Kaiser zu den erniedrigendsten und schimpflichsten Demütigungen, bevor er ihn vom Kirchenbann lossprach (1077). Trotzdem darf man nicht glauben, die Wirkung der Bullen und Bannsirahlen sei überall die gleiche gewesen. Für die Kaiser war sie furchtbarer als für die Könige von Frankreich. Die gallische Krone galt für unabhängig, und die Franzosen erkannten die Gewalt der römischen Bischöfe nur in geistlichen Dingen an.

So groß aber auch die Macht der Päpste war, jede Exkommunikation eines Kaisers zog doch einen Bürgerkrieg in Italien nach sich. Oft wurde der Papstthron dadurch erschüttert. Einige Päpste wurden aus ihrer Hauptstadt vertrieben, flohen in andre Länder und suchten Schutz bei einem Herrscher, der ein Feind ihres Verfolgers war. Allerdings kehrten sie triumphierend nach Rom zurück, aber nicht mit Waffengewalt, sondern dank ihrer Geschicklichkeit: so sehr war ihre Politik der der weltlichen Fürsten überlegen!

Um sich jedoch der Ebbe und Flut des Glückes zu entziehen, erfanden sie Triebfedern, die, einmal in Bewegung gesetzt, ihre Herrschaft sichern und ihren Despotismus befestigen mußten. Der Leser merkt gewiß schon, daß wir auf die Kreuzzüge hinauswollen. Um die Schwärmer zusammenzubringen, wurden Ab<108>lässe erteilt. Das heißt, jedem, der sich dem Diensie der Kirche und des Heiligen Vaters widmete, wurde Straflosigkeit für alle seine Verbrechen zugesichert. Um sich in Palästina herumzuschlagen, wo man garnichts zu fordern hatte, um das Heilige Land zu erobern, das die Kosten des Zuges nicht wert war, verließen Fürsten, Könige und Kaiser mit zahllosen Heerscharen aus allen europäischen Ländern ihre Heimat und setzten sich in weiter Ferne unvermeidlichen Gefahren aus. Angesichts der unglücklichen Folgen so schlecht entworfener Pläne lachten sich die Päpste ins Fäustchen über die törichte Verblendung der Menschen und freuten sich ihres eignen Erfolges. Während der freiwilligen Verbannung so vieler Menschen fand Rom nirgends Widerstand gegen seinen Willen, und solange dieser Wahnsinn dauerte, schalteten die Päpste unumschränkt über Europa. Als man in Rom merkte, daß die Völker durch die Mißerfolge der Kreuzzüge den Mut verloren, war man klüglich darauf bedacht, sie wieder anzufeuern durch die Hoffnung auf besseres Gelingen, die ihnen irgend ein tonsurierter Betrüger machen mußte. Bei mehreren Gelegenheiten diente Bernhard von Clairvaux dem Heiligen Stuhle zum Werkzeuge108-1. Seine Beredsamkeit war ganz dazu angetan, das Gift dieser Epidemie zu verbreiten. Er schickte viele Schlachtopfer nach Palästina, hütete sich aber wohl, selbst hinzugehen. Was war der Erfolg so vieler Unternehmungen? Kriege, die Europa entvölkerten, Eroberungen, die, kaum gemacht, wieder verloren gingen. Ja, die Christen öffneten dadurch selbst die Bresche, durch die die Türken in Europa eindrangen und sich in Konstantinopel festsetzten.

Noch größer war das moralische Elend, das die Kreuzzüge hervorriefen. All die Ablässe, all die Vergebungen von Verbrechen, die man an den Meistbietenden vertaufte, bewirkten eine allgemeine Entsittlichung. Die Gesinnung der Menschen wurde immer verderbter. Die so heilige und lautere christliche Moral geriet ganz in Verfall, und auf ihren Trümmern erhoben sich äußerlicher Gottesdienst und abergläubische Gebräuche. Waren die Schätze der Kirche erschöpft, so versteigerte man das Paradies und bereicherte damit die päpstlichen Kassen. Wollten die Päpste einen Herrscher, mit dem sie unzufrieden waren, bekriegen, so predigten sie den Kreuzzug gegen ihn, bekamen Truppen und konnten sich schlagen. Wollte der Heilige Stuhl einen Fürsten stürzen, so ward er für einen Ketzer erklärt und in den Bann getan. Auf dies Losungswort hin rottete sich alles gegen ihn zusammen.

Durch solche Maßnahmen wurde das despotische Joch der Päpste immer drückender. Die Großen der Welt waren seiner längst überdrüssig und hätten es gern abgeschüttelt, wagten es aber nicht. Die Macht der meisten war zu wenig befestigt, und die große Masse ihrer Untertanen, die in der tiefsten Unwissenheit schmachtete, war durch die Ketten des Aberglaubens gleichsam gebunden und geknebelt. Zwar versuchten einige ihre Zeit überragende Geister, den betörten Völkern die Augen zu öffnen und<109> sie durch das schwache Licht des Zweifels zu erleuchten, aber die Tyrannei der Kirche vereitelte alle ihre Bemühungen. Sie hatten mit Richtern zu tun, die zugleich Partei waren. Ihnen drohten Verfolgung, Kerker und Schmach, ja selbst die Flammen, die bereits von den Scheiterhaufen der Inquisition aufloderten.

Zur Vervollständigung des Bildes dieser Zeiten des Schwindelgeistes und der Verdummung denke man sich noch die Pracht und Üppigkeit der Bischöfe hinzu, die dem allgemeinen Elend gleichsam Hohn sprach, das schamlose Leben und die schwarzen Verbrechen so vieler Päpste, die die Moral des Evangeliums dreist Lügen straften, den Ablaßschacher, diesen offenbaren Beweis, daß die Kirche, um sich zu bereichern, das Heiligste des Glaubens verriet. Kurz, die Päpste trieben Mißbrauch mit ihrer auf die Leichtgläubigkeit der Menschen gegründeten Macht, genau wie heutzutage manche Völker ihr ideelles Ansehen mißbrauchen. All dieser gehäufte Zündstoff bereitete die Reformation vor.

Der Vollständigkeit halber müssen wir einen Umstand erwähnen, der die Ausführung erleichterte. Seit dem Konzil zu Konstanz109-1, wo Kaiser Sigismund drei Päpste hintereinander absetzen ließ, fürchtete der Heilige Stuhl die allgemeinen Kirchenversammlungen ebensosehr, als er sie bis dahin gewünscht hatte. Die Väter zu Konstanz hatten erklärt: ein Konzil habe durch göttliches Recht die Macht, die Päpste zu reformieren und abzusetzen. Schon zur Zeit der Ottonen hatten die Kaiser aus Unwillen darüber, die Bannflüche gegen ihre Vorfahren mitzuerben, auch ihrerseits die Religion und die Versammlungen der Bischöfe geschickt benutzt, um den römischen Bischof abzusetzen und ihn mit seinen eignen Waffen zu bekriegen. Seit dem großen Schisma der abendländischen Kirche109-2 verloren die Päpste viel von ihrem idealen Ansehen. Unheilige Hände griffen das vergoldete Götzenbild an, vor dem die Welt im Staube lag, und fanden, daß es nur aus Ton bestand. Seitdem fürchtete sich der Heilige Stuhl vor den Königen, Kaisern und Konzilen, und die einst so schrecklichen Waffen des Bannfluches verrosteten in den Händen der Päpste. Kurz, alles kündete eine Umwälzung an, als Wycliffe in England und Johann Huß in Böhmen auftraten.

Doch das war erst die schwache Morgenröte des Tages, der die Finsternis verscheuchen sollte. Indes das Maß war voll. So roh und stumpf das Volk auch sein mochte, es war der ewigen Abgaben an die Geistlichen müde, nahm Anstoß an der Pracht und dem schändlichen Leben der Bischöfe und geriet in jene Art von Gärung, die den großen Revolutionen vorherzugehen pflegt. Endlich gab der Ablaßschacher den Anstoß. Halb Europa kündigte dem Heiligen Stuhl den Gehorsam auf und fiel von ihm ab. Diese große Revolution der Geister mußte früher oder später eintreten; denn einerseits kennt die Machtgier keine Grenzen und andrerseits besitzt der menschliche Geist doch nur ein gewisses Maß von Geduld. Die Päpste aber, die<110> schon seit so vielen Jahrhunderten im Besitz des Rechtes waren, die Völker zu beitrügen, konnten nicht vorhersehen, daß sie Gefahr liefen, wenn sie den Weg ihrer Vorgänger weiterschritten.

Ein sächsischer Mönch von verwegenem Mute, voll lebhafter Einbildungskraft, klug genug, um die Gärung der Geister zu benutzen, ward zum Haupt der Partei, die sich gegen Rom erklärte. Dieser neue Bellerophon warf die Chimäre zu Boden, und die Verzauberung schwand. Sieht man bloß auf die plumpen Grobheiten seines Stils, so erscheint Martin Luther zwar nur als ein polternder Mönch, als ein roher Schriftsteller eines noch wenig aufgeklärten Volkes. Wirft man ihm aber auch mit Recht sein ewiges Schelten und Schimpfen vor, so muß man doch bedenken, daß die, für die er schrieb, nur bei Flüchen warm wurden, aber Gründe nicht verstanden.

Betrachten wir jedoch das Werk der Reformatoren im großen, so müssen wir zugeben, daß der menschliche Geist ihrem Wirken einen guten Teil seiner Fortschritte dankt. Sie befreiten uns von vielen Irrtümern, die den Verstand unsrer Väter verdunkelten. Indem sie ihre Gegner zu größerer Vorsicht zwangen, erstickten sie das Aufkeimen neuen Aberglaubens und wurden, well man sie verfolgte, tolerant. Nur in der heiligen Freistätte der in protestantischen Staaten eingeführten Duldung konnte sich die menschliche Vernunft entwickeln, pflegten Weise die Philosophie, erweiterten sich die Grenzen unsres Wissens. Hätte Luther auch weiter nichts getan, als daß er die Fürsten und Völker aus der Knechtschaft befreite, in der sie der römische Hof gefesselt hielt, so verdiente er schon, daß man ihm als dem Befreier des Vaterlands Altäre errichtete. Hätte er den Schleier des Aberglaubens auch nur zur Hälfte zerrissen, wieviel Dank wäre ihm die Wahrheit nicht schuldig! Der strenge, kritische Blick der Reformatoren hielt die Väter auf dem Konzil zu Trient110-1 zurück, als sie schon die Jungfrau zur vierten Person der Dreieinigkeit machen wollten. Immerhin gaben sie ihr zur Entschädigung den Titel Mutter Gottes und Königin des Himmels.

Die Protestanten zeichneten sich durch strenge Tugend aus und zwangen dadurch den katholischen Klerus zu gesitteterem Wandel. Die Wunder hörten auf. Es wurden weniger Heilige kanonisiert. Der päpstliche Stuhl wurde nicht mehr durch den ruchlosen Wandel der Päpste besteckt. Die Fürsten waren vor Bannsirahlen sicher. Die Kirchen wurden seltener mit Interdikt belegt, die Völker nicht mehr ihrer Eide entbunden, und die Ablaßbriefe kamen außer Mode.

Noch einen andren Vorteil brachte die Reformation: die Theologen so vieler Sekten mußten nun mit der Feder kämpfen und waren daher genötigt, etwas zu lernen. Das Wissensbedürfnis machte sie gelehrt. So blühte die Beredsamkeit Griechenlands und des alten Roms wieder auf. Zwar benutzte man sie nur zu abgeschmackten theologischen Streitschriften, die kein Mensch lesen kann, aber es erschienen<111> doch in allen Parteien große Männer, und auf die Lehrstühle, auf denen bisher nur Trägheit und Unwissenheit gesessen hatte, traten nun Lehrer von hervorragenden Verdiensten.

Das war der Segen der Reformation. Vergleicht man ihn mit den Übeln, die sie hervorbrachte, so muß man gestehen, der Vorteil war teuer erkauft. In ganz Europa kamen die Geister in Gärung. Die Laien prüften, was sie bisher angebetet hatten. Bischöfe und Äbte bangten um den Verlust ihrer Einkünfte. Die Päpste zitterten um ihr Ansehen. Kurz, alles geriet in Flammen. Nichts ist so erbittert, so erbarmungslos, wie der Priesterhaß. Er mischte sich in die Politik der Fürsten und erregte jene Kriege, die so viele Reiche verheerten. Ströme von Blut überschwemmten Deutschland, Frankreich und die Niederlande. Erst nachdem das Glück lange geschwankt hatte, nachdem alle Abscheulichkeiten begangen waren, die die Bosheit der sich selbst überlassenen Menschen in Verbindung mit Schwärmerei verüben kann, erst da erlangten Deutschland und Holland mitten unter den rauchenden Trümmern ihres Vaterlands das unschätzbare Gut: die Gedankenfreiheit. Später folgte der ganze Norden ihrem Beispiel.

Wer sähe nicht, wenn er die Geschichte der Kirche durchläuft, daß alles nur Menschenwerk ist? Welch erbärmliche Rolle läßt man Gott spielen! Er schickt seinen einzigen Sohn in die Welt. Dieser Sohn ist Gott. Er opfert sich selbst, um sich mit seinen Geschöpfen zu versöhnen. Er wird Mensch, um das verderbte Menschengeschlecht zu bessern. Was entspringt aus diesem großen Opfer? Die Welt bleibt so verderbt, wie sie vor seiner Ankunft war. Der Gott, der da sprach: „Es werde Licht!“ — und es ward Licht —, sollte so unzureichende Mittel benutzen, um zu seinen anbetungswürdigen Zwecken zu gelangen? Ein einziger Willensakt von ihm genügt, um das geistige und leibliche Böse aus der Welt zu verbannen, den Völkern welchen Glauben er will einzuflößen und sie auf den Wegen, die seiner Allmacht offen stehen, glücklich zu machen. Nur beschränkte und enge Geister wagen Gott ein Betragen zuzuschreiben, das seiner anbetungswürdigen Vorsehung so unwürdig ist, und lassen ihn durch eines der größten Wunder ein Werk unternehmen, das ihm doch nicht gelingt.

Und eben die Menschen, die vom höchsten Wesen so unzureichende Begriffe haben, setzen auf jedem Konzil neue Glaubensartikel fest! Man findet sie sämtlich in dem chronologischen Auszug aus der großen Kirchengeschichte von Fleury, einem unverdächtigen Geschichtsschreiber. Das Kennzeichen von Gottes Werken ist ihre Beständigkeit, das der menschlichen Werke ihre Wandelbarkeit. Wo bleibt da die Möglichkeit, Lehren für göttlich zu halten, die nacheinander aufkommen, die vermehrt, vermindert und verändert werden, je nach dem Gutdünken und Vorteil der Priester? Wie kann man an die Unfehlbarkeit derer glauben, die sich für Statthalter Christi ausgeben, wo man sie nach ihren Sitten eher für Statthalter jener schlimmen Wesen halten möchte, die, wie es heißt, die Abgründe der Qualen und Finsternisse bevölkern? Wir sehen Päpste, die einander in den Bann tun, Päpste, die ihre Worte zurück<112>nehmen, Konzile, die die Lehrsätze vorhergehender KonzUe unter dem Vorwand einer Erklärung der Dogmen abändern. Der Schluß ist klar: entweder haben sich diese oder jene geirrt. Warum, fragt man ferner, bekehrte man die Völker mit Verfolgungen, mit Feuer und Schwert, wie es z. B. Karl der Große in Deutschland tat, oder wie die Spanier nach Vertreibung der Mauren und noch jetzt in Amerika? Muß nicht jeder Leser auf den Gedanken kommen: wenn die Religion wahr ist, so reicht ihre Evidenz zur Überzeugung hin. Ist sie aber falsch, so muß man freilich verfolgen, um die Menschen zu ihr zu bekehren! Wir wollen garnicht Wert darauf legen, daß die Wunder nur in den Jahrhunderten der Unwissenheit so häufig und in aufgeklärteren Zeiten so selten sind.

Mit einem Worte, die Kirchengeschichte offenbart sich uns als ein Werk der Staatskunst, des Ehrgeizes und des Eigennutzes der Priester. Statt etwas Göttliches darin zu finden, trifft man nur auf lästerlichen Mißbrauch mit dem höchsten Wesen. Ehrwürdige Betrüger benutzen Gott als Schleier zur Verhüllung ihrer verbrecherischen Leidenschaften. Wir unterlassen es klüglich, diesem Bilde noch etwas hinzuzufügen. Für jeden denkenden Leser ist genug gesagt. Automaten wollen wir nichts vorbuchstabieren.

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Widmung des „Lebens des Apollonios von Tyana“
von Philostratos an
Papst Klemms XIV.
113-1



Heiliger Vater!

Wir nehmen uns die Freiheit, Eurer Heiligkeit das „Leben des Apollonios von Tyana“ mit den Anmerkungen des Barons Herbert, die wir aus der englischen Ausgabe von Charles Blount übersetzt haben, zu widmen. Die von Philostratos überlieferte Geschichte des Apollonios wurde von Hierokles113-2, einem großen Anhänger des heidnischen Kultus, dazu benutzt, die angeblichen Wunder dieses Apollonios den Wundern Jesu Christi entgegenzustellen. Hierokles wurde seinerseits von Eusebios bekämpft, der sich in seiner Demonstratio evangelica die größte Mühe gab, jene Wunder zu widerlegen. Herr von Tillemont113-3 glaubt, der Teufel habe aus Furcht, durch die Ankunft des Heilands vernichtet zu werden, fast gleichzeitig unsren Apollonios zur Welt kommen lassen, damit, wenn Christi angebliche Magie die Völker unterjochte, der Irrtum Altäre gegen die Wahrheit errichten könnte, oder falls die Betrügereien seines Helden ans Licht kämen, durch die falschen Wunder des Apollonios auch die Wunder Christi in Mißkredit gebracht würden. Wer nicht<114> jahrelang in den politischen Schreibstuben der Hölle als Sekretär gearbeitet hat, wird über dies Thema nicht mehr sagen können als Herr von Tillemont. Indes scheint die heutige Kirche eine kräftigere Widerlegung der Wunder des Apollonios zu fordern als die ersten Kirchenväter. Das von uns veröffentlichte Werk setzt diese Wunder ins hellste Licht. Baron Herbert bekräftigt sie durch seine Anmerkungen. Wenn der Irrtum so dreist auftritt, verdient er von einem starken, siegreichen Arme zu Boden geschlagen zu werden. Und von wem könnte die Schar der Auserwählten solche Hilfe erwarten, wenn nicht von dem sichtbaren Haupte der Kirche, dem Statthalter Christi auf Erden? Eurer Heiligkeit gebührt die Aufklärung der Welt in einem Jahrhundert, wo der Unglaube überhandnimmt, wo die Geister denken lernen, wo der Philosoph nur exakte Beweise zuläßt, kurz, wo alles sireng geprüft und dem Urteil unterworfen wird. Eurer Heiligkeit gebührt es, uns die untrüglichen Kennzeichen zu lehren, an denen man die Zaubereien der Betrüger von den Wundern des Teufels und die Wunder des Teufels von denen unterscheiden kann, die Gott in seiner Gnade durch seine Diener vollbringen ließ. Mit diesen Waffen, die wir aus den heiligen Rüstkammern erbitten, werden wir um so besser Trotz bieten können allen Angriffen des Teufels, der alles ins Werk setzt, um die Grundlagen der Kirche zu untergraben und zu erschüttern. Den wankenden Glauben befestigen, die Wunder des Apollonios widerlegen, nach Aufhebung des Jesuitenordens114-1 den Teufel niederschlagen, das sind, Heiliger Vater, Taten, die Euer Pontifikat über das Eurer sämtlichen Vorgänger erheben werden. Wir werden uns glücklich schätzen, wenn dies Werk, das wir Euch zu Füßen legen, Euch Gelegenheit gibt, Euren Ruhm zu vermehren und die streitende Kirche zu befestigen, deren stärkster Rückhalt Eure Heiligkeit ist.

Mit tiefster Ehrerbietung und Demut verbleibe ich,
Vater der Gläubigen, Eurer Heiligkeit demütigstes und untertänigstes Schäflein Philalethes.

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Bericht des Phihihu, Sendboten des Kaisers von China in Europa (1760)115-1

Aus dem Chinesischen.

1. Brief.

Erhabner Kaiser, Stern des Lichtes, Wunder unsrer Tage, Trost Deiner Sklaven, 0 Du, dessen Fußschemel zu küssen ich nicht wert bin! Deinem Gebot gemäß habe ich die große Reise unternommen, die Du mir auftrugest. Ich kam mit Pater Berteau in Konstantinopel an, ohne daß uns unterwegs irgend ein Leids geschehen wäre. Konstantinopel ist zwar eine sehr große Stadt, aber sie reicht doch nicht an Peking heran. Hier herrscht ein neuer Türkenkaiser115-2, der vor kurzem seinem Oheim auf dem Throne gefolgt ist. Mit Erstaunen erblickte ich bei diesem Volke große Augen und Bärte, die Wäldern gleichen. Alle Europäer sollen ebenso sein; ich zweifle aber, ob sie besser sehen als wir. Die Barte tragen sie, wie man mir sagte, um sich ein weises Ansehen zu geben. Bei einem Spaziergang in Pera sah ich ein Tier mit Hörnern, das nach seinem Barte zu urteilen weiser sein mußte als alle jene Leute. Ich fragte, ob es in großem Ansehen stünde. Da hätte man mich fast gesteinigt, und ich rettete mich mit meinem Jesuiten in das Haus eines Gesandten, der zwar keinen Bart hatte, mir aber ebenso menschlich erschien, wie meine Steiniger mir wild dünkten. Nach diesem Abenteuer hielt ich ein längeres Verweilen in einem Lande, wo man fremde Frager so übel aufnimmt, nicht für geraten.

Wir fanden ein Schiff, das nach Italien segelte. Pater Berteau und ich bestiegen es. Unterwegs sah ich nichts Bemerkenswertes als die Kanonen der Darda<116>nellen. Sie sind so groß, daß eine chinesische Familie in ihrem Bauche bequem wohnen könnte. Man versicherte mir, es sei ein großer Beweis von Höflichkeit, sie für einen Fremden lösen zu lassen, und der Gipfel der Ehre sei, sie mit Kugeln zu laden. Ich gestehe Dir, erhabner Kaiser, ich war hocherfreut, daß ich auf Deinen Befehl inkognito reise; denn das hat mich bei dieser Gelegenheit vor einer großen Gefahr behütet.

Wir fuhren durch ein ziemlich schmales Meer, das Europa von Afrika trennt, und nach vierzehntägiger Schiffahrt landeten wir glücklich in einem Hafen namens Ostia. Ich war verwundert über eine Menge von Dingen, die von allem, was man in Deinem unermeßlichen Reiche sieht, völlig verschieden sind, insonderheit die Sitten und Gebräuche der Europäer, die sich mit nichts vergleichen lassen. Pater Berteau redete mir zu, nach der Hauptstadt Europas zu reisen. Ich fand es fürwahr nicht lohnend, die kleinen Städte zu besuchen. Ging ich aber nach der größten, so fand ich dort das Original, von dem die andren nur Abbilder sind.

Rom ist für die Europäer das gleiche, was Tibet für die Mandschus und die mongolischen Tartaren ist. Dort residiert der große Lama, ein Priesterkönig. Man versicherte mir, seine geistliche Macht erstrecke sich weiter als die weltliche, und wenn er eine gewisse Formel sage, so erbebten die Könige auf ihren Thronen. Ich wollte es nicht glauben und fragte einen alten Bonzen, mit dem ich Bekanntschaft machte, ob die sonderbare Behauptung wahr sei.

„Sehr wahr“, sagte er. „Um Ihnen jedoch nichts zu verhehlen, muß ich Ihnen gestehen, daß die gute Zeit vorüber ist. Vor fünfhundert Jahren galten gewisse mystische Worte, die unser heiliger Oberpriesier aussprach, soviel wie Beschwörungen und ließen nach unsrem Belieben Kronen und Zepter fallen. Dies Vergnügen haben wir nicht mehr, aber wir besitzen andre Mittel, die uns doch noch immer Ansehen bei den Großen verschaffen und sie in ziemlich starke Bedrängnis bringen.“ — „Welch sonderbares Vergnügen“, fragte ich, „macht es Ihnen denn, derart Um frieden in Ländern zu stiften, über die Sie keine Gerichtsbarkeit haben?“ — „Keine Gerichtsbarkeit!“ erwiderte er. „Wie? Haben wir denn nicht die geistliche Gerichtsbarkeit über alle Seelen? Die Könige haben Seelen, folglich ...“ — „Ach!“ rief ich, „Ihre Meinung würde in Peking nicht gelten. Unsre erhabnen Herrscher haben auch Seelen. Sie sind aber fest überzeugt, daß sie ihnen selbst gehören und daß sie darüber nur dem Tien116-1 Rechenschaft schulden.“ — „Das ist“, entgegnete der Bonze, „just die Ketzerei derer, die sich von der Kirche getrennt haben.“ — „Was ist Ketzerei?“ fragte ich. — „Die Meinung aller, die nicht so denken wie wir.“ Ich tonnte mir nicht versagen, ihm entgegenzuhalten, ich fände es scherzhaft, daß er von jedermann verlangte, seine Meinung zu teilen. Denn als der Tien uns schuf, habe er jedem besondere Züge, einen besonderen Charakter und eine besondre Art, die Dinge zu sehen,<117> gegeben. Wenn man also nur in der Übung der sittlichen Tugenden einig sei, käme es auf das übrige wenig an.

Mein Bonze versicherte mir, er merke, daß ich noch sehr chinesisch sei. „Das will ich zeitlebens bleiben“, erwiderte ich ihm. „Wissen Sie, in unsrem Lande hätten die Bonzen es schlecht, wenn sie so denken wollten wie Sie. Man erlaubt ihnen, Hals, eisen zu tragen und sich so viele Nägel in den Hintern zu stoßen, als es ihnen Spaß macht. Im übrigen mögen sie so grämlich sein, wie sie wollen: sie haben nicht die Macht, einem Sklaven das Leben sauer zu machen, und täten sie es, man zahlte es ihnen gehörig heim.“ Mein Bonze erwiderte mit betrübter Miene, er sähe zu seinem großen Leidwesen, daß wir verdammt würden. Denn es gäbe kein Heil für solche, die die Bonzen nicht blindlings verehrten und nicht gedankenlos alles glaubten, was sie zu sagen beliebten.

Ich weiß nicht, ob das die Privatmeinung des Mannes war, mit dem ich sprach, oder der allgemein befolgte Glaube. Bei der kurzen Zeit, die ich hier verweile, habe ich es noch nicht ermitteln können. Ich bitte Dich demütigst, Dich ein wenig zu gedulden, und Du wirst mit den Berichten Deines Sklaven zufrieden sein.

2. Brief.

Heute war ich im großen Tempel der Christen. Ich werde Dir Dinge verkünden, erhabner Kaiser, die Du nicht für möglich hältst und die ich selbst kaum glauben kann, wiewohl ich sie gesehen habe. In diesem Tempel ist eine große Menge von Altären, und vor jedem Altar sieht ein Bonze. Jeder dieser Bonzen, vor dem das Volk am Boden liegt, macht einen Gott. Sie behaupten aber, so viele Götter sie auch durch Murmeln gewisser Zaubersprüche machten, es sei immer derselbe Gott. Ich wundre mich nicht, daß sie es sagen, aber unbegreiflich ist es, daß das Volk es glaubt. Auf diesem schönen Wege bleiben sie aber nicht stehen. Wenn sie den Gott gemacht haben, essen sie ihn auf. Einen so seltsamen Gottesdienst hätte der große Konfutse lästerlich und anstößig gefunden. Es gibt unter ihnen eine Sekte, die sogenannten Frommen, die verzehren fast täglich den Gott, den sie machen, und halten das für das einzige Mittel, um nach diesem Leben glücklich zu werden. In demselben Tempel sieht auch eine große Zahl von Standbildern, vor denen man Verbeugungen macht und zu denen man betet. Diese stummen Bilder haben eine Stimme im Himmel und legen beim Tien Fürsprache für die ein, die auf Erden ihre diensteifrigsten Höflinge waren. Das alles wird ernstlich geglaubt.

Auf dem Heimweg unterhielt ich mich mit einem verständigen Manne, der meine Verwunderung über alles bemerkte, was ich gesehen, und zu mir sagte: „Sehen Sie nicht ein, daß in jeder Religion etwas sein muß, was dem Volke Eindruck macht?<118> Unser Glaube ist auf das Volk zugeschnitten. Man kann nicht zu seinem Verstande sprechen, aber man packt es bei seinen Sinnen. Indem man ihm einen, wenn Sie wollen, übertriebenen Gottesdienst auferlegt, unterwirft man es den Regeln und der Übung in den guten Sitten. Prüfen Sie unsre Moral, und Sie werden es sehen.“ Daraufhin gab er mir ein Buch, das einer seiner Gelehrten verfaßt hatte. Darin fand ich ungefähr das gleiche wie in der Sittenlehre des Konfutse. Ich begann mich mit den Christen auszusöhnen, erkannte, daß man nicht leichthin nach dem Schein urteilen muß, und fiel bald in den andern Gegensatz. „Wenn diese Religion“, so sagte ich mir, „eine so treffliche Moral hat, so sind ihre Bonzen gewiß Muster aller Tugenden, und der große Lama muß ein göttergleicher Mensch sein.“ Von diesen Gedanken erfüllt, erging ich mich abends auf dem Spanischen Platze. Dort begrüßte mich ein Mann, wie man mir sagte, ein Portugiese. Er war sehr überrascht, daß ich ein Chinese war und Reisen machte, und richtete einige Fragen über mein Land an mich, worauf ich ihm nach besten Kräften Bescheid gab. Das veranlaßte mich, ihn auch über sein Land auszufragen. Wie er sagte, wohnte sein König am westlichen Ende von Europa. Sein Reich sei zwar nicht groß, doch hätte er große Besitzungen in Amerika und sei der reichste Fürst, da er seine Einnahmen nicht auszugeben vermöchte. Ich fragte ihn, ob er wie ich reiste, um sich zu belehren, oder aus welchem Grunde er ein so reiches Land verlassen hätte, um hierher zu kommen, wo allein die Tempel prunkvoll seien und nur die Bonzen, die das Gelübde der Armut abgelegt hätten, im Überfluß lebten. „Mein König schickt mich hierher“, sagte er. „Er hat ein Geschäft mit dem großen Lama.“ — „Wohl seines Seelenheils wegen ?“ fragte ich weiter. „Denn ein Bonze hat mir versichert, er hätte ein Pfandrecht auf alle Seelen der Fürsien.“ — „Es handelt sich um sein leibliches Wohl,“ erwiderte der Portugiese, „denn eine abscheuliche Art von Bonzen, die wir haben, trachtete ihm nach dem Leben.“ — „Warum hat er die Bonzen nicht pfählen lassen?“ fragte ich ergrimmt. — „Man pfählt hierzulande keine Geistlichen“, entgegnete jener. „Mein Gebieter vermochte nichts weiter, als sie zu verbannen. Der große Lama hat sie in Schutz genommen, hat ihnen hier eine Freistatt gegeben und belohnt sie für den Königsmord, den sie in Lissabon vollbringen wollten118-1.“ — „Fürwahr,“ rief ich, „Herr Portugiese, in Ihrem Europa ist alles unbegreiflich. Heute las ich ein Buch Ihrer Sittenlehre, das mich entzückt hat; Ihre Bonzen predigen sie, Ihr großer Lama ist der lebendige Quell, aus dem sie fließt. Wie kann er, das Vorbild aller Tugend, sich derart zum Beschützer eines abscheulichen Verbrechens machen?“ — „Reden Sie nicht so laut“, warnte der Portugiese. „Es gibt hier eine gewisse Inquisition. Die könnte Sie für die dreisten Worte, die Ihnen entschlüpften, bei langsamem Feuer braten lassen. Wollen Sie von dem großen Lama reden, dann nur an einem sichren Orte, wo uns niemand verraten kann.“ Da gedachte ich des Abenteuers mit dem Bock in Konstantinopel und folgte ihm.

<119>

Du siehst, erhabner Kaiser, welche Gefahren ich schon in Deinem Dienste bestanden habe. Ich wurde eines Bockes wegen fast gesteinigt und auf ein Haar gebraten, weil ich sagte, daß der große Lama die Verbrecher beschützt. Ach! welch ein wunderliches Land ist dies Europa! Wie sehne ich mich zurück nach den sanften Sitten, die unter Deinem Zepter blühen, nach den glücklichen Gefilden, in denen ich unter Deiner Herrschaft geboren ward!

3. Brief.

Sobald ich das Haus meines Portugiesen betreten und er die Tür wohlverschlossen hatte, sodaß er uns für gesichert hielt, Hub er folgendermaßen an: „Ich sehe wohl, Sie sind eben erst in dies Land gekommen, und alles muß Ihnen hier neu scheinen. Sie haben religiöse Bräuche gesehen, die Ihnen zweifellos sonderbar vorgekommen sind. Sie haben Moralbücher gelesen, die Sie mit den Bonzen ausgesöhnt haben. Erfahren Sie denn, daß diese Bräuche und Bücher in der Tat nur Köder für das Volk sind. Alles, was Sie hier sehen, vom Papste bis hinab zum letzten Mönche, der bis an die Hüften im Dreck watet, macht wenig Aufhebens davon. Der Tien ist nur ein Vorwand für ihre Herrschsucht und ihren Geiz. Die Religion dient ihnen zu beidem. Daher auch ihr frommer Eifer; daher lassen sie alle verbrennen, die die Fesseln ihrer Knechtschaft brechen wollen. Wir haben große Lamas gehabt, die Ehebruch und Blutschande trieben, die berufs- und handwerksmäßige Giftmischer waren. Es gibt kein Verbrechen, mit dem ihre Tiara nicht besteckt ist. Im allgemeinen sind die Diener der Kirche durch die Kühnheit ihrer Unternehmungen und ihre unversöhnliche, boshafte Rachsucht der bösartigste und gefährlichste Menschenschlag. Ich rede offen; denn im Grunde gehöre ich ihrem Glauben nicht an. Ich bin ein Jude.“ — „Was ist ein Jude?“ unterbrach ich. „Von diesen Leuten habe ich nie etwas gehört.“ — „Die Juden“, antwortete er, „waren das auserwählte Volt Gottes; sie haben in Judäa gewohnt, sind aber schließlich von den Römern vertrieben worden und leben nun über die ganze Welt verstreut, wie die Banjanen119-1 und Guebern119-2 in Asien. Auf unser Gesetzbuch gründen die Christen das ihre. Sie geben zwar zu, daß ihr Glaube aus dem unsren entspringt; aber diese undankbaren Kinder schlagen und mißhandeln ihre Mutter. Um in Lissabon nicht verbrannt zu werden, hat unsre Familie zum Schein den Gottesdienst der Christen angenommen, und um ruhiger zu leben, bin ich Familiare der Inquisition geworden.“ Ich unterbrach ihn nochmals, um zu erfahren, was ein Familiare sei. Er sagte mir, es wäre eine Stellung, in der man sich um alles kümmerte, was dies furchtbare Gericht anginge und was es verletzen könnte. Ich dankte ihm für die gegebenen Aufklärungen. Dann trennten wir uns und versprachen, einander wiederzusehen.

<120>

4. Brief.

Am nächsten Tage kam Pater Berteau zu mir. Ich fragte ihn gleich, ob er zu den Bonzen gehöre, die man aus Portugal vertrieben habe. Er bejahte es und setzte hinzu: „Ach, durch schreiendes Unrecht hat man die guten Väter aus ihrer heiligen Freistatt verjagt!“ Diese Worte trieben mir das Blut ins Gesicht. „Wie, mein Vater!“ rief ich. „Sollte der König von Portugal sich denn von diesen Schelmen von Bonzen ermorden lassen?“ — „Für sein Seelenheil,“ erwiderte der Pater, „war es besser, er wurde ermordet, als daß er die frommen Mönche vertrieb.“ — „Welch scheußlicher Grundsatz, mein Vater! Wie stimmt das“, setzte ich hinzu, „zu den Moralbüchern, die Sie mir zu lesen gaben?“ — „Ausgezeichnet“, entgegnete jener. „Nach der Meinung des Paters Bauni120-1, des Sanchez120-2 und einiger unsrer berühmtesten Kasuisten muß man die Könige töten, wenn sie Tyrannen sind.“ — „O Kon, futse, Konfutse!“ rief ich aus. „Was würdest du sagen, wenn du solche Ruchlosig, leiten hörtest!“ Wie glücklich ist Dein Reich, erhabner Kaiser, daß ein Glaube, der so schändliche Grundsätze duldet und übt, unter Deiner Herrschaft nicht besieht!

Seit jener Unterredung faßte ich einen Abscheu gegen Pater Berteau und wollte nicht mehr mit ihm verkehren. Am nächsten Tage war ich in einer Gesellschaft von Priestern; denn hierzulande ist jedermann Priester, in der Hoffnung, einst Lama zu werden. Auch der Portugiese war darunter. Ich war begierig, zu erfahren, wie der große Lama gewählt wird. Folgendes habe ich darüber ungefähr festgestellt. Nach ihrer Behauptung zerfällt der Tien in drei Teile — ich habe das nie verstanden, so sehr sie es mir auch klarzumachen suchten —, und ein Teil des Tien, den sie den Hei, ligen Geist nennen, leitet die Wahl des Lama. Er wird aus siebzig Bonzen gewählt, die samt und sonders krebsrot120-3 sind. Mein Portugiese sagte zu mir: „Glauben Sie nichts von alledem. Einige Könige, die in großem Ansehen stehen, und die Ränke dieser Krebse bestimmen den Lama. Obwohl er vor Freude, Lama geworden zu sein, aufjauchzen möchte, muß er weinen und über die große Bürde klagen, die man ihm auflädt. Man wählt einen möglichst Alten, damit ein andrer dieser Ehrgeizigen, die nach seinem Throne streben, ihm bald nachfolgen kann. Noch aus einem andren stärkeren Grunde wählt man einen möglichst Alten: die Greise geben weniger Anlaß zu Ärgernis. In einem Siebzigjährigen sind alle unkeuschen Begierden erloschen; ihm bleibt nur noch Herrschsucht und Geiz. Da man aber daran keinen Anstoß nimmt, so tut das der Kirche keinen Abbruch.“

„Aber wie“, fragte ich, „ist diese ganze Kirche mit ihrem Kult und ihren listigen Glaubenssätzen zustande gekommen?“

<121>

„Nicht auf einmal“, erwiderte der Portugiese. „Anfangs war die Religion einfach. Die Bonzen hatten geringe Macht, und die Tugenden strahlten. Doch mit der Zeit haben Lasier und Aberglauben immer mehr zugenommen. Sie haben Bonzenversammlungen, sogenannte Konzile, abgehalten, und jedes Konzil hat einen neuen Glaubensartikel hinzugefügt. Es gibt keinen Widersinn, der den Vätern auf den Konzilen nicht durch den Kopf gegangen wäre. Zu der Zeit, da die Macht des Lama ihren Gipfel erreicht hatte, wäre auf ein Haar eine Jungfrau, die sie die Mutter Gottes nennen, zur Göttin und vierten Person der Dreieinigkeit erhoben worden121-1. Aber da sieht ein Bonze in Deutschland gegen den Lama auf, öffnet den Völkern und Fürsten die Augen über ihre blöde Leichtgläubigkeit und gründet eine starke Partei von Widersachern dieser sogenannten Katholiken. Der Lama und seine Ratgeber, die Krebse, wie Sie sie nennen, begriffen, daß dies nicht der rechte Augenblick war, um den Aberglauben zu mehren. Sie machten aus der Jungfrau, soviel sie konnten, und ließen es bei der kräftigen Verteidigung der alten Glaubenssätze bewenden. Immerhin haben die Bonzen seitdem auf eine große Zahl von Wundern verzichten müssen, die sie vormals vollbrachten, durch die sie sich aber lächerlich machen würden, wenn sie damit wieder anfingen. Sie treiben zwar noch hin und wieder böse Geister aus, aber hauptsächlich, um nicht ganz aus der Übung zu kommen; denn die Wirkung ist nicht mehr die gleiche wie einst. Daher auch der wilde Haß zwischen den Bekennt, nissen, obwohl alle Christen sind. Nie verzeihen die Bonzen den Ketzern ihre Einbuße an fetten Einkünften und Bistümern. Vor allem betrachten sie jene als lästige Aufseher, die sie zwingen, gescheiter zu sein, als sie möchten. Und so haben sie denn auch seit jenem Schisma nicht den kleinsten neuen Aberglauben einzuführen gewagt. Sie sehen sie darob in Verzweiflung, und es fällt ihnen schwer, das Volk in seiner Leichtgläubigkeit zu erhalten.“

Mittlerweile kam ein Bonze und sagte meinem Portugiesen, daß der große Lama ihn riefe. Wir trennten uns. Er begab sich zu dem Oberpriesier, und ich ging in Gedanken noch einmal all die außerordentlichen Dinge durch, um sie Dir zu vermelden.

5. Brief.

Am nächsten Tage kam mein Portugiese frühmorgens wieder zu mir. Wie er mir sagte, hatte der Lama ihn hart angefahren. Der wetterte noch immer gegen seinen Herrn, weil er die tückischen Bonzen aus seinen Staaten vertrieben hatte. „Er möchte,“ sagte er, „daß sich die Könige demütig von jenen tonsurierten Schurken abmeucheln lassen, wie das liebe Federvieh. Ich sprach ganz unverblümt. Jeder andre wäre schamrot geworden ob des schmählichen Schutzes, den er jenen Ver<122>brechern gewährt. Aber diese Leute haben eine Stirn, die nie errötet. Sie halten sich für gotterfüllt und unfehlbar.“ — „Sie müssen wohl gotterfüllt sein,“ entgegnete ich, „sonst wäre solche Torheit und so schmähliches Betragen unentschuldbar. Ach, wie fromm sind unsre Gelehrten, und wie heilig sind ihre Sitten! Nie verlassen sie den Weg der reinen Tugend. Darum sind sie auch von nichts erfüllt als von dieser reinen Tugend, die im unsterblichen, glückseligen Schoße des Tien entsteht.“ — „Verlieren wir die Zeit nicht mit Worten“, sagte mein Portugiese. „Heute findet im großen Tempel eine Zeremonie statt, die Ihre Aufmerksamkeit verdient.“ — „Eine Zeremonie,“ rief ich, „und warum?“ — „Der große Lama“, erwiderte jener, „wird dabei mitwirken. Kommen Sie hin! Wir wollen in den Tempel gehen und zuschauen.“

Wir brachen sogleich auf und fanden eine ungeheure Voltsmasse vor jenem prachtvollen Gebäude versammelt. Nur mit Mühe bahnten wir uns einen Weg durch die Menge. Da mein Portugiese jedoch der Abgesandte eines großen Königs war, so machte man ihm Platz, und ich schlich hinterdrein. So kamen wir bis zu einer Stelle in der Kirche, von der man die Zeremonie aus der Nähe sehen konnte. Ich wich meinem Portugiesen nicht von der Seite, um jemand zu haben, der mir den Vorgang erklären tonnte. Zunächst machte ein großer Haufe von Bonzen wie gewöhnlich Götter. Dann erschien der große Lama, von seinen Krebsen und einer großen Zahl von Bonzen gefolgt, die große, gespaltene Mühen auf dem Kopfe trugen. Der Lama ist ein Greis von über sechzig Jahren, hat aber scheinbar keine Lust, den Heiligen Geist sobald um die Wahl seines Nachfolgers zu bemühen. Er setzte sich majestätisch unter einen prächtigen Thronhimmel, den man für ihn aufgebaut hatte. Dann überreichte ihm einer der Bonzen mit gespaltener Mütze einen Hut und einen Degen.

„Was bedeutet das?“ fragte ich meinen Portugiesen. — „Er soll Hut und Degen weihen“, antwortete jener. —„Und warum das?“ —„Sie sind für einen großen Feldherrn122-1 bestimmt, der einen der ketzerischen Fürsten bekriegt, die dem Lama nicht unterworfen sind.“ — „Aber“, wandte ich ein, „man sagte mir doch, der Lama sei der Vater aller Christen? Auch soll er ja ein Diener des Friedens sein. Wie kann er dann den Rasenden, die sich bekriegen, Waffen in die Hände drücken?“ — „Allerdings kann er das,“ erwiderte der Portugiese, „denn die wahren Feinde jenes ketzerischen Königs haben dem Lama eingeredet, sie wollten die Ketzerei ausrotten und alle verirrten Völker in den Schoß der Kirche zurückführen. Überdies verdankt er den Feinden des Ketzers seine Erhebung auf den Papstthron, und so muß er ihnen wohl seine Dankbarkeit beweisen. Deshalb weiht er den Degen. Überdies hat er eine Art von Kreuzzug gegen den Ketzer gepredigt und zwingt alle Bonzen, die mit dessen Feinde, dem sogenannten Kaiser, zu tun haben, diesem einen Tribut zu zahlen, den man sonst nur für den Türkenkrieg erhebt.“

<123>

Unterdessen sah ich, wie der Lama ganz leise ein paar Worte murmelte und etliche hieroglyphische Zeichen machte, von denen ich nichts verstehen konnte. Dann nahm er einen Weihwedel, tauchte ihn in ein Wasserbecken und besprengte damit Hut und Degen. „Was ist das?“ fragte ich. — „Weihwasser“, entgegnete der Portugiese. „Das ist Wasser, mit etwas Salz und heiligem öle gemischt. Sobald Hut und Degen damit besprengt sind, bekommen sie ihren ganzen Wert und werden dem Feldherrn, der sie erhält, Weisheit, Glück und Sieg verleihen.“ — „Ach!“ rief ich aus, „warum hatten wir nicht solche Hüte und Degen, als die Tartaren unser Land eroberten! Der Feldherr wird also alles unterjochen?“ — „So hofft er“, sagte der andre. — „Aber wozu wird dieser Krieg denn geführt?“ fragte ich weiter. Er entgegnete: „Damit eine Nachbarmacht von Portugal einen Fisch fangen kann, den man in Amerika Stockfisch nennt, wird ein Fürst des Nordens bekriegt123-1“ — „Das ist aber doch unbegreiflich“, wandte ich ein. — „Die Erklärung des Zusammenhangs würde zu weit führen“, entgegnete jener. „Aber wissen Sie nicht, daß man Leute, die Kopfweh haben, an den Füßen zur Ader läßt?“ — „Und was haben Kopf und Füße mit der Politik zu tun? Halten Sie mich nicht zum besten, weil ich ein Chinese bin.“

Während wir so hin und her stritten, hatte der große Lama sich zurückgezogen. Wir ergingen uns noch in dem Tempel, um seine Schönheiten zu betrachten. Er ist zweifellos das schönste Denkmal des menschlichen Kunstfleißes. Während der Portugiese mich alle Einzelheiten bewundern ließ, trat ein Bonze, den er kannte, auf ihn zu und fragte ihn, wer ich sei. Als er erfuhr, daß ich ein Chinese wäre, musterte er mich aufmerksam und sagte mehrfach: „Er sieht fürwahr recht chinesisch aus.“ Da er aber merkte, daß ich etwas Italienisch verstand — ich habe es von den jesuitischen Geometern Deiner Herrlichkeit gelernt —, so sprach er mich an und fragte mich, ob ich getauft sei. Ich erwiderte, ich hätte nicht die Ehre. Dann fragte er weiter, ob ich nicht vielleicht Lust dazu hätte. „Nach allem, was ich gesehen und gehört habe,“ erwiderte ich, „weniger denn je.“ — „Ach, da sind Sie zu beklagen, mein lieber Herr“, erwiderte er. „Schade drum, aber Sie werden verdammt werden. Gottes Gnade hat Sie an die Stätte geführt, wo sie sich auf Sie ergießen könnte. Sie widerstehen ihr; Ihr Irrtum ist gewollt. Sie werden verdammt, mein Herr, verdammt!“ Ich gestattete mir die Frage, ob er glaubte, daß Konfutse das gleiche Schicksal erleiden würde. „Kann man daran zweifeln?“ entgegnete der Bonze. — „Ach!“ rief ich, „lieber will ich mit ihm verdammt sein, als mit Ihnen gerettet werden.“ Und wir trennten uns.

Du siehst, erhabner Kaiser, wie anders alle Dinge in Europa und in Asien sind. Religion, Regierung, Sitten und Politik, alles überrascht mich. Vieles erscheint<124> mir unbegreiflich. Noch kann ich nicht entscheiden, ob meine Einsicht zu beschränkt ist, oder ob sich in die hiesigen Gebräuche wirklich soviel Wunderliches mischt, das aber den Leuten nicht mehr lächerlich vorkommt, weil sie daran gewöhnt sind. Der Hauptunterschied zwischen dem Denken der Europäer und dem unsren besteht darin, daß sie sich oft rückhaltlos ihrer Einbildungskraft überlassen, die sie für Vernunft halten, während die, welche das Glück haben, als Deine Sklaven geboren zu sein, den Grundsätzen des gesunden Menschenverstandes und der Weisheit unverbrüchlich treu sind.

6. Brief.

Der Bonze, der mich taufen wollte und mich noch gestern verdammte, hat mich aufgesucht. Er hatte sich die Sache überlegt und, wie ich merkte, sich irgend ein neues Mittel ausgedacht, das ihn noch auf meine Bekehrung hoffen ließ. Er schlug mir vor, die Bekanntschaft eines jener Bonzen mit gespaltener Mütze zu machen, der dem großen Lama den Sprengwedel gereicht hatte. Ich ging in sein Haus und wurde mit jenen Förmlichkeiten aufgenommen, die die Italiener punti^Iio nennen und von denen wir Chinesen zum Glück nichts verstehen. Nach mehreren Fragen über mein Land, die mehr Verachtung und Unwissenheit als Höflichkeit und Kenntnisse durchblicken ließen, begann der Magier sich über die Größe seines Volkes zu ergehen und erzählte mir lang und breit, früher wären die Italiener die Eroberer der Welt ge, wesen, aber auch jetzt, obwohl sie Priester geworden seien, verzichteten sie nicht auf die Weltherrschaft. Ich konnte nicht umhin, ihm zu erwidern, es wäre gut, daß er mir sagte, die Italiener seien einst Eroberer gewesen; denn jetzt fiele es einem schwer, das zu vermuten. Darauf hielt er eine lange Rede, mit der er mir untrüglich beweisen wollte, daß die Großtaten der Römer nichts gewesen seien, weU ihnen, wie er sich ausdrückte, die Gnade fehlte. Sie selbst aber seien den Römern weit über, legen; denn sie besäßen die Gnade, die Liebe Gottes, und beherrschten Europa durch eine Art Blitzstrahl, wie sie das Wort nennen, und durch etwas, das sie als Bann bezeichnen und das die Könige niederschmettert, wenn sie sie damit bedrohen. Ich<125> erwiderte ihm, der Vorzug der modernen Römer vor den alten schiene mir zwar sehr schön; wenn aber alles, was er mir von jenem Eroberervolk erzählte, wahr wäre, könnte ich nicht umhin, zu gestehen, daß sie sehr heruntergekommen seien, und daß ich die Lorbeeren der alten Römer ihren modernen Tonsuren vorzöge. „Ha, Gott, loser!“ schrie er, „ich sehe wohl, Sie haben keinen Sinn für die himmlischen Dinge. Sie werden stets nur ein Chinese bleiben, ein Blinder, der bloß in Fleisch und Blut wandelt.“ — „Ein Chinese zu sein,“ entgegnete ich, „das rechne ich mir zur Ehre an. Aber blind — das ist was andres. Ich wette, Sie wären sehr erbost, wenn Ihr Volk so scharfe Äuglein hätte wie ich.“ — „Nur kein Zorn, lieber Phihihu“, er, widerte er. „Sie haben Augen, um die sinnlichen Dinge wahrzunehmen. Aber Ihre Seele, die sich nicht zu erheben vermag, hat keine Augen, um die geistigen Dinge zu sehen.“ — „Ach,“ entgegnete ich, „Sie Bonze, stolz auf den falschen Schein, den Sie in Ihren Schulen gelernt haben, lernen Sie den göttlichen Konfutse verstehen und Sie werden einsehen, daß seine Anhänger alle geistigen Dinge zu erfassen vermögen, die der Einsicht der schwachen Sterblichen erschlossen sind.“ — „Wie!“ rief er, „legen Ihre Brahmanen denn das Keuschheitsgelübde ab, wie wir?“ — „Wenn sie es auch nicht ablegen,“ erwiderte ich, „so leben sie doch ungefähr danach. In dieser prächtigen Stadt aber trifft man an jeder Ecke Bastarde von Kardinalen oder Bischöfen. Wozu nützen solche Keuschheitsgelübde? Aber selbst wenn Sie sie getreulich erfüllen — will der Tien denn Eunuchen zu Dienern haben und hat er uns mit unnützen Gliedern erschaffen?“ Daraufhin pries er mir die Werke eines gewissen Origenes, der die Vollkommenheit, wie er sagte, so weit getrieben hätte, daß er sich freiwillig des Gliedes beraubte, das ihn zur geringsten Unkeuschheit hätte ver, leiten können. „Wie gut täte man, Sie ebenso zu behandeln“, entgegnete ich. „Denn nichts ist frecher, als sich mit Vorzügen zu brüsten, die man so ganz und gar nicht besitzt.“ Das mißfiel ihm sehr. „Nein,“ sagte er, „wir haben Kastraten nur, um das Lob des Tien in unsren Kirchen zu singen, aber wir hüten uns wohl, uns selbst zu verstümmeln; denn ohne Versuchung gibt es kein Verdienst und ohne Kampf keinen Sieg.“ Ich konnte nicht umhin, ihm zu erwidern, daß hunderttausend Bastarde ihn und seinesgleichen nicht so hassenswert machten, wie so viele andre Verbrechen, die der Bonzenhaufe vollbrächte und die sein Lama so frech guthieße. Ob er mich nun weniger bestimmbar fand, als er gemeint hatte, jedenfalls merkte ich, daß seine Miene sich verfinsterte. Indes machte er noch einen letzten Versuch, indem er mich auf das hohe Alter seiner Kirche verwies. Ich entgegnete ihm mit den Worten meines portugiesischen Juden, die jüdische Religion wäre älter als die, deren Alter er rühmte, und ich könnte ihm zudem versichern, daß die Religion unsrer Gelehrten noch weit über die jüdische hinausreichte.

Die Unterhaltung wurde schleppend, und ich zog mich schließlich ganz sacht zurück. Mein Portugiese suchte mich auf und entdeckte mir, man hätte große Lust gehabt, mich zu taufen. Der Prälat, bei dem ich gewesen war, hätte gehofft, sich durch meine<126> Bekehrung einen Namen zu machen, und sei im Grunde seines Herzens tiefbetrübt, daß es ihm nicht gelungen wäre.

O erhabner Kaiser! Siehe, was mir in Deinen Diensten schon alles gedroht hat! Eines Bockes wegen sollte ich in Konsiantinopel gesteinigt, in Rom von der Inquisition verbrannt und, was das Schlimmste ist, hier getauft werden, da ich gerade abreisen will. Ich gedenke Rom in wenigen Tagen zu verlassen und mich nach einem Königreich Frankreich zu wenden, wo schöne Dinge zu sehen sein sollen. Von da will ich durch Spanien, England und Deutschland reisen und alsdann nach Konstantinopel zurückkehren, um Dir alles Merkwürdige zu vermelden, was ich auf einer so langen Fahrt beobachtet habe.

<127>

Schreiben Nicolinis an Franculoni, Prokurator von San Marco127-1

Aus dem Italienischen.

Konstantinopel, den 16. August 1769.

Seit unsrer Ankunft in Konsiantinopel waren wir mehreren recht peinlichen Szenen ausgesetzt. Die asiatischen Truppen, die auf dem Marsche nach der Donau durch die Hauptstadt rücken, meutern häufig, und bei dieser Art von Empörungen sind namentlich die Fremden allerlei Mißhandlungen ausgesetzt127-2. Die Regierung ist ohnmächtig, die zügellose Wildheit dieser barbarischen Horden zu unterdrücken, und oft geht es um Tod und Leben, wenn man ihnen zu seinem Unglück in den Weg kommt.

Dieser Tage schickte mich der Herr Botschafter in Geschäften zum Dragoman der Pforte. Nachdem wir das Geschäftliche erledigt hatten, kam das Gespräch unwillkürlich auf die Mißhandlungen, denen die Fremden in Konsiantinopel ausgesetzt sind. Auf meine Beschwerden antwortete der Dragoman: „Sie würden das weniger befremdlich finden, wenn Sie den Grund für die Erbitterung des Volkes kennten. Das Publikum ist nämlich überzeugt, daß wir mit den Moskowitern nur auf Anstiften eines großen europäischen Königs127-3 Krieg führen. Man flüstert sich ins Ohr, jener König habe beträchtliche Summen im Diwan ausgeteilt, um den Ausbruch dieses unseligen Krieges zu beschleunigen. Das Volk hält nun alle Fremden für Angehörige der Nation, der es an all seinem Unglück schuld gibt, und will sich an ihnen für das Waffenglück der Moskowiter rächen. Auch läuft ein dumpfes Gerücht um, selbst der<128> Papst mische sich in unsre Angelegenheiten, schüre das Feuer und habe an den Mufti der Hohen Pforte geschrieben, er solle uns zu unsrem Kriegszug ermuntern.“

„Unmöglich!“ rief ich aus. „Wäre es wohl im geringsten wahrscheinlich, daß der Heilige Stuhl sich mit dem Oberhaupt der mohammedanischen Sekte einlassen sollte? Wie Sie wissen, haben die Päpste den Türken jederzeit die Ehre angetan, sie von Herzensgrund zu hassen. Ein so eingewurzelter Haß erlischt nicht so rasch. Und dann wissen Sie doch, wie empfindlich der römische Hof in dem sogenannten puntiglio128-1 ist, und wie peinlich er auf das Zeremoniell hält, das er im Verkehr mit andren Mächten beobachtet. Wie könnte also ein Papst sich über den alten Brauch hinwegsetzen und die unermeßliche Kluft überspringen, die zwischen der abgründigen, zur Schau getragenen Verachtung der Päpste gegen die Muselmanen und einem freundschaftlichen Verkehr zwischen zwei so wenig übereinstimmenden Personen gähnt?“

„Die Herrscher“, erwiderte jener, „wissen den Mantel nach jedem Winde zu drehen. Sobald ihr Vorteil im Spiel ist, beugen sie die Formeln nach ihrem Willen; und nach den mancherlei Vorfällen der siebzehn Jahrhunderte, von denen wir genaue geschichtliche Kenntnis haben, darf ein gescheiter Mann nichts für unmöglich halten. Zur Abkürzung des Streites will ich Ihnen jedoch gestehen, daß ich das fragliche Schreiben des Papstes in Händen habe und es Ihnen sogar zeigen kann.“

Ich bat ihn um diese Gefälligkeit. Nun las er es mir vor und gestattete mir sogar, eine Abschrift zu nehmen. Bei dieser Lektüre fiel ich auf den Rücken und brauchte geraume Zeit, um mich von meiner Bestürzung zu erholen.

Anbei sende ich Ihnen den seltsamen Brief128-2, der Ihre ganze Neugier zu erregen verdient. Jetzt zweifle ich an nichts mehr! Wenn nur der Heilige Vater sich nicht eines Tages beschneiden läßt und den Gläubigen ein gleiches befiehlt! Nach den sieben Sakramenten, die wir schon haben, wäre dies das achte. Freilich war Christus beschnitten, aber es wäre doch arg, wenn man es zu unsrer Zeit würde! Doch Scherz beiseite! Ich überlasse den Brief des Papstes Ihrem eignen einsichtsvollen Nach, denken und bitte Sie nur, mein Vertrauen aufIhre Diskretion nicht zu mißbrauchen.

In aufrichtigster Freundschaft verbleibe ich Ihr untertänigster und gehorsamster Diener N i c o l i n i.

<129>

Breve des Papstes Klemens XIV. an den Mufti Osman Molla

Aus dem Lateinischen.

Klemens XIV., Papst, entbietet Unserem lieben Vetter in Abraham, Osman Molla, Mufti der Hohen Pforte, seinen Gruß



Unser lieber Vetter in Abraham!

Wir Euch nicht unsren lieben Sohn in Christo nennen können, wiewohl Ihr beschnitten und ungetauft seid, wiewohl Ihr Mohammed dem heiligen Petrus vorzieht, danken Wir Euch und dem ganzen erhabenen Kollegium der Imams doch nicht minder für den Beistand, den Ihr Uns durch Euer Fetwa wider die Gottlosen geleistet, die sich zu Feinden der römisch-katholischen apostolischen Religion auf, geworfen haben. Gottes Wege sind nicht die Wege der Menschen. Es hat Gott gefallen, durch den Arm der Muselmanen den Glauben der Apostel zu unterstützen. Darum segnen Wir mit Unsrem wirksamen Segen die Fahne des Propheten, die, vor Euren unüberwindlichen Ianitscharen wehend, Unsre geliebten Söhne, die Bischöfe von Polen, befreien wird von jenem Auswurf der Hölle, jenen verstockten Ketzern, jenen abscheulichen Dissidenten, die man vom Erdboden ausrotten sollte mitsamt ihren Beschützern, den schismatischen Russen129-1, die so unverschämt sind, den Heiligen Geist nicht so ausgehen zu lassen, wie es die Kirche zu bestimmen für gut fand129-2. Mit frommem und heiligem Haß hassen wir alle, die nicht so denken wie wir. Unzweifelhaft war Euer großer Prophet der gleichen Gesinnung; und hätte er unsre Feinde gekannt, er hätte sie von seinem schmalen Steg129-3 herab derb in den Abgrund gestürzt.

Ach, lieber Vetter! Wenn wir uns gut auf unsren Vorteil verstehen, so müssen wir, als Leute vom Handwerk, uns gegenwärtig enger denn je verbinden, um uns<130> durch gemeinschaftliche Bemühungen aufrechtzuerhalten und unser Ansehen gegenseitig zu befestigen. Unsren Händen ist das Schwert anvertraut. Gottes Sache ist unsre Sache, oder wenn Ihr wollt, ist unsre Sache die seinige, und es ist doch schön, einen allmächtigen Gott zu rächen! Ich, sein Statthalter, und Ihr, ich weiß nicht was, wir beide stellen ihn in den Ländern dar, wo Gewohnheit, Lehre und Ansehen uns die Herrschaft geben. So wollen Wir denn gut muselmanisch und Ihr gut katholisch zu sein trachten, um unsre Kräfte gegen Die zu vereinigen, die uns mißfallen oder die des lange getragenen Joches müde sind und es abwerfen wollen. Blinder Gehorsam artet in den Geist des Aufruhrs aus. Die gottlose Vernunft wagt sich dreist an die Prüfung dessen, was sie in Einfalt anbeten sollte, und um das Unglück voll zu machen, unterstehen sich die Menschen, selbst zu denken, statt wie in der guten alten Zeit ihre Gedanken nach Unsren heiligen Befehlen zu richten. Ihr, edler Mufti, habt Omars großes Schisma130-1 und die neuen Sekten zu bekämpfen, die gleich der Hydra ihre immer neu erstehenden Köpfe wider den Koran Eures großen Propheten erheben. Wir haben aufrührerische Söhne, die Uns verfolgen, die Uns taub gemacht haben, damit Wir sie nicht hören, und stumm, damit Wir ihnen nicht antworten müssen. Wenn wir uns zusammentun, so werdet Ihr Unsre Exkommunikationen mit Euren tapfern Ianitscharen unterstützen, Wir aber werden von Unsrem Heiligen Stuhl das Anathema gegen Eure Omaristen herabdonnern. Möge der barmherzige Gott alle, die nicht so denken wie wir, zum Heil ihrer Seelen ausrotten, die Schismatiker, die Ketzer, die Omarisien und nicht zu vergessen die Philosophen, eine Sekte, die noch verkehrter, ungläubiger und vernünftelnder ist als alle andern. Wir können nicht umhin, Euren großen Propheten zu preisen, daß er so weise war, bei Euch Mohammedanern für heilige und fromme Unwissenheit in allen Dingen zu sorgen. Einer Unsrer Vorgänger, Leo X., war weniger weise und bei weitem unbesonnener. Er beschützte die abscheulichen Wissenschaften, die die Menschen aufklären und ihnen den Geist des Schwindels und der Unabhängigkeit einsflößen, dessen verderbliche Fortschritte den Altar untergraben, indem sie Unsren Thron erschüttern. Ach! Warum sind die Christen im Punkte der Unwissenheit keine Muselmanen!

Ihr sehet, Unser Vetter in Abraham, wir kommen Euch näher; wir wünschen so unwissend zu sein wie Ihr. Warum sollte die Hohe Pforte nicht an die dreißig KonzUe annehmen? Sie würden im Verein mit dem Koran und der gottseligen Unwissenheit, in der Ihr verharrt, alle Muselmanen der unendlichen Herrlichkeit der HeUigen würdig machen, die mit Abraham, Isaak und Jakob in ungetrübter Seligkeit leben. Jeden Tag werfe ich mich nieder vor dem Gott Abrahams, der auch der Eure ist, und stehe ihn mit Tränen und Zerknirschung an, Euren Geist und Euer<131> Herz unsrem Glauben zuzuwenden und Euch aufzunehmen in seine HeUige Herde. Aber die Wege seiner Vorsehung sind unsren Augen verborgen. Eure Stunde ist noch nicht gekommen. Bis daß sie erscheint, ftehe ich zu Gott, seinem Sohn und der ganzen Schar der Heiligen, daß sie die unüberwindlichen Heere der Hohen Pforte stärken, segnen und beschirmen. Schon öffnen sich meine Augen. Ja, ich sehe, ich sehe Eure unbezwinglichen Ianitscharen über die Schismatiker, die Ketzer und die Legionen der Hyperboräer triumphieren. Reinigt denn das sarmatische Zion von den Moabitern und Amalekitern, die es entweihen! Setzet unsre heiligen Bischöfe wieder auf ihre verlassenen Stühle131-1 und rächet im Namen Mohammeds den heiligen Petrus, seine Schlüssel, seine Kirche!

O Mufti, bester Mufti, den das osmamsche Reich je gehabt hat! Wir danken Euch nochmals für Euer heiliges Fetwa, das Euren jetzigen Krieg sanktioniert und den großen Bann auf alle Eure Feinde schleudert, die auch die Feinde der Kirche sind. Verlaßt Euch auf Unsre Unfehlbarkeit, wenn wir Euch glücklichen Erfolg weissagen, und vertraut mit fester Hoffnung darauf, daß der Himmel die Wahrheit Unsrer Verheißungen durch furchtbare Niederlagen Eurer Feinde bestätigen wird. Wir schließen Euch, Unser lieber Vetter in Abraham, in Unser väterliches Herz und geben Euch den apostolischen Segen.

Rom, den 4. August, im ersten Jahre Unsres Pontifikats131-2.

<132>

Hirtenbrief Sr. Hochwurden des Bischofs von Aix, worin die gottlosen Werke des p. p. Marquis d'Argens verdammt werden und auf seine Verbannung aus dem Königreiche erkannt wird (1766)132-1

Johann Baptist Antonius de Brancas, durch Gottes Barmherzigkeit und die Gnade des Heiligen Stuhles Bischof von Aix, entbietet Heil und Segen allen Gläubigen unsrer Diözese.

Christus, liebe Brüder, hat gesagt: „Es werden sich unter Euch erheben falsche Christi und Propheten; denen sollt Ihr nicht glauben.“132-2 Der große Apostel der Heiden sagt an andrer Stelle: „In den letzten Zeiten wird Gott kräftige Irrtümer senden, die die Gemeinde verführen.“132-3 Dünkt es Euch nicht, liebe Brüder, daß wir in dem Jahrhundert leben, das die Heilige Schrift so deutlich bezeichnet? Geht diese unselige Weissagung in unsren Tagen nicht offenbar in Erfüllung? Ich brauche Euch nicht erst zu erklären, welchen Sinn erleuchtete Schriftsteller den Worten falsche Propheten, falsche Christi, kräftige Irrtümer zuschreiben. Es sind jene reißen, den Wölfe, die mit blutdürstigen Zähnen in den Schafstall des Herrn einbrechen wollen. Es sind jene verderbten Seelen, jene Geister der Finsternis, die ihren traurigen Trost darin finden, sich Genossen bei den unaussprechlichen Qualen zu werben, die sie selbst leiden. Sie zeigen sich unter verschiedenen Namen und Bezeichnungen: strenge Mathematiker, die mit ihrem Zirkel die Welt ausgemessen haben wollen und unsre heiligen Lehren ihren eitlen Formeln und Wahrscheinlichkeitsrechnungen unterwerfen möchten, dreiste Enzyklopädisten, die alle Tiefe des Geistes verloren haben,<133> weil sie seine Oberfläche zu weit ausdehnten, philosophische Schwärmer, die die Kirche frech beschimpfen, um den Beifall der Ungläubigen und Gottlosen zu ernten. Das, meine Freunde, sind die gefährlichen Feinde, die uns bedrohen!

In früheren Zeiten widerstanden fromme Monarchen den Werkzeugen, mit denen der Böse die Menschen verdirbt, und bestraften sie sireng. In den Städten waren heilige Blutgerüste errichtet, auf denen die Feinde Gottes den gerechten Lohn ihrer Auflehnung empfingen. Seit aber ein unseliger und verdammenswerter Geist der Toleranz oder besser der Lauheit im Rate der Fürsten herrscht, ersieht die Ketzerei aus ihrer Asche auf. Irrtümer werden verbreitet, Gottesleugner kommen zu Ansehen, und der wahre Gottesdienst geht zugrunde und verschwindet. Da der Unglaube durch nichts mehr gezügelt wird, so erhebt er, von Hochmut geschwollen, die freche Stirn und untergräbt schon ganz offen die Grundmauern unsrer Tempel und Altäre. Es scheint, als machten die verbündeten Mächte der Hölle ihre letzte Anstrengung, um den Thron des fieckenlosen Lammes zu stürzen und zu zerstören.

Und welcher Waffen bedient sich der Feind des Menschengeschlechts im Kampf gegen uns? Der Vernunft. Ja, der Vernunft, liebe Brüder. Sie setzen die menschliche Vernunft der göttlichen Offenbarung entgegen, die Weisheit der Philosophie der Torheit des Kreuzes, Lehrsätze des Verstandes den Offenbarungen, physikalische Entdeckungen den erhabenen Wundern, ihre abgefeimte Bosheit der evangelischen Einfalt und ihre Eigenliebe der priesterlichen Demut. Ein Schwindelgeist hat sie ergriffen, also daß G otteslästerungen in ihrem Munde zu Scherzen werden, daß die göttlichen Mysterien, auf jede Weise angegriffen, als widersinnig erwiesen und lächerlich gemacht werden.

Aber der Ewige hält in seiner Hand noch den Blitz, mit dem er die aufrührerischen Engel in den Abgrund der Qualen stürzte. Er ist bereit> die gleichen Pfeile mit rächender Hand gegen jene zu schleudern. Was sage ich, liebe Brüder? Er hat sie schon gegen uns geschleudert. Betrachtet die Fülle der Plagen, die er auf unsre Häupter herabsendet. Erinnert Euch der Verwüstungen jenes wilden Tieres, dessen gierige Kehle unaufhörlich Menschenblut schlürfte und dessen Raserei nur die Entvölkerung unsrer Provinz zu stillen vermöchte. Ja, das Ungeheuer hatte nicht genug daran, seine Wut an den Landbewohnern auszulassen; es trieb auch unsre Verteidiger in die Flucht, jene Helden, jene Dragoner, deren Ruhm bis ins Herz von Deutschland und in die fernen Länder gedrungen ist, in die wir unsre Waffen getragen haben. Ach, liebe Brüder, ist das Zeichen Gottes Euch noch zweifelhaft? Zeigt es Euch nicht, daß Ihr den Feind Eures HeUs in Eure Häuser und an Euren Herd aufgenommen habt?

Aber Gott läßt es nicht bei diesen handgreiflichen Warnungen bewenden. Er stört den Lauf der Natur, kehrt die Ordnung der Jahreszeiten um, schickt uns hyperboräische Winde, die unsre Felder ausdörren und unsre Flüsse gefrieren lassen. Die Rhone vereist. Die Kälte erstarrt und verstümmelt die Glieder der unglücklichen Wanderer, und die verdünnte Luft, in der man nicht mehr atmen kann, läßt sie ersticken. Angesichts dieser schrecklichen Schauspiele wird unser Innerstes von Mitleid<134> gegen unsre Brüder ergriffen, und gerechte Furcht läßt uns für uns selbst das gleiche unselige Schicksal befürchten. Aber das ist noch nicht alles! Die bisher blühenden Hügel, deren dankbaren Boden fleißige Hände bestellten, die Weinberge und Ölbäume, der Quell und die Ursache unsres Wohlstands, sind von der rauhen Witterung zerstört und fortan unfruchtbar, wie der Feigenbaum im Evangelium, der verflucht ward, keine Früchte zu tragen.

Das sind die starken Zeichen, die der Ewige sendet, um den Völkern seinen göttlichen Willen kundzutun. Ein wildes Tier, das die Menschen verschlingt, das ist der Feind Eures Heils, der Eure Seelen in ewiges Verderben zu stürzen sucht. Strenger Frost, der die Glieder erstarren läßt und Elende ins Grab wirft, das sind die Werke der Ungläubigen, durch die der Glaube der Frommen erkaltet, erstarrt und erlischt. Die verdorrten Ölbäume, das sind die Unglücklichen, die vom Irrtum verderbt, keine Früchte der Gerechtigkeit und Helligkeit mehr tragen werden.

Daß doch der Schleier, der Eure Augen bedeckt, abfiele und zerrisse! Hephata, daß der Blinde wieder sehe134-1! Wisset, liebe Brüder, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zürnt Euch, wie er einst seinem Volke gezürnt hat, da die Stadt seines Tempels entweiht ward und verruchte Greuel an der heiligen Stätte herrschten. Ja, solche Greuel sind auch mitten unter uns. Der Gifthauch eines Ungeheuers verpestet unsre reine Luft; er erregt den Zorn Gottes und lenkt ihn auf uns. Wie der gottlose Ahab alle Geißeln, die ihn trafen, auf sein Geschlecht brachte, so bringt dieser Höllenbrand alle Plagen auf uns. Ein Mensch ist gekommen, mit unendlicher Geschmeidigkeit des Geistes und tiefer Boshaftigkeit, die durch die Philosophie noch listiger ward. Durch hartnäckigen Unglauben und mit Hilfe eines verführerischen Geistes hat er sich zum Feinde der Sache Gottes aufgeworfen. Wie ein neuer Proteus verwandelt er sich und nimmt immerfort neue Gestalt an. Bald als Jude, bald als Chinese, bald wie ein Eingeweihter der Kabbala, speit er seine schrecklichen Gotteslästerungen aus. Dann läßt er unter der Maske eines Kommentators den Okellos und Timäus von Lokri anstößige Dinge sagen und schreiben, an die sie niemals gedacht haben134-2. Eben dieser Mensch ist jetzt von den nordischen Ländern ausgespieen, aus dem tiefsten Preußen, wo Unglaube und Afterphilosophie ihren Sitz aufgeschlagen haben. Er ist mitten unter uns und spannt gleich dem Feinde des Menschengeschlechts allerorten seine Netze, auf daß seine Beute in die Schlingen falle, die er ihr gestellt hat.

Gott sprach zu seinem Volke: „Brechet jeden Bund mit den Gottlosen, oder ich breche meinen Bund mit Euch und Euren Kindern. Rottet die Tempelschänder und<135> Abgöttischen aus“ (d. h. die Philosophen). Die gleichen Worte richte ich an Euch, liebe Brüder. Duldet den Feind des Heiles nicht unter Euch! Laßt ferne Länder sein zwischen Euch und dem, der Euren Glauben untergraben will! Mauern sollen Euch trennen von dem Gefährten Belials, von dem Bruder des Geistes der Finsternis, dem Sohne Luzifers, der in den Abgründen der Qualen brüllt, und von den Leiden, die er den Kindern der Kirche zufügen kann. Oder besser: waffnet Eure Arme wie jene tapfren Leviten, die heiligen Mörder, die ihre Brüder in der Wüste erschlugen! Reinigt die Schlösser d'Argens und Eguilles vom Anblick des Unreinen, der sie besudelt! Rottet aus der Zahl der Lebenden jenen Geist aus, der sich gegen die Kirche empört. Ihr sollt für die Kirche kämpfen! Streiter des lebendigen Gottes, Ihr sollt seine Sache schützen! Dann wird dies glückliche Land wieder schöne Tage sehen, die Ungeheuer werden verschwinden, die Jahreszeiten ihren rechten Gang gehen, und dies geliebte Volk, mit dem Schilde des Glaubens bewehrt, wird geschützt sein vor den vergifteten Pfeilen, die der Unglaube zu seinem Verderben abschießt. Das Opfer eines Strafwürdigen wird den Zorn des Himmels besänftigen. Nach diesem heiligen und heilbringenden Gericht werden wir mit dem Ewigen wieder versöhnt sein und ihm Loblieder singen in der Einfalt unsres Herzens und dem frommen Unverstand unsres Geistes. Dann können wir in vollkommener Blindheit seine unfaßlichen Geheimnisse im Geist und im Glauben anbeten. Die wilden Tiere werden vor unsrem Eifer zurückweichen; die Hyänen werden vom Weihwasser verscheucht werden. Unser lebendiger und brünstiger Glaube wird den Winter mildern, Berge versetzen und unsre Ölbäume wieder ausschlagen lassen. Schon räumen die kalten Nordwinde dem sanften Zephyr das Feld. Die Bäume grünen, und ihr stolzer Wipfel bedeckt sich mit Früchten. Die Verheißungen, die der Ewige seinen Kindern gibt, gehen schon in Erfüllung. Er wird Euch mit seinen Gaben überschütten. Eure Keller werden voller Öl und Eure Kelter voll Wein sein. Ihr werdet das Fleisch Eurer Feinde essen, und Eure zahlreichen Kinder werden Euren Tisch umgeben wie die zarten Weinreben, die in unsren fruchtbaren Gefilden sich zu Lauben zusammenschließen.

Zuletzt, liebe Brüder, beschwöre ich Euch bei der tiefsten Barmherzigkeit Gottes, mit Eifer und frommer Tatkraft zur Verfolgung des Gottlosen zu schreiten, dessen Ausrottung das Ende unsrer Plagen und den Segen des Himmels herbeiführen wird. Die Kirche ist ein unerschütterlicher Fels, an dem sich die Wogen des Irrtums ohnmächtig brechen. Klammert Euch, liebe Brüder, an diesen Fels, diese sichre Freistatt, und Euer siegreicher Glaube wird die verwegene Philosophie und die hoffärtige Vernunft zu seinen Füßen hingestreckt sehen.

Ihr seid unsre Herde und wir Euer Hirt. Als solcher haben wir die Pflicht, Euch zu warnen und Euch die Werke der Ungerechtigkeit anzuzeigen, die sich verbreiten, die schwarzen Dünste, die aus dem Pfuhl des Abgrunds aufsteigen und Verderben und ewigen Tod hauchen. Darum verbieten wir jedermann in unsrer Diözese bei<136> gesetzlicher Strafe das Lesen und Besitzen folgender Bücher: „Jüdische, chinesische, kabbalistische Briefe“, „Philosophie des gesunden Menschenverstandes“, „Kommentar zu Okellos und Timäus von Lokri“, „Leben des Kaisers Julian“, welche Bücher durch Männer von erprobter Frömmigkeit geprüft und allenthalben voll falscher und ketzerischer Behauptungen befunden worden sind, die fromme Ohren beleidigen und anstößig und gotteslästerlich sind. Den Verfasser tun wir in den Bann zur Rotte Korahs, Dathans und Abirams136-1 und wollen, daß dieser Hirtenbrief in den Kirchen der Städte und Vorstädte unsrer Diözese bei der Predigt in den Parochialmessen verlesen wird.

Gegeben zu Aix in Unsrem bischöflichen Paläste, am 15. März 1766.

Antonius de Brancas,
Bischof von Provence.

<137>

Apostolischer und theologischer Kommentar zu den heiligen Prophezeiungen des heiligen Verfassers von „Blaubart“ (1779)137-1

Vorrede des Bischofs von Puy137-2

Welt soll erfahren, daß unter den Papieren des hochseligen Dom Calmet137-3 kürzlich ein theologischer Kommentar zu „Blaubart“, einem ebenso nützlichen wie erbaulichen Werke, entdeckt worden ist. Man hatte seinerzeit gezögert, ihn mit den übrigen Werken des gelehrten Benediktiners zu veröffentlichen, da Dr. Tamponnet137-4 und andre Mitglieder der Sorbonne mit anstößiger Halsstarrigkeit darauf beharrten, daß „Blaubart“ kein kanonisches Wert sei. Aber der Erzbischof von Paris, dessen umfassende Gelehrsamkeit bekannt ist, Kardinal Rohan, der für einen der ersten Theologen des Königreichs gilt, der Bischof von Belan137-5, der sich durch seinen Eifer hervortut, die Bischöfe von Montpellier und von Tours, kurz alle Häupter unsres Klerus haben bewiesen, daß „Blaubart“ nicht zu den Apokryphen gehört. Daraus entstand ein<138> Streit von hervorragender Gelehrsamkeit. Die Verteidiger von „Blaubart“ stützten sich auf Erasmus, der das Werk in seinem unvergleichlichen „Lob der Narrheit“ erwähnt, auf den heiligen Athanasius, der Stücke daraus in seinem Streit mit den Arianern zitiert, auf den heiligen Basilius, der es streng rechtgläubig findet, auf den heiligen Gregor von Nazianz, der sich in einer an Kaiser Julian gerichteten Verteidigung des Christentums auf die in „Blaubart“ enthaltenen Prophezeiungen stützt, auf den heiligen Johannes Chrysostomos, der aus diesem frommen Buche die schönsten rhetorischen Figuren entnahm, mit denen er seine wundervollen Homilien schmückte. Der fromme Bischof Las Casas138-1 las zu seiner Erbauung täglich einen Abschnitt daraus. „Blaubart“ war das Brevier Papst Alexanders VI. Auch der Kardinal von Lothringen138-2 hielt das Buch für kanonisch. Zählt man die Stimmen, so ergibt sich also, daß die Zahl derer, die „Blaubart“ für ein prophetisches und von Gott inspiriertes Buch erklären, weit größer ist als die Zahl derer, die es anzweifeln.

Von seinem Ursprung ist so viel bekannt: „Blaubart“ erschien in Alexandria mit der Septuaginta-Übersetzung des Pentateuchs und der übrigen Bücher des Alten Bundes138-3. Während der Babylonischen Gefangenschaft hatten die Israelis ten das Alte Testament verloren, aber die Samariter hatten es bewahrt, mit ihm auch den „Blaubart“. Als das jüdische Volk aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem zurückgekehrt war, sammelten Esra und Nehemia mit größtem Fleiß alles, was sie von den verlorenen kostbaren Schriften aufbringen konnten. Einige Bücher fanden sie wieder, andre stellten sie nach der mündlichen Überlieferung her. Bei ihrer ungeheuren Arbeit und dem Bestreben, ihr Werk rasch zu vollenden, versäumten sie, „Blaubart“ der von ihnen nach besten Kräften wiederhergestellten Sammlung der Heiligen Schriften einzuverleiben. Diese Nachlässigkeit Esras trägt die Hauptschuld an den Zweifeln, die einige Doktoren über die Echtheit des Werkes geäußert haben.

Indes braucht man nur nachzulesen, was der heilige Franz von Assisi darüber schreibt, um auch den letzten Zweifel über „Blaubart“ zu verscheuchen. Der heilige Franz sagt nach strenger Prüfung des Werkes: „Es trägt alle Kennzeichen göttlicher Eingebung. Es ist ein Gleichnis oder vielmehr eine Prophezeiung unsres ganzen Heilswerkes. Ich erkenne den Stil der Propheten wieder, die Anmut des 'Hohenlieds', das Wunderbare des Propheten Jesaias, die männliche Energie Hefekiels, dazu das ganze Pathos des Ieremias. Da sich ferner im hebräischen Original an syrischen Ausdrücken und Wendungen nichts findet, so hat der von Gott inspirierte Verfasser von 'Blaubart' unstreitig<139> lange vor der Babylonischen Gefangenschaft gelebt.“ Der heilige Franz hält ihn sogar für einen Zeitgenossen des Propheten Samuel, was wir aber nicht positiv zu behaupten wagen.

Der Name des Verfassers dieses heiligen Buches ist nicht auf uns gekommen, ein Zeichen seiner großen Bescheidenheit, worin die Schriftsteller dieses Jahrhunderts ihm wenig gleichen. Aber wir kennen doch ebensowenig die Verfasser der Bücher Ruth, Hiob und der Makkabäer. Vielleicht ist unser heUiger Prophet darin Moses vergleichbar, der, wie kein Sterblicher auf der Welt, uns die Geschichte seines Todes und seiner Beerdigung hinterlassen konnte.

Begnügen wir uns indes mit dem, was unser berühmter Kommentator Dom Calmet von „Blaubart“ sagt. Er sieht darin eine heilsame Lehre zur Erbauung frommer Seelen und offenbar in Erfüllung gegangene Prophezeiungen, die, wie er hinzufügt, vor allem für die Bestätigung der Wahrheit unsrer heiligen apostolischen römisch-katholischen Religion sehr ins Gewicht fallen. Wäre dieser kostbare Kommentar noch länger unbekannt geblieben, so wäre das ein unersetzlicher Verlust für die streitende Kirche gewesen.

Wir sehen uns aus mehr als einem Grunde zu seiner Veröffentlichung gezwungen. Ach! Wir sind nahe dem Ende der Zeiten. Der große Tag rückt heran, der allen menschlichen Eitelkeiten ein Ziel setzen wird. Alles, was uns geweissagt ist, geht in Erfüllung. Die Natur verliert ihre Fruchtbarkeit, das Menschengeschlecht entartet zusehends. Schon gewinnt die verderbte Vernunft die Oberhand über die christliche Einfalt. Der glühende Glaubenseifer hat sich in sträfliche Gleichgültigkeit gewandelt. Neue Irrlehren siegen über die alten Wahrheiten. Der Glaube gilt als Folge von Aberwitz, der Unglaube als Zeichen von Verstand. Unsre Feinde greifen uns nicht mehr im Verborgenen an. Statt wie einst die Grundfesten unsres heiligen Glaubens zu untergraben, stürmen sie jetzt offen dagegen an. Scharenweise rotten sich unsre Feinde unter den verschiedenen Bannern der Ketzerei zusammen und umringen uns von allen Seiten. An ihrer Spitze ficht Luzifer, um unsren Gottesdienst und unsre Altäre zu vernichten. Die Kirche ist in ihren heiligen Grundfesten erschüttert und droht einzustürzen. Bald wird sie in Trümmern liegen. Sie, unsre heilige Mutter, girrt wie eine Taube und schreit wie ein Hirsch, dem der unbarmherzige Jäger den Todesstoß versetzen will. In ihrer großen Trübsal ruft sie ihre Kinder zu Hilfe. Sie ist Rahel, die um ihre Kinder weint und untröstlich ist. Eilen wir, ihr beizustehen! Stützen wir ihren altehrwürdigen Bau mit dem heiligen Kommentar Dom Calmets über „Blaubart“! Halten wir diesen heuigen Benediktiner wie einen Schild vor und wehren wir mit ihm die vergifteten Pfeile ab, die die gottlose Philosophie gehen uns schleudert, auf daß die Pforten der Hölle nicht recht behalten über die Kirche, die auf dem Eckstein unsres Seelenheils gegründet ist.

<140>

Mögen beim Lesen dieses heiligen Kommentars sich die Herzen Derer erweichen, die in ihren Lastern und in ihrem Unglauben verhärtet sind! Und mögen alle, die den Geschmack an geistlichen Ergötzungen verloren haben, die in der Verderbnis der Welt untergegangen sind, durch Dom Calmet und „Blaubart“ im Glauben bestärkt werden und die Überzeugung erlangen, daß, wer sein Herz an die Güter dieser Welt hängt und nur nach Befriedigung seiner Lüste trachtet, Gefahr läuft, um dieser vergänglichen Güter willen sich die ewige Seligkeit für immerdar zu verscherzen!

<141>

Blaubart

Ein Märchen141-1

Es war einmal ein Mann, der hatte schöne Häuser in der Stadt und auf dem Lande, Gold- und Silbergeschirr, gestickte Möbel und ganz vergoldete Karossen; aber leider hatte der Mann einen blauen Bart. Der machte ihn so häßlich und furchtbar, daß alle Frauen und Mädchen ihn flohen. Eine Nachbarin, eine vornehme Dame, hatte zwei bildschöne Töchter. Er begehrte die eine zur Ehe und ließ ihr die Wahl, welche von beiden sie ihm geben wollte. Aber sie mochten ihn beide nicht, und jede wies ihn an die andere; denn sie gewannen es nicht über sich, einen blaubärtigen Mann zu freien. Auch schreckte es sie ab, daß er schon mehrere Frauen gehabt hatte, und niemand wußte, was aus ihnen geworden war. Um Bekanntschaft anzuknüpfen, lud Blaubart sie mit ihrer Mutter und drei oder vier ihrer besten Freundinnen nebst ein paar jungen Leuten der Nachbarschaft in eins seiner Landhäuser, allwo man acht Tage verweilte. Da gab es nichts als Lustwandeln, Jagd und Fischfang, Tanz, Feste und Gastmähler. Statt zu schlafen, verbrachte man die Nächte mit Kurzweil und Schabernack. Kurz, alles verlief so gut, daß die jüngste Tochter anfing zu finden, der Hausherr habe keinen blauen Bart mehr, und ihn für einen höchst ehrbaren Mann hielt. Nach der Rückkehr in die Stadt ward die Ehe alsbald geschlossen.

Einen Monat danach sagte Blaubart zu seiner Frau, er müsse wegen wichtiger Geschäfte eine Reise in die Provinz machen, die wenigstens sechs Wochen dauern werde. Er bäte sie, sich während seiner Ab, Wesenheit gut zu unterhalten, ihre Freundinnen einzuladen, mit ihnen aufs Land zu gehen, wenn sie wollte, und überall gut zu leben. „Hier“, sprach er, „sind die Schlüssel zu den beiden großen Gerätkammern, hier der Schlüssel zu meinem goldenen und silbernen Geschirr, das ich nicht alle Tage brauche, hier der zu meiner eisernen Truhe, in der ich mein Gold und Silber bewahre, der Schlüssel der Kästen, :n denen meine Edelsteine sind, und hier der Dietrich, der alle Gemächer öffnet. Dieser kleine Schlüssel hier ist für die Kammer am Ende des großen Flures im Erdgeschoß. Öffne alles, geh überall hin; nur dies Gemach verbiete ich dir zu betreten. Sollte es dir beikommen, es zu öffnen, so hast du von meinem Zorn alles zu gewärtigen.“ Sie versprach, ihm in allen Stücken zu willfahren, und nachdem er ihr den Abschiedskuß gegeben hatte, bestieg er seinen Wagen und fuhr auf Reisen.

Die Nachbarinnen und guten Freundinnen warteten nicht, bis sie eingeladen wurden, zu der Jungvermählten zu kommen. Sie brannten vor Neugier, all die Reichtümer ihres Hauses zu sehen, hatten sich aber während der Anwesenheit des Gatten nicht hingewagt, dieweil sie sich vor seinem blauen Bart fürchteten. Nun aber liefen sie sogleich durch alle Säle, Gemächer und Kleiderkammern, davon eine immer schöner und reicher war als die andere. Dann stiegen sie zu den Gerätkammern hinauf, und es war ihres Staunens lein Ende ob der Zahl und Schönheit der Wandteppiche, Betten, Ruhelager, Waschgeräte, Kandelaber, Tische und Spiegel, darin man sich vom Kopf bis zu Füßen erblickte, und deren Rahmen teils aus Glas, teils aus Silber oder vergoldet und so schön und prächtig waren, wie sie es noch nie erschaut hatten. Immerfort priesen sie das Glück ihrer Freundin über die Maßen und beneideten sie.

Die junge Gattin aber fand keinen Gefallen an all jenen Herrlichkeiten; denn sie verging vor Ungeduld, die Kammer im Erdgeschoß zu öffnen. Ihre Neugier war so heftig, daß sie ungeachtet der Unschicklichkeit, ihre Gäste allein zu lassen, eine kleine Geheimtreppe hinablief, so hastig, daß sie sich zweioder dreimal schier den Hals gebrochen hätte. An der Tür der Kammer blieb sie ein Weilchen stehen, gedachte des Verbots ihres Gatten und erwog, daß ihr ein Unglück geschehen könnte, wenn sie<142> seinem Willen nicht gehorchte. Aber die Versuchung war so stark, daß sie ihr erlag. Sie nahm also den kleinen Schlüssel und öffnete zitternd die Tür des Gemaches. Erst sah sie gar nichts; denn die Fenster waren verschlossen. Doch alsbald erkannte sie, daß der Estrich ganz mit geronnenem Blute bedeckt war. Darin spiegelten sich die Leichen mehrerer Frauen, die an den Wänden hingen. Das waren alle die Frauen, die Blaubart gefreit und nacheinander ermordet hatte. Sie wäre vor Schreck fast gestorben, und der Schlüssel, den sie aus dem Schloß gezogen hatte, entfiel ihrer Hand. Als sie ein wenig zu Sinnen gekommen war, hob sie den Schlüssel auf, schloß die Tür wieder ab und ging in ihr Zimmer, um sich etwas zu erholen. Doch das gelang ihr nicht, so erregt war sie. Da sie bemerkt hatte, daß der Schlüssel der Kammer mit Blut besteckt war, wischte sie ihn zwei-, dreimal ab, aber das Blut wollte nicht weichen. Umsonst wusch sie ihn und scheuerte ihn gar mit Sand; die Blutspuren gingen nicht ab. Der Schlüssel war nämlich verzaubert und ließ sich nicht völlig reinigen. Verschwand das Blut auf der einen Seite, so kam es auf der andren wieder zum Vorschein.

Noch am selben Abend kehrte Blaubart von seiner Reise heim. Wie er sagte, hatte er unterwegs Briefe erhalten, laut deren das Geschäft, dessentwegen er die Reise angetreten, zu seinen Gunsten erledigt sei. Seine Frau tat, was sie konnte, um ihm ihr Entzücken über seine rasche Heimkehr zu bezeugen. Am nächsten Tage verlangte er die Schlüssel zurück. Sie gab sie ihm, aber mit so zitternden Händen, daß er ohne Mühe erriet, was geschehen war. „Warum“, fragte er, „ist der Schlüssel zur Kammer nicht bei den anderen?“ — „Ich habe ihn wohl oben auf dem Tisch liegen lassen.“ — „Unterlaß nicht, ihn mir bald zu geben“, sprach Blaubart. Nach mehrfachem Aufschub mußte sie ihm den Schlüssel bringen. Blaubart betrachtete ihn und fragte seine Frau: „Warum ist Blut an diesem Schlüssel?“ — „Ich weiß es nicht“, antwortete die Ärmste, bleicher als der Tod. — „Du weißt es nicht?“ wiederholte Blaubart. „Ich aber weiß es. Du wolltest die Kammer betreten. Wohlan, Madame, Sie sollen sie betreten und Ihren Platz neben den Frauen einnehmen, die Sie dort sahen.“ Sie warf sich ihrem Gatten zu Füßen, weinte und flehte ihn um Verzeihung an, mit allen Zeichen ehrlicher Reue ob ihres Ungehorsams. Sie hätte einen Tiger gerührt, so schön war sie in ihrer Betrübnis, aber Blaubarts Herz war härter denn Stein. „Sie müssen sterben, Madame,“ sprach er, „und das sogleich.“ — „Da ich denn sterben muß,“ antwortete sie mit tränenerfülltem Blick, „so gebt mir wenigstens eine Frist, um zu beten.“ — „Ich gebe Ihnen eine halbe Viertelstunde,“ erwiderte Blaubart, „aber keinen Augenblick mehr.“

Als sie allein war, rief sie ihre Schwester und sprach: „Schwester Anna,“ — so hieß sie — „ich bitte Dich, steige auf den Turm und schau aus, ob meine Brüder nicht kommen. Sie haben mir versprechen, mich heute zu besuchen. Siehst Du sie, so winke ihnen, sich zu eilen!“ Schwester Anna stieg auf den Turm, und die arme Schmerzensreiche rief ihr von Zeit zu Zeit zu: „Anna, Schwester Anna, siehst Du nichts nahen?“ Aber ihre Schwester Anna beschied sie: „Ich sehe nichts als die Sonne, die durch den Staub scheint, und das grünende Gras.“ Da schrie Blaubart, ein großes Messer schwingend, seinem Weibe aus voller Kehle zu: „Komm herab oder ich steige hinauf!“ — „Noch ein kleines Weilchen, bitte“, antwortete sie, und sofort rief sie ganz leise: „Anna, Schwester Anna, siehst Du nichts nahen?“ Aber Schwester Anna beschied sie: „Ich sehe nichts als die Sonne, die durch den Staub scheint, und das grünende Gras.“ — „Komm rasch herab,“ schrie Blaubart, „oder ich steige hinauf!“ — „Ich komme schon“, antwortete die junge Frau. Dann schrie sie: „Anna, Schwester Anna, siehst Du nichts nahen?“ Und Schwester Anna beschied sie: „Ich sehe eine große Staubwolke daherkommen.“ — „Sind's nicht meine Brüder?“ — „Ach nein, Schwester, es ist eine Schafherde.“ — „Willst Du nicht herablommen?“ schrie Blaubart. „Noch ein kleines Weilchen“, bat seine Frau. Dann rief sie: „Anna, Schwester Anna, siehst Du nichts nahen?“ — „Ich sehe“, beschied jene, „zwei Reiter daherkommen, aber sie sind noch weit fort.“ — „Gelobt sei Gott!“ rief sie kurz darauf. „Es sind meine Brüder. So gut ich vermag, winke ich ihnen, sich zu eilen.“ Blaubart begann so laut zu schreien, daß das ganze Haus erzitterte. Die Ärmste stieg hinab und warf sich, in Tränen gebadet und mit aufgelöstem Haar ihrem Gatten zu Füßen. „Was soll das?“ sprach Blaubart. „Du mußt sterben.“ Dann packte er sie mit einer Hand bei den Haaren und mit der andren zückte er das Messer, um ihr den Kopf abzuschneiden. Die Ärmste wandte ihm das Antlitz zu, blickte ihn mit brechenden Augen an und bat ihn, ihr noch ein kleines Weilchen zu vergönnen, um sich zu sammeln. „Nein, nein“, rief er, „empfiehl Deine Seele Gott!“ und erhob seinen Arm... In dem Augenblick ward so stark an die<143> Tür gepocht, daß Blaubart in seinem Streich innehielt. Die Tür ging auf, und zwei Reiter eilten herein, zogen ihre Degen und stürzten auf Blaubart los. Er erkannte die beiden Brüder seiner Frau. Der eine war Dragoner, der andre Musketier. Daher nahm er flugs Reißaus, um sich zu retten. Aber die beiden eilten ihm nach und holten ihn ein. Noch ehe er die Haustür erreicht hatte, stießen sie ihm ihre Degen durch den Leib und ließen ihn tot liegen. Die Ärmste war fast ebenso entseelt wie ihr Gatte. Sie hatte nicht so viel Kraft, um aufzustehen und ihre Brüder zu umarmen.

Es fand sich, daß Blaubart keine Erben hatte. Also kam seine Witwe in den Besitz all seiner Habe. Sie verwandte einen Teil davon, um ihre Schwester Anna mit einem jungen Edelmann zu verheiraten, den sie seit langem liebte, einen andren Teil, um ihren beiden Brüdern Kapitänssiellen zu laufen, den Rest aber, um selbst einen sehr ehrenwerten Mann zu freien, bei dem sie die schlimme Zeit vergaß, die sie mit Blaubart verbracht hatte.

Moral.
Mag sie noch so lockend scheinen,
Neugier endet oft mit Weinen;
Es gibt Beispiele zu Hauf.
Sei's den Frauen nicht verdrießlich:
Neugier ist stets unersprießlich,
Kaum befriedigt, hört sie auf,
Und man gibt zuviel in Kauf.

<144>

Dom Calmets theologischer Kommentar zu „Blaubart“

Dom den mystischen Sinn dieses göttlichen Werkes recht zu erfassen, muß man es zuvor gründlich studiert haben. Wiewohl der Name des heiligen Verfassers nicht auf uns gekommen ist, können wir aus dem Stil des hebräischen Originals entnehmen, daß er ein Zeitgenosse des Propheten Samuel war. Seine Ausdrücke sind die gleichen wie im Hohenlied Salomonis; einige Wendungen sind verwandt mit den Psalmen Davids, woraus wir schließen können, daß er lange vor der Babylonischen Gefangenschaft gelebt hat.

Das Werk ist in bilderreichem Stil geschrieben. Es ist ein Gleichnis, eine Verbindung der erhabensten christlichen Moral mit einer der offenbarsten Prophezeiungen der Ankunft des Messias und des glänzenden Sieges, den er über den ewigen Widersacher Gottes und der Menschen davontragen wird. Das von uns kommentierte Werk ist eine wahre Fundgrube. Je tiefer man darin schürft, um so mehr Schätze findet man. Auf „Blaubart“ trifft das Wort der Schrift zu: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ Die Bücher des Alten Testaments tragen alle das gleiche Gepräge. Die Kirchenväter und die Doktoren, die in den heiligen Schriften am besten Bescheid wußten, haben sich stets bemüht, den geheimen Sinn der von Gott inspirierten Schriftsteller zu ergründen. Oft ist ihnen die Erklärung durch Vergleichung verschiedener Propheten miteinander gelungen. Wir gedenken dieser weisen Methode zu folgen, um die göttlichen Wahrheiten und die so schlagenden Prophezeiungen zu beleuchten, die das heilige Gleichnis von „Blaubart“ unsrem Nachsinnen darbietet.

Man sehe, mit welch rührender Einfalt das Buch beginnt! „Es war einmal ein Mann, der hatte schöne Häuser in der Stadt und auf dem Lande.“ Schon allein dieser Anfang zeugt für die göttliche Inspiration des Buches. Es heißt nicht: „Es war in dem und dem Jahre“, sondern: „Es war einmal.“ Der Verfasser sah im Geist die Streitigkeiten voraus, die die Ungläubigen eines Tages an verschiedene chronologische Fragen anknüpfen würden, als da sind: das Datum von Christi Ge, burt und der Flucht nach Ägypten, die Zeit seines Erdenwallens, schließlich der Tag seines Todes und seiner Auferstehung. Solchen verfänglichen Daten zieht er also die erhabene Schlichtheit vor: „Es war einmal ein Mann.“

„Der hatte schöne Häuser in der Stadt und auf dem Lande.“ Das ist der rechte erzählende Stil. Mit jenen verschiedenen Besitzungen kennzeichnet der heilige Verfasser die Verworfenheit des Mannes, von dem er spricht. Er hing an den weltlichen Gütern. Ohne Zweifel rühmte er sich seines Reichtums und rechnete die Güter jenes Lebens für nichts.

<145>

„Sein Bart war blau.“ Er geht Schritt für Schritt weiter. Der Mann ist reich; er ist eitel; sein Bart ist blau: das ist das Wahrzeichen des Teufels. Der Urheber all unsrer leiden kann keinen gewöhnlichen Bart haben; er muß blau sein. Denn der Teufel, der Eva in Gestalt einer Schlange im Garten Eden versuchte, hatte eine bläuliche Farbe. Diese Behauptung stütze ich noch auf ein physikalisches Argument. Öllampen werfen einen bläulichen Schein: die Teufel, die die Verdammten in große Kessel siedenden Öls tunken, bekommen davon allmählich einen blauen Bart, genau wie die Haare der Arbeiter in den Vitriolbergwerken auf die Dauer eine grünliche Farbe annehmen. Dies Kennzeichen, diese Farbe ist dem Bösen gegeben, da, mit die Menschen den Feind ihres Heils erkennen können. Wir haben Augen zum Sehen und sehen doch nicht; denn wir prüfen nichts. Das liegt an unsrer Trägheit, unsrer Lauheit, unsrer sündhaften Nachlässigkeit, dank der wir in alle Netze des Bösen fallen. Wir wachen nicht über das Heil unsrer unsterblichen Seele. Ob der Versucher einen blauen Bart hat oder nicht, niemand denkt darüber nach. Er schmeichelt unsren Begierden, wir lassen uns verführen. Wir trauen ihm und sind verloren.

Diese bedeutsame Wahrheit stellt unser Gleichnis wie folgt dar: „Eine vornehme Dame hatte zwei Töchter. Blaubart begehrte die eine zur Ehe.“ Wie stets, wendet sich der Teufel auch hier an die Weiber. Er weiß, ihr Geschlecht ist schwächer als das unsre. Ferner ist zu bemerken: wenn der böse Feind jemand rauben will, so verficht es ihm nichts, ob er die jüngere oder ältere Tochter entführt, wenn er nur seine Beute bekommt. „Lange konnten sie sich nicht entschließen, Blaubart zu freien; denn er hatte mehrere Frauen gehabt, und niemand wußte, was ans ihnen ge, worden war.“ Noch kämpfte die göttliche Gnade in den Herzen der jungen Mädchen und flößte ihnen heimlichen Abscheu gegen den Fürsten der Finsternis ein. Man darf nicht mit ihm vertraut werden, sonst ist man früher oder später verloren. Hütet Euch vor dem ersten Fehltritt; den zweiten tut man ohne Reue.

„Blaubart lud die Mädchen und etliche junge Leute in eins semer Landhäuser ein. Da gab es nichts als Tanz, Feste und Lustwandeln.“ Man kann die Listen des Bösen und die Wege, die er einschlägt, um uns zu verführen, nicht deutlicher darstellen als in diesem Gleichnis. Er erregt unsre Genußsucht. Erst sind es prunkvolle Gastmähler, lüsterne Tänze, lockere Reden. Dann entzündet er in uns das Feuer der Leiden, schaften: Wollust, Gier nach Besitz, Hoffahrt, Verachtung. So wendet er Gottes Diener allgemach dem Lasier zu. Wie berauscht vom Anblick dieser vergänglichen Welt, trachten wir nicht mehr nach der ewigen Seligkeit, und unsre verderblichen, zügellosen Leidenschaften stürzen uns in den Abgrund der Qualen. Durch solche Arglist macht der Teufel den Himmel leer und bevölkert die Hölle, die sein Reich ist.

Aber man beachte vor allem, welch rasche Fortschritte seine Versuchungen bei unschuldigen Herzen machen. Er umgarnt die jüngere Schwester, die unerfahrenere, und heiratet sie zum Verderben der Unseligen. Mit dieser jungen Gattin meint der<146> Verfasser das jüdische Volt, das uneingedenk der unermeßlichen Wohltaten Gottes und aller Zeichen und Wunder, die er seinem Volke gegeben hatte, den falschen Göttern, d. h. den Teufeln, opferte und in alle Greuel der Abgötterei fiel. So tieft sinnig und streng theologisch lehrt uns unser heiliger Verfasser jene erhabenen Wahrheiten. Das junge Mädchen verläßt das Elternhaus, um Blaubart zu heiraten. Die Juden werden abtrünnig vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und dienen Baal Peor und andren Götzen, die die Hölle auf die Welt ausgespieen hat. Erst ist man lau, dann wird man gleichgültig, dann vergißt man Gott, versinkt in Sünden und Lasier, immer tiefer, bis es kein Zurück mehr gibt. Der Mensch ist verloren, sobald die wirksame Gnade ihn verläßt. Ein Schwindelgeisi ergreift seine Sinne; er taumelt am Rande des Abgrunds und ahnt nicht, daß die Tiefe ihn verschlingen wird. Die Iungvermählte, durch verderblichen Irrtum verblendet, sieht nicht, daß ihr Gatte einen blauen Bart hat. So werden wir, von der Heftigkeit unsrer Leidenschaften fortgerissen, der furchtbaren Mißgestalt unsrer Lasier nicht gewahr. Ohne Kompaß und Steuer treibt der Sünder dahin, ein Spielball der wilden Stürme, die sein gebrechliches Schifflein schließlich zerschellen.

„Kaum verheiratet, unternimmt Blaubart eine sechswöchige Reise, um wichtige Geschäfte zu besorgen, und bittet seine Gattin, sich während seiner Abwesenheit gut zu unterhalten.“ So sucht der Teufel, nicht zufrieden mit einem Opfer und stets auf das Verderben der Menschen erpicht, unablässig nach neuer Beute.

„Beim Abschied gibt Blaubart seiner Gattin den Schlüssel zu allen seinen Schätzen, darunter den Geheimschlüssel zu einer Kammer, die er ihr zu öffnen verbietet.“ Welche wichtige Lehre liegt in diesen wenigen Worten! Der alte Versucher kennt sein Handwerk, das er durch alle Zeiten getrieben hat. Er verwirrt den Sinn eines jungen Weibes, indem er ihm Lust an Reichtümern einstößt. Er will uns an die vergänglichen irdischen Güter ketten, um uns von den unvergänglichen Gütern des Paradieses abwendig zu machen. Durch das gleiche Mittel gelang es ihm, den weisesten aller Könige zu verführen. Er gibt Salomon alles Gold von Ophir. Mit diesem Golde beginnt Salomo, dem Herrn in Jerusalem einen Tempel zu bauen: das ist wohlgetan! Aber der Teufel verliert den Mut nicht. Alsbald schaffte sich der weise König siebenhundert Kebsweiber an: das war der Mißbrauch! Hier sei beiläufig bemerkt, wie unser Geschlecht ausartet. Kein Sardanapal unsrer Tage könnte eine so große Zahl von Konkubinen befriedigen. Salomo blieb dabei nicht stehen. Er opferte zuletzt den falschen Göttern. So zieht ein Fall den andren nach sich. Doch es ist Zeit, zum heiligen Texte zurückzukehren.

Die Schlüssel zu den Schätzen, die Blaubart seiner Gattin gibt, bedeuten den Dietrich der Hölle, die verräterischen Schlüssel, die allen Lastern Tür und Tor öffnen. Der Teufel weiß, daß die meisten Menschen sich durch Reichtum fangen lassen. Er hat nur wenige gefunden, die dieser Lockung widerstanden. Erinnert Euch der Worte, die der Fürst der Finsternis zu dem göttlichen Messias sprach, als er ihn<147> auf einen hohen Berg zu führen wagte. Er zeigte ihm alle Reiche der Welt und sagte: „Dies alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest!“ Unseliger Reichtum, verderbliche Größe, ihr verderbt den, der euch anhangt! Nein, die Reichen werden das Reich Gottes nicht erben. Auch Ihr, große Herrscher der Welt, Ihr, die Ihr Euch in frecher Hoffahrt auf Euren prunkvollen Thronen bläht, wahrlich! Ihr werdet dereinst ein Raub der ewigen Flammen sein, indes der arme Lazarus in Abrahams Schoße mitleidig auf Eure Leiden und Qualen herabsieht.

Man bemerke zugleich, daß der Teufel seiner Gattin zwar alle Schlüssel gibt, ihr aber die geheime Kammer zu öffnen verbietet. Schon allein dieser Zug verrät uns die göttliche Inspiration des Buches; denn in diesen wenigen Worten wird die Tücke des Bösen mit treffenden Farben geschildert. Geschickt benutzt er unsre Leidenschaften, um uns in sein Joch zu zwingen, aber wir sollen die Listen und Fallstricke nicht kennen, mit denen es ihm gelingt, uns zu Fall zu bringen. Indem er uns bindet, ja knebelt, will er doch, daß seine Ketten unsichtbar bleiben, damit wir nicht merken, daß wir seine unglücklichen Sklaven sind. Jene unheilvolle Kammer birgt die Geheimnisse der Ungerechtigkeit. Seine junge Gattin soll sie nicht betreten, aber zugleich versucht er sie, indem er ihre Neugier erregt. Die gleiche List, mit der er unsre Urmutter verführte! Zu ihr sprach er: „So du von dieser schönen Frucht issest, wirst du alle Dinge wissen. Man neidet sie dir, weil sie köstlich ist. Iß davon, da du sie besitzest.“ O verderbliche Neugier, Schicksalsapfel, Apfel des Verderbens, du hast die Menschheit zugrunde gerichtet! Blaubarts junge Gattin war ein Weib und ebenso neugierig wie Eva. Die Versuchung war stark. „Warum gab er mir den Schlüssel zu der Kammer? Warum verbietet er mir, hineinzugehen?“ So fragte sie bei sich selbst. „Gewiß ist dort das Seltsamste und Köstlichste verborgen, was mein Gatte besitzt.“ Wie konnte sie allen Feinden widerstehen, die sie umgaben! Sie ward ja zugleich vom Teufel der Fleischeslust, vom Teufel der Völlerei, vom Teufel des Reichtums angefochten und vom Stachel der Neugier getrieben. Sie sieht weder die Falle, die ihr gestellt ist, noch ihre unheilvollen Folgen. Ach! was vermochte über ihr Herz noch der schwache Rest der zureichenden Gnade, die ihr seit ihrer schrecklichen Heirat mit dem Fürsten der Finsternis schon dreiviertels abhanden gekommen war. Die Gnade hat keine Macht mehr über sie und verläßt sie. Fortan umnachtet der Geist der Verwirrung alle ihre Sinne und beherrscht sie despotisch.

Siehe, sie greift zu dem Schlüssel der verbotenen Kammer, eilt hin, öffnet die Tür und steigt hinab. Welch ein Anblick, gerechter Gott! bietet sich ihren Blicken dar. Die Leichen mehrerer ermordeter Frauen, deren Blut den Estrich der Kammer bedeckte! Diese Gegenstände des Schreckens entsetzen und betören sie. Finstere Trübt sal erfüllt ihre Seele mit Schmerz. Der Schleier des Trugs zerreißt. Auf den Taumel der trügerischen Freuden folgt die Reue, der Gewissensbiß, die Verzagtheit. In dem Augenblick, da sie sich verloren wähnt, schießt der Himmel einen Strahl der veränderlichen Gnade und drei Strahlen der mitwirkenden Gnade auf sie herab, die<148> sie durch ihre Reue verdient hatte. Nun sieht sie ihre Missetaten in ihrer ganzen Schrecklichkeit. Ein furchtbarer Augenblick, die ihr den eifersüchtigen Gott zeigt, den Blitzstrahl in der Hand, bereit, ihn auf sie zu schleudern. Regungslos, fast entseelt, läßt sie den Schlüssel fallen. Doch was tun? Sie muß ihn aufheben; er ist ganz mit Blut besudelt. Das ist das unschuldige Blut, das vom Totschlag des gerechten Abel bis zur Steinigung Sacharjas148-1 geflossen ist. Es schreit gen Himmel, es fleht zum Herrn, der so lange gegen das Seufzen der wenigen Gerechten, die es in Israel noch gibt, taub war. Es steht, ihnen Den zu senden, der die Hoffnung der Völker ist und der den Erbfeind Gottes und der Menschheit zu Boden schlagen wird. Die junge Gattin war in furchtbarer Lage. Ihre Seele war verwirrt vom Anblick jener blutigen Leichname, von der Reue über ihre Missetaten, von der Macht der wirk, samen Gnade und von dem Abscheu, den sie gegen Blaubart faßte. In Tränen ge, badet, verläßt sie die Stätte des Schreckens. Sie will das Blut abwischen, das den verhängnisvollen Schlüssel besteckt. Umsonst versucht sie es mehrmals; es gelingt nicht. So unauslöschlich sind die Spuren unsrer Missetaten, so schwer ist es, reinzuwaschen, was durch Verbrechen besudelt ist!

Unterdessen erhält Blaubart auf seiner Reise die Nachricht, daß seine Geschäfte zu seinen Gunsten erledigt sind; denn des Teufels Geschäfte gehen rasch. Das Lasier ist leicht, aber die Tugend ist schwer. Er kehrt in seinen Palast zurück und fordert von seiner Gattin sofort den Schlüssel der schrecklichen Kammer. Ein Augenblick des Grausens für die Ärmste, die nun erkennt, welches Unheil ihre Neugier über sie gebracht hat. Aber auch ein Augenblick des Heils, wo die Gnade sie stark macht und sie ihrem Schöpfer zurückgibt. Mit gellender Stimme schreit Blaubart: „Wo ist der Schlüssel zur Kammer?“ Mit zitternder Hand reicht die junge Gattin ihn dar; denn schon fühlt sie heilsamen Abscheu vor jeder Verbindung mit dem Bösen. „Woher“, fragt Blaubart, „kommen die Blutspuren an diesem Schlüssel?“ — „Ich weiß es nicht“, antwortet sie, bleicher als der Tod. „Wohlan, Madame,“ entgegnet Blaubart — denn der Teufel ist höflich — „Sie werden die Kammer betreten, um Ihren Platz unter den Frauen einzunehmen, die Sie dort sahen.“ Ach, Ihr armen Sterblichen, lernet den Teufel kennen! Mißtraut ihm ohn' Unterlaß; seid stets auf Eurer Hut! Blumen streut er auf den Weg, auf dem er Euch zur Hölle führt! Zu Anbeginn schmeichelt er Euren Leidenschaften; dann auf einmal verwandelt er sich in den Henker Eurer Seelen und stürzt Euch in den Abgrund der Qualen.

Doch man beachte hierbei mit den heiligen Vätern, wie anders Gottes Wege sind als die Wege der Menschen! Die von der Vorsehung bestimmte Stunde, da Gott der jungen Bußfertigen zu helfen gedachte, war noch nicht gekommen. Um diesen Augen, blick des Heils herbeizuführen, legt der Heilige Geist dem jungen Weibe die rührendsten Worte in den Mund, Worte, die auch den wildesten Tiger und Leuen erweicht hätten.<149> Aber der Teufel, an den sie gerichtet waren, ist unbarmherziger als alle Tiger der Welt. Er kennt keine andre Freude, als die Gefährten seiner Schandtaten zu mehren und die Streiter Christi ihrem Banner abspenstig zu machen, um sie in seine aufrührerischen Rotten zu stellen und zum Raub der Hölle zu machen. „Sie müssen sterben, Madame!“ schreit Blaubart. „Sie müssen auf der Stelle sterben!“ Furchtbare Worte, die die ganze Grausamkeit des bösen Feindes ausdrücken; nützliche Worte, die der Heilige Geist dem frommen Verfasser diktiert hat, um uns all den Abscheu, all das Grausen einzuflößen, das wir vor dem Fürsten der Finsternis haben sollen. „Da ich denn doch sterben soll,“ entgegnet seine Gattin, in Tränen gebadet, „gewährt mir nur eine Viertelstunde Frist!“ — „Wohlan,“ sprach Blaubart, „aber nicht einen Augenblick mehr.“

Eine notwendige und nützliche Frist. Ein goldner Augenblick für den Ausgang des Gleichnisses! Wie schon gesagt, bedeutet die junge Gattin das Volk Israel und ihre Heirat mit Blaubart die Abgötterei, die das auserwählte Volk mit Baal Peor, Moloch und andren Götzen trieb. Das Hinabsteigen der jungen Gattin in den bluterfüllten Keller bedeutet klar die Babylonische Gefangenschaft, in der der Dienst des wahren Gottes aufgehört hatte, und die lange Knechtschaft, in der das Volk Gottes seufzte, als es nacheinander von den Ägyptern, Assyrern, Medern und Römern unterjocht ward. Blaubarts Rückkehr und seine Absicht, die Gattin zu töten, bedeutet die letzten Anstrengungen der Hölle zur Zerstörung des Glaubens, des Dienstes und der Altäre Zebaoths, die Häufung der Verbrechen auf der ganzen Welt, das Verstummen der Propheten, das Aufhören der Wunder und die unselige Verlassenheit des Menschengeschlechts, die den Höchsten bewog, seinen unschuldigen Sohn auf die Welt zu schicken, auf daß er durch seinen Tod die Sünder erlöste.

Doch fürchten wir nichts! Die Gnade wirkt; sie belebt die untröstliche junge Gattin, die in die bemerkenswerten Worte ausbricht: „Anna, meine Schwester, Schwester Anna, siehst du nichts nahen?“ Gleich als hätte sie gerufen: „Der Herr wird mich nicht verlassen. So groß meine Sünde auch sei, ich vertraue auf sein Erbarmen. Meine Reue ist größer als meine Missetaten. Ich weiß, er wappnet einen Rächer, der mich vom Joch der Hölle befreien wird. Anna, meine Schwester, Schwester Anna, siehst du den göttlichen Retter noch nicht nahen? Ach, ich habe ihn beleidigt. Ja, ich habe seinen Zorn verdient. Aber so sehr auch meine Sünden gen Himmel schreien, seine Gnade ist größer. Wann wird Der kommen, den Iesaia, Hesekiel und Daniel den Völkern verhießen, der der Schlange den Kopf zertritt, die unsre Urväter verführt hat, Er, dem die Menschheit ihr Heil danken wird? Ich bin vom Stamme Iuda, ich bin eine Tochter des Höchsten. Der da kommen wird, mich zu befreien, ist sein Sohn, also mein Bruder. Ach, lieber Bruder, komm! Ich erwarte dich mit Sehnen. Anna, meine Schwester, kommt er noch nicht?“

Ihre Schwester Anna steigt flugs auf einen Turm des Schlosses; denn man muß sich aus dem Staub des Irdischen erheben, will man die himmlischen Dinge erschauen.<150> Darum tragen die Tiere den Kopf vornüber, und allein der Mensch trägt ihn aufrecht, um gen Himmel blicken zu können. Wir kennen den Einwand, der Hahn trüge seinen Kopf ebenso hoch wie wir. Das sind schlechte Geschichten, Erfindungen der Ungläubigen, um die offenbarten himmlischen Wahrheiten zu erschüttern, wenn sie es vermöchten. Doch ich wende mich wieder unsrem helligen Text zu. Kehren wir zur Schwester Anna zurück. Sie stellt nach dem mystischen Sinn des Gleichnisses alle Heiligen und Propheten dar, die über unsren Heilsweg und das Erlösungswerk gehandelt haben. Da sie nicht wie ihre Schwester gefehlt hatte, so war sie von der zureichenden Gnade und der wirksamen Gnade nicht verlassen, und darum wohnte ihr der Geist der Weissagung inne. Für und für weilte ihr Denken bei der Wurzel Iesse und dem glorreichen Schicksal des Sohnes Davids, der die Hoffnung der Völker sein wird, bei seiner Erniedrigung und seinen Siegen.

Anna schaut nach allen Seiten aus. Was sieht sie? „Die Sonne, die durch den Staub scheint, und das grünende Gras.“ Das heißt in der heiligen Sprache: „Ich sehe die Sonne vor Lust schwellen. Sie freut sich über die glorreiche Ankunft des Messias. Ich sehe ihre Strahlen den Staub des Irrtums mit der Klarheit des Evangeliums durchdringen. Ich sehe das Gras grünen, oder besser gesagt, sich in die Farbe der Hoffnung kleiden und ungeduldig die Ankunft des Gesalbten erharren.“ Aber das jüdische Volt — die junge Gattin —versieht den mystischen Sinn dieses göttlichen Gleichnisses nicht. Der von den Propheten so oft verkündete Messias kommt nicht so schnell, wie sie es in ihrem jähen Verlangen wünscht.

Sehet, wie unterdessen die Anläufe des Teufels zunehmen. Seine Grausamkeit drängt ihn zur Vollendung seines ruchlosen Werkes. Mit Donnerstimme, den Posaunen von Jericho gleich, schreit Blaubart aus voller Kehle: „Kommen Sie rasch, Madame, oder ich steige hinauf und schlachte Sie ab!“ Was wird sie beginnen? Was vermag sie? Sie bittet um kurzen Aufschub; sie will warten, bis die Stunde des Herrn gekommen ist. Zugleich wiederholt sie mit schwacher Stimme die frommen Worte: „Anna, Schwester Anna, siehst du nichts nahen?“ So seufzte das Häuflein der ftommen Seelen, die Gott sich in seinem auserwählten Volke erhalten hatte, in heiligem Eifer nach der Erlösung. Es fürchtete, der Same Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Elschaddai, Adonai und Elohim diente150-1, möchte vom Fürsten der Finsternis ausgerottet werden. Anna antwortet ihr nochmals: „Ich sehe die Sonne durch den Staub scheinen und das Gras grünen.“ Ja, Gott hält sein Wort, er verläßt uns nicht! Er stand dem Propheten Elias bei, da die kleinen Knaben ihn verspotteten und ihn Kahlkopf nannten; denn die Knaben wurden von Bären zerrissen150-2. Er teilte die Wasser des Roten Meeres, damit sein Volk hindurchziehen tonnte. Er wappnete Simsons Hand mit einem Eselskinnbacken, damit er die Philister erschlug. Er wird auch uns nicht verlassen.

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„Aber Blaubarts Ungeduld nahm noch zu, und er schrie lauter denn je: Komm herab, oder ich steige hinauf!“ Damit meint der heilige Verfasser den Greuel aller Greuel in der heiligen Stadt oder des Pompejus Einzug in Jerusalem151-1, die Aufrichtung der römischen Adler und Götzenbilder neben dem Tempel, die Erbauung der Burg Antonia, die der verruchte Herodes zu Ehren des Triumvirs Antonius errichten ließ, und den Fleiß, mit dem dieser König den Götzendienst in dem Lande einzuführen trachtete, das der Herr Zebaoth für alle Zeit seinem auserwählten Volke bestimmt hatte. Diese bedeutsamen Ereignisse gingen der Ankunft Christi um etwa dreißig Jahre voraus. Mit so erstaunlicher Genauigkeit hat der fromme Verfasser des heiligen Buches die Zukunft geschaut und vorhergesagt! Rechnet man bei der viertelstündigen Gnadenfrist, die Blaubart seinem Weibe gewährt, die Minute zu drei Jahren, so kommt genau die Zeit zwischen der Eroberung Jerusalems durch Pompejus und der heilbringenden Ankunft und Geburt des Messias heraus.

„Aber Blaubarts unglückliche Gattin stand zitternd und fast entseelt und glaubte sich dem Tode geweiht. Ihre Kräfte verließen sie; ihre Stimme versagte schier; doch inbrünstig wiederholte sie die frommen Worte: 'Anna, meine Schwester, Schwester Anna, siehst du nichts nahen?'“ — „Ich sehe“, erwidert ihre Schwester, „eine Staubwolke von Osten her aufsteigen.“ Die verzweifelte junge Gattin fragt: „Sind es nicht meine Brüder?“ — „Ach nein,“ antwortet Anna, „es sind Schafe.“ Man beachte vor allem, daß in dieser Stelle jedes Wort große Wahrheiten verkündet. Der göttliche Verfasser stellt uns in Gestalt dieser Schafherde Johannes den Täufer, den heiligen Vorläufer Christi dar. Er selbst war sanft wie die Lämmer und verkündete der in ihren Sünden versunkenen Menschheit das Lamm ohne Makel. Hätte unser heiliger Verfasser mit eignen Augen all die Geschehnisse erblickt, die sich vor der heilbringenden Ankunft des Messias zutrugen, er hätte sie nicht ordnungsmäßiger berichten können als in seinem Gleichnis. Es ist mehr eine Geschichte als eine Prophezeiung.

Endlich gelangen wir zu dem Augenblick, da die kreißende Welt den Heiland gebärt. Blaubart, oder sagen wir vielmehr der ergrimmte Teufel, kommt und will seine Beute packen.

In diesem Augenblick verkündet Anna ihrer Schwester, sie sähe zwei Reiter, aber sie wären noch fern. Die beiden Reiter sind der Sohn und der Heilige Geist, der Person nach verschieden, aber beide unlöslich im Logos verbunden, mit dem sie die heilige, anbetungswürdige Dreieinigkeit bilden. Wann kommen sie? Zu einer Zeit, da die Welt Frieden hatte, da Augustus den Janustempel schließen ließ, aber auch zu einer Zeit, da alle Mächte der Hölle gegen ihren Schöpfer losgelassen waren, da die Priester, Leviten und Schriftgelehrten, in verschiedene Sekten ge<152>spalten, einer verdammenswerten Philosophie huldigten und als Pharisäer, Sadduzäer, Essäer und Therapeuten152-1 auftraten, Sekten, die den Glauben ihrer Voreltern so völlig untergruben und zerstörten, daß der Herr Zebaoth fast keine wahren Diener mehr hatte. Die Gefahr war groß und rasche Hilfe vonnöten, oder die junge Gattin wäre erwürgt und die Kirche vernichtet worden. Aber der Herr verläßt die Seinen nicht. In dem Augenblick, da Blaubart das Schwert nach dem Nacken seiner jungen Gattin zückt, siehe, da naht der Heiligste der Heiligen, wirft ihn zu Boden und erschlägt Luzifer zu seinen Füßen. Die Kirche ist gerettet, und die Hölle bebt vor Wut.

Man sieht, wie genau dies Gleichnis zutrifft und wie unfehlbar die Worte des heiligen Verfassers sind. Die Heiligen und Propheten, denen der Himmel die künftigen Ereignisse offenbarte, haben sie verkündet. Die schwache menschliche Vernunft konnte nur die äußere Schale dieser göttlichen Wahrheiten durchdringen. Alles mußte erst in Erfüllung gehen, um sie zu überzeugen. Diesen mystischen Sinn muß man w der Heiligen Schrift suchen, oder man wird nie das volle Verständnis für Jeremias, Jesaias, Hesekiel und Daniel haben, noch für „Blaubart“ und das Hohelied Salomonis152-2. Sobald die beiden Reiter erscheinen, ist die junge Gattin gerettet. Sobald der Messias auf die Welt kommt, ist der Teufel auf ewig in Ketten geschlagen, die christliche Religion, allzeit streitbar und siegreich, wird begründet, und unser Heilswerk vollendet sich.

Doch setzen wir unsren Kommentar fort. „Die Witwe des verstorbenen Blaubart kauft ihrem Bruder eine Kompagnie.“ Welche Kompagnie ist gemeint, wenn nicht die Heerschar der Gläubigen, die die Kirche in ihrem Schoße hegt, die wahren Streiter Christi, bereit, für die Ausbreitung des wahren Glaubens zu kämpfen und zu sterben, bereit, mit der Schärfe des Schwertes die Menge der Ketzer oder vielmehr der Verdammten auszurotten, die sich wider ihre heilige Mutter empören und ihren Busen zerreißen? Und in noch erhabnerem mystischen Sinne deutet diese Kompagnie auf das Schwert hin, das unsrem Heiligen Vater, dem Papste, verliehen ward, um die Sache Gottes zu verteidigen und ihre Feinde auszutilgen.

Fahren wir aber fort: „Blaubarts oder vielmehr Beelzebubs Witwe heiratet nachmals einen sehr ehrenwerten Mann.“ Sie heiratet den Papst. Bekanntlich ist die Kirche mit dem Papste vermählt, welcher der Stellvertreter Christi ist. Möge nun ein Luther, ein Calvin, ein Socinus152-3 oder irgend ein Ketzer ihres Schlages, wöge all dieser Unflat der Hölle kommen. Möge man noch das Geschmeiß der Dissidenten und das ruchlose Gelichter der PHUosophen hinzunehmen, die ebenso verworfen sind wie jene: welches Mittel bleibt ihnen noch zur Auflehnung gegen die Oberhoheit unsres Heiligen Vaters, des Papstes, oder zu weiteren Angriffen auf die<153> Dogmen des apostolischen, römisch-katholischen Glaubens? Umsonst wollen sie sich überheben. Wir lachen ihrer ohnmächtigen Anstrengungen und werden ihnen den Mund verschließen, indem wir ihnen die wunderbare Erfüllung der Prophezeiungen des Verfassers von „Blaubart“ haarklein darlegen. Zu ihrem Schaden wird ihnen bewiesen werden, daß Beelzebubs Witwe den Heiligen Vater gefreit hat, d. h. daß die Kirche nach Abschwörung der alten Abgötterei zur Gemahlin Jesu Christi geworden ist. Der Papst ist sein Statthalter hienieden, also ist die Kirche das Eheweib des Papstes. In ihrer ersten Ehe mit Blaubart war alles weltlich, in der zweiten ist alles geistlich. In der ersten gab sie sich zügellosen Leidenschaften, fleischlichen Lüsten hin, in der zweiten wird sie durch Reue, Buße und Gottes Gnade geläutert. Dort gab es schwelgerische Gastmähler, Anreizungen zu unlauteren Begierden, nebst allem, was die Üppigkeit hervorbringen kann, um die Eitelkeit zu erregen und sich selbst zu vergessen; hier sind es Bußübungen, Reue, christliche Demut und als Kost nichts denn das Fleisch und Blut des fleckenlosen Lammes. Statt des vergänglichen Reichtums und des Prunkes, den sie in Blaubatts Palaste fand, häuft sie hier einen Schatz guter Werke und frommer Handlungen, dessen Zinsen ihr im Para, dies dereinst reichlich heimgezahlt werden. Statt in den Armen des Teufels, der sie erwürgen wollte, ruht sie nun in den Armen des Statthalters dessen, dem sie ihr Heil in dieser Welt und in jener die ewige Seligkeit dankt.

Geschrieben im Kloster der Benediktiner der Kongregation von St. Maur,
am 17. September im Jahre des Heils 1692.

(gez.:) Dom Calmet.

<154>

Predigt über das Jüngste Gericht (1759)154-1



Teure Gemeinde!

Bin ich je mit Worten des Heils und des Friedens vor Euch getreten, habe ich je die Pflichten meines heiligen Amtes erfüllt und je Eure Aufmerksamkeit verdient, dann geschieht es heute, wo ich Euch die wichtigsten Dinge vorzutragen habe, von denen nicht die Freuden eines vergänglichen Daseins abhängen, nicht die Befriedigung eitlen Stolzes oder niederen Eigennutzes, Gebäude, die eine Laune des Glückes bald aufrichtet, bald niederreißt; sondern ich rede von einem dauernden, ewigen Gut, gegen das der Neid nichts vermag, an dem Ränke und Listen zuschanden werden, das alle Macht und Herrschaft der Erde, so weit sie auch reiche, nicht wandeln, vermindern und rauben kann.

O Gott! Verleihe gnädig meinen Worten Kraft, daß sie treffen, rühren, meiner Gemeinde zu Herzen dringen! Sei meine Zunge, die Dein Wort verkündet, gleich dem scharfen Schwerte, das die schlimmen Wurzeln der Sünde aus ihren Seelen schneidet! Gib mir, daß ich die einen durch die Bande Deines unendlichen Erbarmens fessele und die andren durch die Furcht vor den schrecklichen Strafen zu Boden schlage, mit denen Du, gerechter Gott, alle triffst, die Deine heiligen Gesetze übertreten.

Denkt daran, teure Andächtige, in jeder Stunde Eures Lebens, bevor Ihr das Geringste unternehmt, im Glück wie im Unglück, ob Ihr allein in stiller Sammlung seid oder in Gesellschaft und in weltlichen Zerstreuungen, vor allem aber in den gefährlichen und verhängnisvollen Augenblicken, da die Macht der Leidenschaften den Zügel der Vernunft zu zerreißen droht: — es ist ein Tag, da Gott kommen wird in all seiner Herrlichkeit, zu richten die Lebendigen und die Toten! Ich verkündige Euch einen heiligen, rächenden Gott, der da strafen wird die schlaffen Seelen, die ihn mißachtet oder verkannt haben, die verhärteten Herzen, die semer gespottet und ihn beleidigt haben, die betörten Sterblichen, die sich vor Strafe sicher gewähnt hinter dem Schutzwall undurchdringlichen Geheimnisses, mit dem sie die schwarzen Lasier ihrer Seele umgaben. Aber da ist kein Erbarmen! Er züchtigt den stechen Mut der Gottlosen, die seiner Macht Trotz bieten, deren Leben nichts ist als eine Kette<155> von Verbrechen, die seine Vorsehung im Taumel ihres Übermaßes an Schlechtigkeit und Verderbtheit leugnen. Ich verkündige Euch einen Gott des unendlichen Mitleids, der sich seiner Kreatur erbarmt, der die Schwachheit der Menschen kennt und ihnen ihre geringen Tugenden anrechnet, der mit unvergänglichen Gütern und ewiger Glückseligkeit unsre geringste Reue lohnt, unsre Seufzer, die zu ihm aufsteigen, unsre Unterwerfung unter die Ratschlüsse seiner Vorsehung, über die wir so oft weinen und wehklagen, solange wir in diesem Jammertal wohnen. Ich verkündige Euch einen Gott, der uns belohnt für die Barmherzigkeit, die wir unsren Mitbrüdern auf Erden erwiesen haben, für den Glauben an seine Verheißungen, die niemals trügen, für die Kraft, mit der wir den Fallstricken und Versuchungen des Bösen widerstehen. Ich verkündige Euch schließlich einen Gott, der mit dem für uns Sünder vergossenen Blute seines heiligen eingeborenen Sohnes all die Flecken und Mängel rein wäscht, die unsre Seelen vom Sündenfall der ersten Menschen ererbt haben, auf daß wir in die ewige Seligkeit eingehen zu den Heiligen, die da sitzen zur Rechten des Vaters in seiner himmlischen Herrlichkeit.

Noch nie habt Ihr etwas Wichtigeres von dieser Kanzel herab vernommen. Es kommt ein Tag, da die Taten der Menschen offenbar werden, ein Tag, da all ihr Tun und Lassen gerichtet wird, ein Tag, da irdische Macht und Größe nichts mehr gilt, da der Mensch all seines prunkenden Scheines entkleidet wird, da nicht das Ansehen seiner Freunde, nicht der Beistand seiner Macht, nicht die Achtung vor seinem großen Vermögen, nicht der trügerische Zauber seiner Beredsamkeit, — da ihn nichts vor der allmächtigen Hand seines Schöpfers und Richters rettet. Dann werden Lohn und Strafe nicht nach wunderlicher Laune und blinder Gunst, sondern einzig und allein nach den guten und schlechten Taten ausgeteilt werden. Dann wird die hienieden unglückliche oder verfolgte Tugend ihren Lohn finden und das triumphierende Lasier, das die Unschuld in seinem eitlen Wohlergehen geschmäht hat, die gerechte Strafe für seine Verbrechen erleiden.

Bewundert, o Christen, die unendliche Weisheit Eures Schöpfers! Unser Leben, die kurze, beschränkte Laufbahn, durch die uns die Zeit im Fluge dahinträgt, unser Leben, sage ich, ist nur eine Zeit der Prüfung, nur die Vorbereitung auf die Ewigkeit. Es ist kurz, damit unsre Standhaftigkeit in der Übung der Tugend nicht erschlaffe. Es ist kurz, damit wir den Bösen ihr Glück nicht neiden. Es ist kurz, damit unser Hoffen desto eher erfüllt werde, damit, wie der Apostel Paulus sagt155-1, unser Verlangen, von dem sterblichen Leibe erlöst zu werden und zu unsrem Gott und Heiland einzugehen, rascher befriedigt werde. Aber wie lang ist das Leben für die, so die Zeit der Gnade mißbrauchen und die Stimme nicht hören, die zum Volk Israel sprach: „Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich dich gerufen! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihrem Flügel versammelt; und<156> ihr habt nicht gewollt156-1!“ Wie lang ist der Weg für die, deren ganzes leben nur eine einzige Sünde ist!

Wo bliebe die Gerechtigkeit Gottes, meine Brüder, wenn die kalte Umarmung des Todes, die den Elementen die Atome unsres Körpers zurückgibt, den ganzen Menschen vernichtete, wenn das, was in uns lebt und denkt, wenn die tätige und lebendige Triebkraft unsres Handelns dem gleichen Schicksal verfiele wie der Stoff und, wenn ich so sagen darf, unter den gleichen Trümmern begraben würde? O Gott, wohin wäre Deine Gerechtigkeit, wenn Du, der Du die Welt geschaffen und ihr Gesetze gegeben hast, duldetest, daß die, die ihnen gehorchen, in Dürftigkeit, Verachtung und Verfolgung leben, oft in Ketten schmachten und als Bekenner Deines Namens und Deiner himmlischen Wahrheiten die grausamsten Martern erdulden muffen, wogegen es den Verleumdern und Henkern wohlergeht und sie oft auf jene höchste Stufe gestellt sind, die sie auf Erden den Göttern gleichmacht, sofern das bei der gewaltigen Kluft zwischen Gottheit und Menschheit geschehen kann? O Gott, wo wäre Deine Gerechtigkeit, wenn unzählige gute Werke, die unbekannt und verloren sind, wenn so viele Taten der Großmut, die ebenso liebend vollbracht wie bescheiden verborgen werden, nie ihren Lohn fänden, wenn so viele Verbrechen, die ebenso ruchlos voll, führt wie geschickt verhehlt werden, so viele geheime und heftige Leidenschaften, denen nur die Gelegenheit zum Ausbruch fehlte, unbestraft blieben?

Und doch, liebe Brüder, sehen wir das Tag für Tag. Das Leben der meisten Menschen ist gleichsam nur die Geschichte ihrer Missetaten. Das Glück der Verbrecher scheint das Lasier zu rechtfertigen, und wenn alles mit diesem Erdenleben zu Ende wäre, so führte der Weg der Tugend durch Dorngestrüpp nur zu Verzagtheit und Verachtung. Aber nein! Dank der Vorsehung und der Gerechtigkeit des Höchsten hat alles sein Ende, hat alles seine Schranken. Er sieht die Bösen gedeihen und lacht ihres eitlen Wohlergehens. Er hört sein Volk klagen, aber just durch sein Leiden zieht er es zu sich heran und bereitet ihm die ewige Seligkeit. Gott gibt uns hier seine Gesetze und dort unsre Freiheit. Er macht uns zum Schmied unsres Glücks, nicht allein auf dieser Welt, wo das Glück im Zeugnis unsres guten Gewissens besieht, sondern auch in jener Welt, wo uns das ewige Leben und die Gemeinschaft der Gläubigen winkt.

O Gott! Wie heilig sind Deine Gesetze und wie hehr ist ihre Erfüllung! Ich sehe einen Liebesbund zwischen dem Schöpfer und der Kreatur, ich sehe die Pflicht oder die Rückkehr zur Gerechtigkeit zwischen unsresgleichen, die zum gemeinsamen Leben bestimmt sind. Als die Pharisäer und Schriftgelehrten unsren himmlischen Erlöser fragten, worin das Gesetz und die Propheten bestünden, da antwortete er: „liebet Gott und liebet euren Nächsten.“ Darin, meine Brüder, liegen alle unsre Pflichten. Die ganze Welt, vor allem aber unser eignes Dasein mahnt uns zur Dankbarkeit gegen unsren göttlichen Wohltäter. Ja, ich wage zu sagen, die Notwendigkeit gesell<157>schaftlichen Lebens, unser eigner Vorteil lehrt uns, unsren Brüdern nichts anzutun, was wir nicht wollen, das sie uns tun.

Ist aber das Gesetz auch noch so offenbar, klar und kurz gefaßt, wieviel Mittel hat die Bosheit der Menschen doch erfunden, um seine Befolgung zu vereiteln oder Aus, nahmen zu finden! O glückliches Volk, 0 gesegnetes Volk, das in der einzigen und wahren Religion geboren ist, das von klein auf im wahren Gottesdienst, in der Übung der Pflichten erzogen ward, die der Höchste von Euch fordert und die Euch die Kirche lehrt! Welche Entschuldigung habt Ihr für die Übertretung der heiligen Gebote, die Euch so bekannt und vertraut sind? Mit welcher Stirn könnt Ihr vor Euren Schöpfer treten und wie dürft Ihr zu ihm sagen: „Uns allen ist Dein Wille bekannt, und wir alle lebten, als ob wir ihn nicht kennen?“ Wähnt nicht, die geringste Eurer Handlungen bliebe im verborgenen. Sehet den Geschäftsmann, der seinen Herrn listig hintergeht und ungestraft sein Vertrauen mißbraucht! Sehet den Wüst, ling, der die Freundschaft seines Freundes betrügerisch ausnutzt, um ungestraft Schande, Ärgernis und Unfrieden über sein Haus zu bringen! Sehet den Neidischen, der unter dem Schein von Treue und Anhänglichkeit seine Verleumdung in die schönsten Farben kleidet und unter dem Deckmantel der Tugend seinen Feind verfolgt! Ja, ich wundere mich nicht, wenn die Selbstsucht hundert Gestalten annimmt, um jene falschen Güter zu erwerben, jenes verfluchte Metall, das den Durst des Begehrlichen doch nie stillt und nur die oberflächliche, dumme Welt blendet. Ich wundere mich nicht, wenn Hof und Volt das Opfer eines Ehrgeizigen werden, dessen wilde Leidenschaft tausende von Menschenleben dem Ruhme eines einzigen Tages und dem Klang eines Namens opfert, der mit dem Rauch seiner Totenfackeln vergeht.

Doch es kommt ein Tag, da alles offenbar wird, da die geheimsten Gedanken Eurer Herzen, die Taten, die Ihr ohne Zeugen beginget, die Verbrechen, die Ihr im stillen ersannet, vor den Augen der ganzen Welt entschleiert sein werden, genau wie die Verbrechen, die am hellen lichten Tag stattfanden, da keine List und Verschlagenheit, keine Verhüllung mehr gilt, da der Mensch nackt dasteht mit all seinen natürlichen Gebrechen. Glaubt nicht, ich wollte Euch von einem unendlichen, allgegenwärtigen und allwissenden Gotte reden, der alles hört und sieht. Ich brauche mich nicht auf ihn zu berufen, meine Brüder! Ich halte mich an Euer eignes Geständnis; ich will nur in Eurem eignen Herzen forschen. Ihr Christen, wer unter Euch hätte noch nie die Stimme seines Gewissens vernommen, das sich wie ein Heiliger in seinem eignen Herzen erhebt und ihm seinen schlechten Wandel vorwirft? Wer unter Euch wäre so verderbt, daß er noch nie mit Entsetzen furchtbare Gewissensbisse über seine Misse, taten verspürt hätte? Die Stimme des Gewissens erschreckt die Schuldbeladenen, dringt in die Behausung der Großen, trotzt der Majestät des Thrones und verfolgt das Verbrechen in den Hütten der Armut so gut wie in den Palästen der Weltbeherrscher. Diese Stimme wird gegen Euch zeugen und Eure eigne Verworfenheit enthüllen an jenem großen Tage, da alles bekannt, alles offenbar wird. Wenn aber<158> Eure Sünden, Eure Flecken, Eure Lasier und Missetaten ans Licht kommen, so bedenkt, Ihr Sterblichen — jetzt, da es noch Zeit ist —, bedenkt, daß Ihr sie vor dem Richterstuhl eines erzürnten Gottes zu verantworten habt, dessen Rache unerbittlich sein wird!

O Gott! Wie groß ist Dein Erbarmen, aber wie furchtbar sind auch Deine Strafen! Aus den Anklagen unsres gequälten Gewissens erfährst Du nicht nur alle unsre Handlungen, sondern auch die verworfenen Beweggründe, aus denen wir Gutes taten. Mein Richter sieht mich an; er ist bereit, mein Urteil zu fällen; schon droht mir ewige Verdammnis. O Tag des Trostes für das Häuflein der Gerechten! O Tag der Verzweiflung für die Menge der Missetäter! Welch ein Anblick, meine Brüder! Alle Geschlechter der Erde, alle Völker, die sie seit Anbeginn der Welt bedeckten, steigen aus ihren Gräbern und treten vor den Thron des Allerhöchsten. Ihr Gott stehet sie an, ihr Gott richtet sie. Entweder werden sie in die ewige Seligkeit eingehen und Bürger des Himmels werden, oder sie werden den unreinen Geistern, den Tyrannen der Hölle überantwortet, die ihre schreckliche Freude an der ewigen Pein der Sterblichen finden, die sie verführt haben, und deren Qualen sie nun mit Wonne mehren. Da werden die Bösen, die es auf Erden gut hatten, ihr eitles Wohlergehen bereuen, das ihre Strafe verschärft. Da werden die Getreuen, die hienieden verachtet und gepeinigt wurden, sich ihres kurzen Leids freuen, das sie nun zur höchsten Seligkeit eingehen läßt. Die einen werden ihre späte Buße und ihr Beharren auf dem Wege des Verderbens beklagen, die andren ihr törichtes Hängen an der Welt und ihr völliges Vergessen des Jenseits. Andre wird es gereuen, daß sie den Warnungen ihrer Seelenhirten kein Ohr liehen, da es noch Zeit war und sie gemahnt wurden, ihre Herzen nicht zu verhärten. Wieder andre werden wehklagen, daß sie sich der Gewalt ihrer Leidenschaften überließen, die sie in den Abgrund gestürzt haben. Noch andre werden verzweifelt und untröstlich sein, daß sie einen Gott verkannten, den die ganze Natur ihnen verkündete, und daß sie die Unsterblichkeit leugneten, die ihnen nun zum Verhängnis werden soll!

Sehet, Ihr schlechten Christen, sehet, Ihr schuldbeladenen Seelen, sehet, wie der Höllenrachen sich auftut, Euch zu verschlingen! Denket daran, daß an diesem Orte der Pein und der Marter kein Erbarmen ist und daß eine unendliche Zeit, mit einem Wort, die Ewigkeit Euer Dasein endlos verlängert, um Eure Qualen unsterblich zu machen. Sehet, Ihr guten Christen, sehet, Ihr Getreuen, die Ihr des erlösenden Bluts Eures Heilands teilhaftig geworden seid, sehet, wie der Himmel sich herabsenkt, um Euch aufzunehmen! Sehet, wie der Höchste, den Ihr aufrichtig verehrtet, Euch in erneuter Liebe die Arme öffnet und Euch in den Schoß seiner Seligkeit aufnimmt. Sehet die Schar höherer Geister, die den Ruhm ihres Herrn und Euer Glück preist, daß Ihr eingegangen seid in die Gemeinschaft der Gerechten, deren ewige Glückseligkeit durch nichts mehr getrübt werden kann!

O Christen! Wären solche Gedanken Euch stets gegenwärtig, malte Cure Einbildungskraft Euch dies alles in den lebhaftesten Farben aus, — wie könntet Ihr<159> dann in diesen Tagen, da Ihr die Gnade noch zu erlangen vermöget, in diesen Zeiten der Prüfung so große Güter mißachten? Welcher menschliche Geist ist so leichtfertig und seicht, daß er den Unterschied zwischen vergänglichem und ewigem Glück nicht ermessen könnte? Wenn in nächtlicher Finsternis eine Feuersbrunst in unsren Städten ausbricht und der Sturm die geftäßigen Flammen rasch weitertreibt, wenn die rasende Glut rasch von einem Stadtviertel zum andren überspringt und Häuser und Gebäude einstürzen, wer unter Euch dankte dann nicht dem Unbekannten, der ihn weckte und zu ihm spräche: „Das Nachbarhaus brennt. Rette dich, solange es noch Zeit ist, oder die Flammen werden deine Wohnung ergreifen und du wirst vielleicht in ihnen umkommen, bevor du Zeit zum Entrinnen hast.“ Würdet Ihr nicht flugs Eure Wohnung verlassen und Euer Kostbarstes mitnehmen? Ach! Ihr schlaffen Christen, die Ihr Euren Geist an den toten Stoff hängt, die Ihr Euch an irdischen und vergänglichen Dingen genügen laßt: — wenn schon die Furcht, Eure Habe zu verlieren, wenn schon das Verlangen, ein Leben zu retten, das dem Tode verfallen ist und bleibt, Euch so viel Tatkraft verleiht, wenn Ihr dem, der Euch aus der dräuenden Gefahr riß, Dank wißt, — was sollt Ihr dann erst tun, wenn ich Euch von dieser Kanzel verkünde, nicht daß Euer Haus brennt noch daß Euer Leben gefährdet ist, wohl aber, daß Ihr ewig brennen werdet und daß Ihr Euch in ewiges Unglück stürzt, daß die Gefahr, die Euch droht, Euch in jedem Augenblick verschlingen kann? Rettet Euch, nicht aus diesem steinernen Hause, das Euch beherbergt, wohl aber aus den Sünden, die Euch in harter Knechtschaft halten! Rettet Euch aus dieser Welt des Verderbens, in die Euch lasterhafte Gewohnheiten und schlechtes Beispiel ziehen! Rettet Euch aus den Klauen des Bösen, der Euch knebeln und dem Verderben überantworten mill! Noch ist es Zeit. Aber vielleicht schon vor Ablauf des Jahres, wohl gar schon vor Schluß dieser Woche, ja was sage ich, vielleicht noch vor Ende dieses Tages wird der Tod, der über Eurem Haupte hängt, auf Euch niederfallen. Erhofft Euch keine Gnade von schwacher und später Buße! Wähnt nicht, die Zerknirschung, die Euch die Furcht abpreßt oder die Ihr dem Brauche bewilligt, genüge, um Eure Schlechtigkeit auszulöschen! Wißt Ihr denn, in welcher Gestalt der Tod Euch nahen wird? Wer sieht Euch dafür, ob Euer Geist in der Todesstunde nicht verwirrt oder völlig entschwunden sein wird, ob Ihr dann noch die Zeit habt, Euch mit dem Höchsten zu versöhnen, den Ihr zeitlebens so halsstarrig gekränkt habt? Welcher Gefahr setzest Du Dich aus, Du törichter Sterblicher! Wie kannst Du es wagen, für die vergänglichen Freuden oder die gewohnten Lasier eines vergänglichen Lebens das ewige Glück Deiner unsterblichen Seele preiszugeben? Wie kann Dich das Böse derart verblenden, daß Du Deinen wahren, dauernden VorteU nicht erkennst? Spricht man Dir von Dingen dieser Welt, die Dir naheliegen, dann scheint Deine Vernunft sich zu erhellen. Spricht man Dir aber von den himmlischen Dingen, die Dein Schicksal für ewig besiegeln, so scheint Dein Verstand Dich zu verlassen und in Stumpfheit und Taumel herabzusinken.

<160>

O Gott, wenn ich oft mit demütigem Flehen dem Schemel Deines Thrones nahte, wenn ich oft Dein himmlisches Erbarmen auf die Herde herabflehte,die Du mir anvertraut hast, wenn ich Dir auf Deinen heiligen Altären zu ihrem Helle so oft das Opfer des Lammes darbrachte, das sein Blut für unsre Sünden vergossen hat, so erhöre mich heute gnädig und gewähre mir die Erlösung aller dieser Andächtigen. Wenn Du einst Moses den Stab gabest, der lebendiges Wasser aus dem dürren Felsen schlug, so gib auch meinen Worten das wirksame Manna, daß sie diese steinernen Herzen, diese verstockten Sünder rühren und ihren Augen Tränen der Reue entlocken, daß die Lauen warm werden, die Schwachen Kraft erlangen, die Guten im Gehorsam gegen Deine Gebote bestärkt werden! Möge Deine Liebe alle Herzen erfüllen und sie zu guten Werken begeistern! Könnte ich doch zu meinem HeUand sprechen: „O Herr, wenn ich an dieser heiligen Stätte so oft das Opfer Deines Leibes und Deines göttlichen Blutes dar, brachte, siehe, diese habe ich um solchen köstlichen Preis erlöst!“ Möchte ich zu Dir sprechen können: „O mein Gott, siehe, hier bin ich mit allen, die Du mir anvertraut hast!“

Teure Gemeinde! Betet mit mir und erweichen wir mit vereinter Kraft unsren Gott, der seine Geschöpfe liebt, der den Tod des Sünders nicht will, sondern daß er Buße tue160-1, der nie unerbittlich ist, wenn wir ihn voller Zerknirschung und schmerzlicher Reue über unsre Missetaten aus tiefstem Herzen anstehen.

O Gott! HeUige unser Leben, auf daß uns allen das unaussprechliche Glück Deiner Seligen zuteU werde. Ruhm und Preis sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste von nun an bis in Ewigkeit! Amen!

<161>

Das himmlische Jerusalem
Ein Schwank für Voltaire
(1770)161-1

Und ich hatte Plato gelesen, und ich verstand nichts davon, und zur Kurzweil las ich einen Mathematiker, und ich sank in tiefen Schlaf, und ein Geist erschien mir und sprach zu mir: „Erhebe deine Seele!“ Und ich fragte ihn: „Habe ich eine?“ Und er antwortete: „Tu, als hättest du eine.“ Und ich erhob mich, und mich deuchte, Dinge zu sehen, die noch kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und kein Geist sich erdacht hat.

Als meine Verzückung wich, erblickte ich eine große Stadt. Die war, wie mich deuchte, mit Menschen bevölkert, die aus der Drachensaat des Kadmus entsprossen waren; denn sie verfolgten sich alle. Und ich fragte nach dem Namen der Stadt. Und sie antworteten mir, getauft ist sie Aon, aber eigentlich heißt sie die Verruchte161-2.

Und der Stoff, daraus sie gebaut war, glich mitnichten dem, daraus wir unsre Städte errichten. Und ich fragte den Geist: „Was ist das?“ Und der Irrwisch antwortete: „Die Grundmauern bestehen aus Hirngespinsten, der Kitt aus Wundern, diese Quadersteine stammen aus dem Steinbruch des Fegefeuers und jene glänzenderen aus den Ablässen.“ Ich, der ich nichts von diesem Kauderwelsch verstand, betrachtete den Bau der Stadt. Sie war befestigt, wie es im Altertum Brauch war, etwa so, wie man Babel darstellt. Ringsum liefen starke und hohe Mauern mit vorspringenden Türmen, die hießen: Turm der Dummheit, Turm der Vorurteile, Turm des Aberglaubens, Turm des Fanatismus und schließlich Turm des Teufels. Der sollte der größte sein.

Und ich fragte: „Wozu dient das alles?“ Und der Geist antwortete: „Das sind Sinnbilder.“ — „Und was sind Sinnbilder?“ fragte ich weiter. Der Kobold erwiderte: „Dinge, von denen du nichts verstehen kannst. Du bist in dem Lande, da die Einbildungskraft alles vermag, und es gibt einträgliche Einbildungen.“

<162>

Da zerteilte sich eine Wolke vor meinen Blicken, und ich sah alles, was je war, ist und sein wird. Die Stadt schien mir voller Aufruhr. Ströme von Blut flossen, und jeder Aufstand endigte mit Vertreibung etlicher Familien. Der Geist nannte mir die Namen der Verbannten. Die einen hießen Nestorianer, die andren Arianer, wieder andre Manichäer. Bei diesen einschläfernden Namen fielen mir die Augen zu. „Aber warum vertreibt man sie denn?“ fragte ich. — „Sie sehen nicht wie die übrigen, sondern anders.“ — „Sehen sie besser?“ fragte ich. — „Nein,“ erwiderte der Geist, „sie sind schielend, einäugig oder blind. Aber auf andre Weise als die Einwohner der Verruchten.“

Da erblickte ich Kriegsleute mit verbrämten Mützen; sie waren gerüstet und gewappnet mit Argumenten und zogen Ballisten und Katapulte hinter sich her. Die hießen in barbara, dario, celarent und in ferio162-1. Und ich fragte: „Was ist das?“ Und der Geist antwortete: „Große Kämpfe stehen bevor. O Verruchte, wieviel Feinde hast du! Du verdienst sie! Die auf dich eindringen, sind die Vorposten der Vernunft. Sie haben kein Heer hinter sich, sie werden nur gegen dich plänkeln, und du wirst sie verdammen! Siehst du jenen Helden? Das ist Gottschalk162-2. Du wirst sehen, wie sie ihn behandeln. Der dort nennt sich Valla162-3. Dies ist Berengar162-4, der dort ist Waldus162-5; er reißt eine kleine Bresche in die Mauer. Der dort, der stolzer Gekleidete, das ist der berühmte De Vinea162-6. Ihn wird man fälschlich beschuldigen, Pfeile geschossen zu haben. Der dort heißt Gerson162-7 und wird seine Tapferkeit beweisen. Dies ist der berühmte Sarpi, auch Fra Paolo genannt162-8, der Feind der Herrschaft und des Herrschers der Verruchten. Siehst du, wie er sie angreift?“ Nachdem das Geplänkel vorüber war, sah ich Scheiterhaufen errichten, und ich wandte den Blick ab; denn die Verruchte hatte eine starke Prätorianergarde von Henkersknechten; und wer die Gewalt in Händen hat, der besitzt von jeher und bis an das Ende der Zeiten eins der bündigsten Argumente, um recht zu behalten.

Da kam ein andrer Held daher. „Oh, den glaube ich zu kennen“, sprach ich. „Ich sah ihn in Rotterdam. Ist's nicht Erasmus?“ — „Ganz recht“, antwortete der Geist. „Doch er plänkelt nur in der frommen Vorstadt der Pediculosi162-9. Man schont ihn;<163> denn er könnte sich mit Stärkeren verbünden, und er weiß im Innern der Feste zu gut Bescheid.“

Dann aber deuchte mich, als rückte ein ganzes Heer gegen die Verruchte an. Ich war erstaunt ob seiner Stärke und fragte nach dem Namen des Volkes. Der Geist antwortete: „Es sind mehrere Völker. Die einen nennen sich Waldenser, die andren Wycliffiten, wieder andre Taboriten163-1. Das da sind die Utraquisten163-2, und die letzten sind die Socinianer163-3 und Anabaptisten163-4 und alle Isten der Welt.“ — „Wie?“ rief ich, „diese Leute wollen Krieg führen? Haben sie denn die Enzyklopädie und die Enzyklopädisten nicht gelesen?“163-5 — „Ihre Werke“, erwiderte der Geist, „waren damals noch nicht geschrieben. Aber die Enzyklopädisten kommen auch noch dran. Gedulde dich nur, und du wirst sie kämpfen sehen.“ Indes nahm die Belagerung ihren Anfang. Das Blut stoß in großen Strömen, und die Vorstädte wurden erobert. Es war ein entsetzliches Gemetzel. Eine finstre, wilde Wut beseelte die Kämpfer. Sie schlugen sich im Dunkeln herum, doch die Stadt ward nicht erobert.

Die Belagerung ward aufgehoben, und abermals erschien ein Schwarm von Plänklern. Sie waren unverwundbar und von unbezwinglicher Kraft. „Der eine“, sagte der Geist, „heißt Galilei, der Sonnenritter. Er will, daß die Erde sich dreht, aber die Verruchte will sich nicht drehen. Der andre da ist der Ritter Gassendi163-6. Er möchte, daß die Verruchte ihren Unrat ausräumt, aber die Verruchte liebt ihren Unrat. Der wackre Kämpe, der nach ihm kommt, das ist Bayle, der Ritter Pyrrhons163-7, ein großer Ingenieur. Er würde die Stadt wohl erobern, wenn er Truppen hätte. Toland163-8 und Woolsion163-9 sind seine Knappen.“ — „Und warum“, fragte ich, „hat er keine Truppen?“ — „Weil er nicht das rechte Geld hat, um sie zu besolden“, antwortete der Geist. — „Und welches Geld ist das?“ — „Es sind Guineen, die mit dem Stempel des gesunden Menschenverstandes geprägt sind. Das Publikum kennt diese Münze nicht. Sie hat weder in Paris, noch in Madrid, noch in Genua, noch in Rom, Wien usw. Kurs und Geltung.“ — „Trotzdem“, versetzte ich, „gehen diese Leute geschickt mit ihrem Sturmbock um. Würden sie unterstützt, so wäre es um die Verruchte geschehen.“ Gleichwohl leistete die Mauer Widerstand. Die Einwohner und der Despot spotteten dieses Krieges. Das tonsurierte Volk schrie, die Prätorianer wetzten ihre Messer, und die Kämpfer verschwanden.

Dann folgte eine neue Szene. Ein lichtstrahlender Ritter in funkelnder Rüstung erschien am Horizont. Die Leute liefen auf seinen Ruf herbei. Die aus der Stadt entwichen und kamen zu ihm, und bald hatte er ein Heer beisammen. „Was ist das?“ fragte ich. „Welcher Wundermann tritt mir vor Augen?“ — „Ein himmlischer Geist<164> gleich mir,“ antwortete der Kobold, „und ein größerer Kriegsmann als Alexander, Cäsar, Dschingiskhan und Mohammed. Er wird sie alle durch seine Eroberungen übertreffen; denn man erobert leichter Persien, das Reich des Großmoguls und das Römische Reich als die Verruchte. Zur Besoldung seiner Truppen hat er das Geld seiner Vorgänger umgeprägt. Er hat die Legierung des guten Witzes und das Salz des Epigramms hinzugesetzt, und er bringt viele Truppen auf; denn jedermann will lachen, und nur wenige verstehen sich aufs Denken.“ Und das Heer rückte vor die Stadt, und ich sah eine große Belagerungsmaschine, von den Enzyklopädisten gezogen. Die rückte gegen die Mauer, und ich fragte, wie sie hieße, und der dienstfertige Geist erklärte es mir. „Sie heißt Helepolis164-1,“ sagte er. — „Ach, die kenne ich“, rief ich. „Sie diente in der Diadochenzeit zur Belagerung von Seleukia.“ — „So ist es“, nickte der Geist. Und ich sah, wie sie sich bewegte. Sie stieß mit wunderbarer Kraft gegen die Mauer, also daß ein Teil davon einstürzte. Und der Krieg war unblutig, und alle Welt lachte, und ich lachte mit.

Da plötzlich — o welch ein Schauspiel! Die Haare stehen mir noch zu Berge, wenn ich daran denke! — fliegen zwei Ungeheuer aus der Verruchten auf, schwingen sich empor, schweben über der Stadt und verbreiten Finsternis. Das eine war männlichen, das andre weiblichen Geschlechts. Sie hatten riesige Fledermausflügel, scheußliche Leiber und rote, funkelnde Augen. Wut und Raserei standen auf ihrer Stirn. Das eine schwang brennende Fackeln, das andre hatte die Hände und den Gürtel voller Dolche. Und sie schrieen mit furchtbarer Stimme: „Es ist aus! Wir entfleuchen! Dies ist dein letzter Tag, unselige, bejammernswerte Stadt! Du siegst, Held des Lichtes! Fanatismus und Unduldsamkeit kehren in die höllische Finsternis heim. Lebe wohl, Verruchte, lebe wohl für immer!“ Schatten umhüllte sie, und sie verschwanden gleich einer sich zerteilenden Wolke.

Eine Welle blieb ich verblüfft und verzückt stehen, so verwundert war ich. Der Geist beruhigte mich und brachte mich wieder zu mir, und ich sah: zur Verteidigung der Stadt blieben nur noch alte, abgelebte Weiblein und der ärgste Pöbel zurück. Die Türme der Dummheit und des Teufels standen zwar noch, aber die gelockerten Steine fielen allenthalben herab, und ein Stoß der siegreichen Helepolis hätte alle Bollwerke in Trümmer gelegt. Und ich war voll Bewunderung und fragte den Geist: „Wer ist der Held, der solche Wunder vollbringt?“ — „Der Held, der deine Bewunderung so sehr verdient,“ gab er zur Antwort, „heißt François Marie Arouet de Voltaire. Hätte er noch mehr Namen, er würde sie alle unsterblich machen.“

Das bewegte mich tief, und mein Geist war verwirrt und betroffen. Und ich erwachte und schrieb meinen Traum nieder und sandte ihn nach der Schweiz.

<165>

Traum
(1777)165-1

Ich hatte einige Tage hintereinander in Gesellschaft liebenswürdiger Leute verbracht. Darunter befanden sich auch einige von reger Einbildungskraft. Ihr Feuer hatte sich meinem Geiste mitgeteilt, und meine Seele geriet in Verzückung. Die Unterhaltung riß uns fort, und wir plauderten die Nächte durch. Als ich gestern heimkehrte, war mein Geist noch voll von allem, was tagsüber diskutiert worden war. Mein Blut war erhitzt, eine Fülle von Gegenständen drängte heran. In diesem Zustande, wo alle meine Geister mir zu Kopfe stiegen, legte ich mich zur Ruhe und hatte folgenden Traum.

Mich deuchte, ich sei in einer ungeheuren Ebene, die gewaltige Volksmassen bedeckten. Es war, als hätten sich alle Völker des Erdkreises dort ein Stelldichein gegeben. Bei näherem Zusehen gewahrte ich jedoch, daß die Menge sich um verschiebdene Bühnen scharte, auf denen Quacksalber mit ihren Hanswürsten ihre Mittel anpriesen. Jeder von ihnen wollte möglichst viele an sich locken. Die Neugier reizte mich, an die nächste Bühne zu treten. Ein langbärtiger Mensch mit Bocksgesicht stand dort und rief das Volk mit schallender Stimme herbei. „Kommt zu mir“, so sprach er. „Ich besitze die Geheimnisse der urältesten Heilkunst und die unbekanntesten Zauber. Ich lasse die Berge wie Ziegen springen und die Ziegen wie Berge. Ich kann Sonne und Mond in ihrem Laufe aufhalten165-2. Die Fluten teilen sich auf mein Gebot und geben freie Bahn165-3. Ich verwandle Wasser in Blut165-4. Mit meinem Zauberstab mache ich Schlangen165-5. Vor allem aber bin ich Meister in dem wunderbaren Geheimnis, Läuse zu machen165-6. Wer unter Euch an meinen schönen Kenntnissen teil haben will, der braucht es nur zu sagen. Ich schneide ihm ein Stückchen Haut ab, und er wird sein wie ich.“

Alsbald bringen die Weiber ihm ihre Kinder, und jede drängt sich, die erste zu sein, deren Knabe beschnitten würde. Diese Zeremonie rief bei mir mehr Ekel als<166> Erbauung hervor, trotzdem war jedermann zufrieden. Sein Hanswurst mit Namen Ezechiel war nackt und bloß wie ein Affe und hatte einen Buckel wie ein Packsattel. Alles Volk lachte, da er eine Brotschnitte aß, deren Gestank die ganze Versammlung verpestete166-1. Wie der Hanswurst behauptete, stärkte diese Nahrung die Augen und gab ihnen die Kraft, in die Zukunft zu blicken. Doch es wollte niemand an seinem Frühstück teilnehmen.

Sein Nachbar war ein Quacksalber von andrem Schlage. Er schrie aus Leibeskräften: „Flieht jenen Kurpfuscher, der Euch betrügt. Verlaßt ihn und kommt zu mir. Ich allein bin unfehlbar. Meine Heilmittel haben genügende Kraft und Wirkung. Die Substanzen verschwinden beim Schall meiner Stimme, wiewohl die Akzidenzien bleiben166-2. Nach meiner Rechnung ist drei gleich eins, das ist offenbar. Wenn mein Nachbar Euch zwickt und schneidet, ich besprenge Euch nur mit Wasser und zapfe Eure Börsen an. Nichts ist ungesunder, nichts verderblicher als eine volle Börse. Bei mir könnt Ihr Heilmittel gegen die gefährlichsten Krankheiten kaufen, zum Beispiel gegen das Leiden des Fegefeuers. Ich habe Säcklein voller Knochen gegen den panischen Schrecken und Ablaßelixiere gegen die Heftigsien und schrecklichsten Übel.“

Sein Spaßmacher war ein Tölpel, der sich zur KurzweU des Volkes starke Stockschläge auf die Brust geben ließ. Er hieß Augustin, umtanzte humpelnd ein Grab und trieb allerlei Mummenschanz, der dem Volke wohlgefiel, mir aber höchst gemein dünkte. Gleichwohl bemerkte ich mit Erstaunen, wie vor jener Bühne die Börsen der Zuschauer sich leerten und die des Quacksalbers sich zum Platzen füllte. Diese Leute lebten nur in der Einbildung, in künftigen Zeiten, und brüsieten sich im voraus mit der Gesundheit, deren sie sich nach Jahrhunderten erfreuen würden.

Meine Neugier zog mich sogleich zu einer andren Bude, deren Quacksalber, ein Bursch mit finstrer, mürrischer Miene, unbarmherzig über seinen Nachbar Herzog. „Glaubt nicht, was der verfluchte Gaukler Euch weismacht!“ schrie er. „Hütet Euch, diesem Schurken zu nahen. Er verdirbt und zerstört die alte Heiltunsi. Ich besitze sie noch; nicht sub una, sondern sub utraque166-3. Wir haben eine prächtige Arznei, die aus sub, in und cum besteht, eine andre aus sechs Gran Fatalismus und zwei Gran Freiheit, die wir von dem großen Alchimisten Calvin haben166-4. Gleichwohl besitzt der<167> Zwieback167-1 wirksame Kraft; wir geben ihn für das, was er ist167-2. O treffliches Allheilmittel! O, welche Wunderkuren hat er schon vollbracht! Wir lassen Wesen existieren, ohne daß sie sich an einem Orte befinden. Damit aber all diese Mittel den gewünschten Erfolg haben, müssen die Kranken ihre Seele erheben und ihr ganzes Vertrauen in unsre Arzneien setzen.“

Da unterbrach ihn sein Hanswurst, der ihm über die Schulter blickte. „Glaubt nicht alles, was er sagt, Ihr Herren“, sprach er. „Traut Ihr auch nur der Hälfte seiner Reden, so könnt Ihr Euch immer noch den Magen verderben und Euch an Abgeschmacktheiten übernehmen.“ Bei diesen Worten drehte sich der Quacksalber wütend um und schlug ihn gewaltig. „Seht Ihr,“ sprach der Possenreißer, „er hat unrecht; denn er wird böse. Lieber Meister,“ fuhr er fort, „ehrt Socinchen167-3 (so hieß er selbst), oder er wird sich eines Tages Eurer Bühne bemächtigen und Euch davonjagen.“ Großes Gelächter erscholl ob dieser Hanswurstiade.

Ich verließ jene Schar und ging zu einem Burschen, der auf seiner Bühne Fratzen schnitt, bei denen sich eine Schwangere entsetzen konnte. Er zitterte. Auch zitterten alle, die um ihn standen167-4. Darob erstaunte ich und fragte einen aus dem Volke, warum sie alle zitterten und warum sie nach Herzenslust so seltsame Faxen trieben. „Das geschieht,“ sagte jener, „um den Körper geschmeidiger zu machen. Ihr wißt zweifellos, daß im neuen sächsischen Exerzierreglement ein ähnlicher Brauch eingeführt ist167-5. Sie schlagen Rad mit den Armen und wiegen sich abwechselnd auf einem Beine. Das erhält den Körper beweglich und die Glieder behende; nichts ist so gesund.“ Alsbald begann der Quacksalber zu schnauben. Dann gab er uns teils näselnd, teils mit Kehllauten unverständliches Zeug zum besten. Die Zuhörer vergingen vor Wonne, klatschten in die Hände und riefen Bravo. Ich aber hatte genug davon und verließ den Begeisterten.

Dann trat ich an eine andre Bühne, aber ich gewann bei dem Wechsel nichts. Der Mann salbaderte über das fleckenlose Lamm, das sich ebenso selten fände wie der Apisstier167-6. Wer je von diesem Lamm koste, so sprach er, der werde geheilt vom Reichtum, der die wahre Quelle aller Krankheiten sei. Und barmherzig nahm er seinen Begeisterten alles ab und eignete es sich selbst an. „Denn“, so sprach er, „ich ziehe Eure Gesundheit der eignen vor, ich opfre mich als Sündenbock für das Heil meiner verehrten Zuhörer.“ Ich, der diesen Taschenspielerkunststücken mit ruhigem Blick zusah, merkte wohl, wie der Schelm mit seinem fleckenlosen Lamm den Reichtum all der Dummköpfe gewann, die den Betrug in ihrer Unwissenheit garnicht merkten.

<168>

Am andren Ende des Platzes tauchte ein Mann mit einem großen Turban auf. Er war ein Quacksalber wie die andren und heilte seine Kranken durch das Mittel des „schmalen Steges“168-1, durch häufige Bäder und durch Fasten, die er ihnen verschrieb. Den barmherzigen Seelen, die Hunde und Katzen fütterten, versprach er schöne Houris168-2. Der Fatalismus spielte bei all seinen Heilmitteln eine Rolle, und seine Zuhörer waren in einem Zustande der Erschlaffung, als hätten sie eine zu große Dosis Opium genommen. Sein Hanswurst nannte sich Derwisch. Seine ganze Darbietung bestand darin, daß er sich unaufhörlich auf demselben Fleck im Kreise drehte, bis er schließlich ganz von Sinnen und leblos umfiel168-3, und jedermann klatschte ihm Beifall. Dies Schauspiel stieß mich durch seine Wildheit ab. Ich verließ die Bühne und näherte mich einer andren.

Dort stand ein Wesen, das nichts Menschlichem glich. Es hatte kleine Schlitzaugen, einen Katzenbart am Kinn und eine wie mit Absicht plattgedrückte Nase. Ich dachte bei mir, man solle gegen kein Gesicht Vorurteile hegen, und in diesem Kopfe könne gesunder Menschenverstand wohnen, so gut wie in einem andren. Aber mein Mann enttäuschte mich sehr bald. Er verteilte Nägel an das Volk, um sie sich in den Hintern zu stoßen168-4. Er behauptete, das zöge die Krankheit in diesen KörperteU und entlastete die andren. Ja, er versicherte mit beispielloser Unverfrorenheit: wer nach seinem Tode nicht ein Truthahn noch ein Postpferd werden wolle, der müsse Kopf, Arme und Füße in eine Art von Marterholz stecken, das alle Glieder des Patienten zusammenschnürte. Das Volk gehorchte ihm stumpf. Ich sah an die fünfzig vernagelte Hintere und eine Unmenge von Zuhörern, die spannten ihre Leiber in das Joch, das der Quacksalber ihnen auflegte. Ein unflätiger Spaßmacher, der bei ihm stand, ließ sich von den Weibern ein Glied küssen, das sonst zu andren Dingen gebraucht wird, und der blöde Pöbel klatschte bei all diesen abstoßenden Gemeinheiten stumpfsinnig Beifall.

Ich fände kein Ende, wollte ich die Zahl der Schelme und Verbrecher beschreiben, die sich ihr Brot durch Mißbrauch der Leichtgläubigkeit des Volkes verdienten. Genug, daß sie alle darin einig waren, sich untereinander zu hassen und zu beschimpfen und Abgeschmacktheiten zum besten zu geben, die hinter den plumpsten Ammenmärchen nicht zurückblieben.

Unter diesem großen Schwarm der Betrogenen fand ich ein paar denkende Köpfe, die nur dabei waren, um festzustellen, wie weit die Torheit der Menschen gehen kann. Ich sprach sie an und fragte sie, was sie von alledem hielten. „Ach!“ sagte einer von ihnen, „es erbarmt uns der armen Menschheit! Der gemeine Verstand ist bei ihr nicht so allgemein, wie man annehmen sollte. Die große Menge der Dummen bringt Betrüger hervor. Wir begnügen uns damit, weder zu diesen noch zu jenen zu gehören und nie etwas zu glauben, was unser Verstand verwirft.“

<169>

Diese Worte reizten mich, Fragen an die begeisterten Zuhörer der Quacksalber zu stellen, um ihre Denkweise zu erfahren. Ich nahm mir gleich einen beiseite und fragte ihn, ob er Leute kenne, die durch ihre Arzneien gehellt worden seien. „Nein“, entgegnete er. „Ihre Wirkung tritt erst nach achtzig oder hundert Jahren, ja nach mehreren Jahrhunderten ein.“ Seine Dummheit trieb mir das Blut ins Gesicht. „Geh!“ sprach ich. „Du verdienst, betrogen zu werden; denn Du willst es selber! Wenn Ihr von Eurer Vernunft Gebrauch machtet, gäbe es keine Quacksalber mehr auf der Welt.“

Ich wollte fortfahren, doch mein Blut war in solche Wallung geraten, daß ich jählings erwachte. Ich wußte nicht, ob alle jene Traumbilder Wahn oder Wahrheit waren. Doch wie ich mir die Augen rieb, erwachte ich völlig und begriff, daß ich schlecht geträumt hatte. Aber ich wandte mich weder an Josef noch an Daniel169-1, um eine Erklärung für meinen Traum zu finden. Ich verscheuchte aus meinem Geiste alle diese für die Menschheit so demütigenden Bilder, die mich tief verletzten. Zufällig fand ich in einem Winkel das Buch der Weisheit, das dem Salomo zugeschrieben wird, und vergaß alles andre über den Worten: „Freue Dich, und benutze die Zeit zum Genießen; denn Du weißt nicht, ob Du es morgen noch kannst.“169-2

<170>

103-1 Der vom König besorgte Auszug aus der Kirchengeschichte von Claude Fleury erschien mit der obigen Vorrede 1766 in Berlin. Die Ausgabe war als Übersetzung aus dem Englischen bezeichnet, als Druckort Bern genannt. Papst Klemens XI V. setzte das Buch 1770 auf den Index.

103-2 41—54.

104-1 Vgl. Bd. VII, S. 235.

105-1 Nicht der Anfang des Johannesevangeliums ist interpoliert, sondern die Stelle über die Dreieinigkeit, I. Johannes V, 7.

105-2 2. Makkabäer, XII, 40ff.

105-3 Die Pseudo-Isidorischen Detretalien sind eine Frankreich im 9. Jahrhundert entstandene, unter dem Namen des Isidorus Mercator gehende Sammlung gefälschter päpstlicher Briefe und Verfügungen, die später für die Behauptung des Primats des Papsttums verwandt wurde.

106-1 Das sogenannte patrimonium Pein, den Kern des späteren Kirchenstaates.

106-2 Leo III.

106-3 1073—1085.

106-4 Diese Bannbulle gegen die Ketzer wurde vielmehr 1362 von Papst Urban V. erlassen.

108-1 Nur an dem Zustandekommen des Zweiten Kreuzzugs (1147—1149) war Abt Bernhard von Clairvaux beteiligt.

109-1 1414—1418.

109-2 1378—1417.

110-1 1545—1563.

113-1 Apollonios von Tyana in Kappadotien, neupythagoräischer Philosoph, Sittenlehrer und Magier starb um 100 n. Chr. in Ephesos. Er wurde u. a. von Voltaire mit Jesus zusammengestellt. Im Frühjahr 1772 ließ sich König Friedrich die englische Übersetzung des „Lebens des Apollonios von Lyana“ von Charles Blount (London 1680) mit den Anmerkungen von Lord Edward Herbert von Cherbury († 1648) aus London kommen, um, wie er sagt, „mit dieser Seltenheit seine Bibliothek zu bereichern“. Nach diesem Werke veranstaltete er darauf 1774 eine Ausgabe in französischer Übersetzung, die Professor Castillon besorgte, und schickte ihr die obige „Widmung“ vorauf.

113-2 Römischer Statt, Halter von Bithynien, dann von Alexandra (um 300 n. Chr.).

113-3 Der französische Geschichtsschreiber Sebastian Lenain de Tillemont (1637—1698), Verfasser der „Mémoires pour l'histoire ecclésiastique des six premiers siècles“ (Brüssel 1694).
     VIII

114-1 Am 21. Juli I773.

115-1 Nach dem Vorbild der „Lettres persanes“ von Montesquieu gibt König Friedrich in der obigen, im Frühjahr 1760 verfaßten Flugschrift eine Kritil des Systems der römischen Kurie. Sie bedeutet nach seinen Worten „einen Tatzenhieb gegen den Papst, der die Degen unsrer Feinde segnet und Königs, Mördern in der Kutte eine Freistatt gewährt“, „einen Schrei der empörten Vernunft gegen das schmähliche Gebaren dieses Baal-Papstes“. Für die Verleihung des geweihten Hutes und Degens durch Klemens XIII. an Feldmarschall Dann und für die Aufnahme der nach dem Attentat des Paters Malagrida auf König Joseph I. aus Portugal vertriebenen Jesuiten im Kirchenstaate vgl. Bd. III, S. 153 f.

115-2 Mustapha III. war am 28. Oktober 1757 seinem Vetter Osman III. auf dem Throne gefolgt.

116-1 Der Himmel.

118-1 Vgl. S. 115, Anm. I.

119-1 Indier aus der Handelskaste, die an die Seelenwanderung glauben.

119-2 Nachkommen der alten Perser und Anhänger der Lehre Zoroasters.

120-1 „La Somme des péchés qui se commettent en tous états“, von Baptist Bauni, einem französischen Jesuiten, erschien 1634 und wurde mehrmals neu gedruckt.

120-2 „Opus morale in praecepta Decalogi, sive summa casuum conscientiae“ (Köln 1614); Consilia, seu opuscula moralia (Lyon 1635).

120-3 Anspielung auf die Tracht der Kardinale.

121-1 Auf dem Konzil in Trient. Vgl. S. 110.

122-1 Feldmarschall Dann. Vgl. S. 115, Anm. I.

123-1 Der Anspruch Frankreichs auf den einträglichen Stockfischfang in Neufundland war einer der Streitpunkte, die zum französisch-englischen Koloniallrieg geführt hatten. Mit dem Ausbruch dieses Krieges erfolgte der allgemeine europäische Systemwechsel, es bildete sich die Koalition der Kaiserhöfe und Frankreichs, gegen die König Friedrich dann im Herbste 1756 zu Felde zog.

127-1 Die obige im Frühjahr 1771 verfaßte Satire bezieht sich auf den Russisch-Türkischen Krieg, der Ende 1768 zum Ausbruch kam. In diesem Kriege standen den Russen die Türken und die vom römischkatholischen Klerus unterstützten polnischen Konföderierten gegenüber (vgl. dazu das satirische Epos „Der Konföderiertenkrieg“ in Bd. IX).

127-2 Beim Ausmarsch des Großwesirs aus Konsiantinopel im Frühiahr 1769 war der österreichische Gesandte mit seiner Familie von fanatischen Türken mißhandelt worden.

127-3 König Ludwig XV. von Frankreich.

128-1 Ehrenpunkt.

128-2 Vgl. S. 129 ff

129-1 Unter dem Druck Rußlands war auf dem Warschauer Reichstag 1768 die politische Gleichstellung der Dissidenten, d. h. der Griechisch-Katholischen und der Evangelischen, mit den Römisch-Katholischen festgesetzt worden.

129-2 Der Patriarch Photius von Konstantinopel erklärte 866 das Ausgehen des HeUigen Geistes nicht nur von Gottvater, sondern auch vom Sohne, für eine Ketzerei der Abend, länder und wurde dafür vom Papst in den Bann getan. Zur dauernden Trennung der römisch, katholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche kam es jedoch erst 1084.

129-3 Die Brücke al sirât (der Pfad, der Weg), die über die Hölle führt und dünner als ein Haar und schärfer als ein Schwert ist. Während die Auserwählten sie mit Windeseile überschreiten, gleiten die Verdammten in die ewigen Flammen hinab.

130-1 Gemeint ist die Spaltung der Mohammedaner in die Sunniten, die die Sunna, die zur Ergänzung des Korans niedergeschriebene Tradition anerkannten, und in die Schiiten, die diese Tradition verwarfen.

131-1 Die Russen hatten die Häupter der Opposition auf dem Warschauer Reichstag von 1767/68, die Bischöfe von Krakau und Kiew, Soltyl und Zalusti, verhaftet und in Gefangenschaft geführt.

131-2 Kardinal Ganganelli bestieg als Klemens XIV. den päpstlichen Thron am 19. Mai 1769.

132-1 Nach dem Vorbild von Voltaires „Mandement du révérendissime père en Dieu, Alexis, archevêque de Novogorod la Grande“ verfaßte König Friedrich im Frühjahr 1766 den obigen „Hirtenbrief“, um seinen Freund Jean Baptist de Boyer, Marquis d'Argens (1704—1771), der im September 1764 in seine Heimatstadt Air in der Provence gereist war, zur Rücklehr nach Potsdam zu bestimmen. Daher sieht auch in der Überschrift statt Erzbischof Bischof von Aix, um anzudeuten, daß es sich nur um ein fingiertes Schriftstück handelt.

132-2 Nach Markus XIII, Vers 21 f., Lukas XXI, Vers 8.

132-3 Nach II. Thessalonicher II, Vers II.

134-1 Markus VII, Vers 34.

134-2 D'Argens war Verfasser der „Lettres chinoises“ (1739), „Lettres cabalistiques“ (1741), „Lettres juives“ (1742), der „Philosophie du bon sens“ (1737). Ferner gab er in Übersetzung und mit Kommentar heraus: „Ocellus Lucanus, Sur I'univers“ (1762), „Timée de Locres, Traité de la nature et I'âme du monde“ (1763) und die „Défense du par l'empereur Julien“ (1764).

136-1 4. Buch Moses, Kap. XVI.

137-1 Der König schickte den obigen, 1779 geschriebenen „Kommentar“ an d'Alembert mit den Worten: „Er ist nach den Grundsätzen von Huet, Calmet (vgl. Anm. 3), Labadie und so vielen andren Grublern verfaßt, deren irregehende Phantasie in gewissen Büchern fand, was nie darin gestanden hat.“

137-2 Jean George Lefranc Marquis de Pompignan, Bischof von Puy-en-Velay und seit 1774 Erzbischof von Vienne im Dauphine, war der Bruder des Dichters Jean Jacques Lefranc Marquis de Pompignan, der 1736 Voltaire bezichtigt hatte, in seiner „Alzire“ ein Plagiat an ihm begangen zu haben. Eine neue Fehde zwischen Jean Jacques und Voltaire entspann sich 1760 bei Lefrancs Aufnahme in die Akademie. 1763 erließ der Bischof einen Hirtenbrief gegen die PHUosophen, womit er namentlich Voltaire und Rousseau meinte. Voltaire antwortete mit der „Lettre d'un Quaker à J. G. Lefranc de Pompignan“ und einem „Hirtenbrief des demütigen Bischofs von Alethopolis“ (Wahrheitsstadt). In den Kreis dieser Satiren gehört auch die obige „Vorrede des Bischofs von Puy“.

137-3 Augustin Calmet (1672—1757), Abt von Senones in den Vogesen, Verfasser eines „Commentaire littéral sur tous les Iivres de I'ancien et du nouveau Testament“ (Paris 1727—1716).

137-4 Abbe Tamponnet, Zensor der Enzyklopädie.

137-5 Gehörte zur Diözese von Puy.

138-1 Spanischer Bischof(1471—1566), der die Mexikaner gegen die Bedrückung der Spanier in Schutz nahm.

138-2 Karl von Guise (1525—1574).

138-3 Die griechische Übersetzung des Alten Testaments durch jüdische Schriftgelehrte, die siebzig Dolmetscher.

141-1 Wörtliche Wiedergabe des Märchens von Perrault aus den „Contes de ma mère l'Oie, ou Histoire du temps passé“, Paris 1697.

148-1 Vgl. Chronika II, Kapitel XXIV. Vers 20 f.

150-1 Namen Gottes, von Luther verdeutscht: Elschaddai als allmächtiger Gott (I. Mose XVII, I), Adonai als Herr (II. Mose VI, Vers 3), Eloah (plur. Elohim) als Gott.

150-2 II. Könige II, Vers 23f.

151-1 Im Jahre 63 v. Chr.

152-1 Wörtlich Diener, eine jüdische Sekte in Ägypten.

152-2 Mit Absicht ist „Blaubart“, die theologische Ausdeutung eines Ammenmärchens, hier neben das „Hohelied“ gestellt, ein altjüdisches Liebeslied, das dle Theologen bekanntllich als Liebeslied des „himmlischen Bräutigams“ (Christus) an die Kirche ausgelegt haben.

152-3 Faustus Socinus (1539—1604) leugnete die Gottheit Christi.

154-1 Angeregt durch die Lektüre der „Oraisons funèbres“ von Bossuet und Fléchier, hat der König die obige Predigt im Herbst 1757 begonnen und im Januar 1759 vollendet.

155-1 Epistel an die Römer VII, Vers 24.

156-1 Nach Matthäus XXIII, Vers 37.

160-1 Hesekiel XVIII, Vers 23; II. Epistel Petri III, Vers 9.

161-1 Von dem König mit einem Schreiben vom 12. Dezember 1770 an Voltaire in Ferney übersandt.

161-2 L'Infâme, nach Voltaires Schlachtruf gegen die Kirche: „Écrasez l'infâme.“

162-1 In der älteren Logik gebräuchliche Formeln für Vernunftschlüsse.

162-2 Der Mönch Gottschall von Orbais († 868), Anhänger der Augustinischen Prädesiinationslehre, 848 als Ketzer zu lebenslänglichem Kerker verurteilt.

162-3 Laurentius Valla (1407—1465), Humanist und päpstlicher Sekretär, behauptete zuerst die Unechtheit der Konstantinischen Schenkung.

162-4 Berengar von Tours († 1080), Scholastiker, focht die Transsubstantiationslehre an.

162-5 Petrus Waldus oder Valdez, der Gründer des Waldenserordens (nach 1170).

162-6 Petrus de Vinea († 1249), Kanzler des Hohenstaufenkaisers Friedrich II.,. von der Kirche exkommuniziert, 1249 als Hochverräter verhaftet und geblendet.

162-7 Jean Charlier de Gerson (1363—1429), Kanzler der Universität Paris, in Pisa und Konstanz Verfechter de.- Lehre der Präeminenz der Konzile vor dem Papste.

162-8 Fra Paolo Sarpi (1552—1625), italienische: Historiker, Verfasser der „Geschichte des Tridentiner Konzils“ (1619).

162-9 Anspielung auf die Schrift Voltaires: „Instruction du gardien des Capucins de Raguse à frère Pédiculoso partant pour la terre sainte.“

163-1 Der radikale Teil der Hussiten.

163-2 Vgl. S. 166.

163-3 Anhänger des Faustus Cocinus (vgl. S. 152).

163-4 Wiedertäufer.

163-5 Vgl. Bd.VI l, S. 247 s.

163-6 Pierre Gassendi, französischer Physiker (1592—1655), Verfasser der „Institutio astronomica“, der Biographien von Tycho de Brahe und Kopernilus.

163-7 Vgl. S. 17.

163-8 John Toland (1670—1722), englischer Freidenker.

163-9 Thomas Woolsion (1679—1731), englischer Freidenker, Verfasser der Fourth Freegift to the Clergy (1724).

164-1 So hieß die Belagerungsmaschine, die Demetrios Poliorketes erfunden hatte.

165-1 Von dem König mit einem Schreiben vom 9. Juli 1777 an Voltaire überrsandt.

165-2 Josua, Kap. X, Vers 12—14.

165-3 Anspielung auf den Durchzug der Israeliten durchs Rote Meer.

165-4 2. Mose, Kap. IV, Vers 9, Kap. VII, Vers 20.

165-5 2. Mose, Kap. IV, Vers 3, Kap. VII, Vers 10

165-6 2. Mose, Kap. VIII, Vers 17.

166-1 Hesekiel, Kap. I V, Vers 12.

166-2 Satirische Anwendung der scholastischen, von Aristoteles entlehnten Unterscheidung zwischen Substanz (Wesenheit) und Akzidenzien (Eigenschaften), insbesondere bei der Lehre von der Messe, in welcher durch den Priester die Substanz von Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandelt wird, während die Akzidenzien unverändert bleiben.

166-3 Anspielung auf die gemäßigte Partei der Hussiten, die sogenannten Utraquisten, die das Abendmahl in beiderlei Gestalt (sub, utraque specie) forderten. Auch das folgende Wortspiel von sub, in und cum (unter, in und mit) bezieht sich auf die Abendmahlslehre.

166-4 Verspottung der von Calvin wiederaufgenommenen Augustinischen Prädestinationslehre, wonach Gott durch „Gnadenwahl“, d. h. durch völlig freien Ratschluß, die Seligkeit der Auserwählten und die Verdammung der Verstoßenen bestimmt. Vgl. den Brief Pauli an die Römer, Kap. IX.

167-1 Die Hostie.

167-2 Der Calvinismus nimmt im Abendmahl nur geistigen Genuß von Christi leib und Blut an: „das bedeutet meinen Leib“, im Gegensatz zum Katholizismus und Luthertum: „das ist mein leib“.

167-3 Anspielung auf Socinus (vgl. S 163).

167-4 Vermutlich eine Satire auf die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bestehende Sekte der Quäker („Zitterer“) oder die seit 1747 von ihnen abgezweigten Shakers, die Musik und Tanz beim Gottesdienst haben.

167-5 Freiübungen.

167-6 Satire aus die Pietisten.

168-1 Vgl. S. 129.

168-2 Die Dienerinnen des mohammedanischen Paradieses.

168-3 Anspielung auf die tanzenden Derwische der Mohammedaner.

168-4 Verspottung der buddhistischen Askese.

169-1 Vgl. I. Mose, Kap. 40 und 41: Buch Daniel.

169-2 Im Buch der „Weisheit Salomonis“ werden ähnliche Lebensregeln nur den Gottlosen in den Mund gelegt. (Ähnlich auch I. Korinther XV, Vers 32.) Dagegen heißt es im „Prediger Salomo“, Kap. XI, Vers 9: „Freue Dich, Jüngling, in Deiner Jugend, und laß Dein Herz guter Dinge sein.“