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Schreiben Nicolinis an Franculoni, Prokurator von San Marco127-1

Aus dem Italienischen.

Konstantinopel, den 16. August 1769.

Seit unsrer Ankunft in Konsiantinopel waren wir mehreren recht peinlichen Szenen ausgesetzt. Die asiatischen Truppen, die auf dem Marsche nach der Donau durch die Hauptstadt rücken, meutern häufig, und bei dieser Art von Empörungen sind namentlich die Fremden allerlei Mißhandlungen ausgesetzt127-2. Die Regierung ist ohnmächtig, die zügellose Wildheit dieser barbarischen Horden zu unterdrücken, und oft geht es um Tod und Leben, wenn man ihnen zu seinem Unglück in den Weg kommt.

Dieser Tage schickte mich der Herr Botschafter in Geschäften zum Dragoman der Pforte. Nachdem wir das Geschäftliche erledigt hatten, kam das Gespräch unwillkürlich auf die Mißhandlungen, denen die Fremden in Konsiantinopel ausgesetzt sind. Auf meine Beschwerden antwortete der Dragoman: „Sie würden das weniger befremdlich finden, wenn Sie den Grund für die Erbitterung des Volkes kennten. Das Publikum ist nämlich überzeugt, daß wir mit den Moskowitern nur auf Anstiften eines großen europäischen Königs127-3 Krieg führen. Man flüstert sich ins Ohr, jener König habe beträchtliche Summen im Diwan ausgeteilt, um den Ausbruch dieses unseligen Krieges zu beschleunigen. Das Volk hält nun alle Fremden für Angehörige der Nation, der es an all seinem Unglück schuld gibt, und will sich an ihnen für das Waffenglück der Moskowiter rächen. Auch läuft ein dumpfes Gerücht um, selbst der<128> Papst mische sich in unsre Angelegenheiten, schüre das Feuer und habe an den Mufti der Hohen Pforte geschrieben, er solle uns zu unsrem Kriegszug ermuntern.“

„Unmöglich!“ rief ich aus. „Wäre es wohl im geringsten wahrscheinlich, daß der Heilige Stuhl sich mit dem Oberhaupt der mohammedanischen Sekte einlassen sollte? Wie Sie wissen, haben die Päpste den Türken jederzeit die Ehre angetan, sie von Herzensgrund zu hassen. Ein so eingewurzelter Haß erlischt nicht so rasch. Und dann wissen Sie doch, wie empfindlich der römische Hof in dem sogenannten puntiglio128-1 ist, und wie peinlich er auf das Zeremoniell hält, das er im Verkehr mit andren Mächten beobachtet. Wie könnte also ein Papst sich über den alten Brauch hinwegsetzen und die unermeßliche Kluft überspringen, die zwischen der abgründigen, zur Schau getragenen Verachtung der Päpste gegen die Muselmanen und einem freundschaftlichen Verkehr zwischen zwei so wenig übereinstimmenden Personen gähnt?“

„Die Herrscher“, erwiderte jener, „wissen den Mantel nach jedem Winde zu drehen. Sobald ihr Vorteil im Spiel ist, beugen sie die Formeln nach ihrem Willen; und nach den mancherlei Vorfällen der siebzehn Jahrhunderte, von denen wir genaue geschichtliche Kenntnis haben, darf ein gescheiter Mann nichts für unmöglich halten. Zur Abkürzung des Streites will ich Ihnen jedoch gestehen, daß ich das fragliche Schreiben des Papstes in Händen habe und es Ihnen sogar zeigen kann.“

Ich bat ihn um diese Gefälligkeit. Nun las er es mir vor und gestattete mir sogar, eine Abschrift zu nehmen. Bei dieser Lektüre fiel ich auf den Rücken und brauchte geraume Zeit, um mich von meiner Bestürzung zu erholen.

Anbei sende ich Ihnen den seltsamen Brief128-2, der Ihre ganze Neugier zu erregen verdient. Jetzt zweifle ich an nichts mehr! Wenn nur der Heilige Vater sich nicht eines Tages beschneiden läßt und den Gläubigen ein gleiches befiehlt! Nach den sieben Sakramenten, die wir schon haben, wäre dies das achte. Freilich war Christus beschnitten, aber es wäre doch arg, wenn man es zu unsrer Zeit würde! Doch Scherz beiseite! Ich überlasse den Brief des Papstes Ihrem eignen einsichtsvollen Nach, denken und bitte Sie nur, mein Vertrauen aufIhre Diskretion nicht zu mißbrauchen.

In aufrichtigster Freundschaft verbleibe ich Ihr untertänigster und gehorsamster Diener N i c o l i n i.


127-1 Die obige im Frühjahr 1771 verfaßte Satire bezieht sich auf den Russisch-Türkischen Krieg, der Ende 1768 zum Ausbruch kam. In diesem Kriege standen den Russen die Türken und die vom römischkatholischen Klerus unterstützten polnischen Konföderierten gegenüber (vgl. dazu das satirische Epos „Der Konföderiertenkrieg“ in Bd. IX).

127-2 Beim Ausmarsch des Großwesirs aus Konsiantinopel im Frühiahr 1769 war der österreichische Gesandte mit seiner Familie von fanatischen Türken mißhandelt worden.

127-3 König Ludwig XV. von Frankreich.

128-1 Ehrenpunkt.

128-2 Vgl. S. 129 ff