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Traum
(1777)165-1

Ich hatte einige Tage hintereinander in Gesellschaft liebenswürdiger Leute verbracht. Darunter befanden sich auch einige von reger Einbildungskraft. Ihr Feuer hatte sich meinem Geiste mitgeteilt, und meine Seele geriet in Verzückung. Die Unterhaltung riß uns fort, und wir plauderten die Nächte durch. Als ich gestern heimkehrte, war mein Geist noch voll von allem, was tagsüber diskutiert worden war. Mein Blut war erhitzt, eine Fülle von Gegenständen drängte heran. In diesem Zustande, wo alle meine Geister mir zu Kopfe stiegen, legte ich mich zur Ruhe und hatte folgenden Traum.

Mich deuchte, ich sei in einer ungeheuren Ebene, die gewaltige Volksmassen bedeckten. Es war, als hätten sich alle Völker des Erdkreises dort ein Stelldichein gegeben. Bei näherem Zusehen gewahrte ich jedoch, daß die Menge sich um verschiebdene Bühnen scharte, auf denen Quacksalber mit ihren Hanswürsten ihre Mittel anpriesen. Jeder von ihnen wollte möglichst viele an sich locken. Die Neugier reizte mich, an die nächste Bühne zu treten. Ein langbärtiger Mensch mit Bocksgesicht stand dort und rief das Volk mit schallender Stimme herbei. „Kommt zu mir“, so sprach er. „Ich besitze die Geheimnisse der urältesten Heilkunst und die unbekanntesten Zauber. Ich lasse die Berge wie Ziegen springen und die Ziegen wie Berge. Ich kann Sonne und Mond in ihrem Laufe aufhalten165-2. Die Fluten teilen sich auf mein Gebot und geben freie Bahn165-3. Ich verwandle Wasser in Blut165-4. Mit meinem Zauberstab mache ich Schlangen165-5. Vor allem aber bin ich Meister in dem wunderbaren Geheimnis, Läuse zu machen165-6. Wer unter Euch an meinen schönen Kenntnissen teil haben will, der braucht es nur zu sagen. Ich schneide ihm ein Stückchen Haut ab, und er wird sein wie ich.“

Alsbald bringen die Weiber ihm ihre Kinder, und jede drängt sich, die erste zu sein, deren Knabe beschnitten würde. Diese Zeremonie rief bei mir mehr Ekel als<166> Erbauung hervor, trotzdem war jedermann zufrieden. Sein Hanswurst mit Namen Ezechiel war nackt und bloß wie ein Affe und hatte einen Buckel wie ein Packsattel. Alles Volk lachte, da er eine Brotschnitte aß, deren Gestank die ganze Versammlung verpestete166-1. Wie der Hanswurst behauptete, stärkte diese Nahrung die Augen und gab ihnen die Kraft, in die Zukunft zu blicken. Doch es wollte niemand an seinem Frühstück teilnehmen.

Sein Nachbar war ein Quacksalber von andrem Schlage. Er schrie aus Leibeskräften: „Flieht jenen Kurpfuscher, der Euch betrügt. Verlaßt ihn und kommt zu mir. Ich allein bin unfehlbar. Meine Heilmittel haben genügende Kraft und Wirkung. Die Substanzen verschwinden beim Schall meiner Stimme, wiewohl die Akzidenzien bleiben166-2. Nach meiner Rechnung ist drei gleich eins, das ist offenbar. Wenn mein Nachbar Euch zwickt und schneidet, ich besprenge Euch nur mit Wasser und zapfe Eure Börsen an. Nichts ist ungesunder, nichts verderblicher als eine volle Börse. Bei mir könnt Ihr Heilmittel gegen die gefährlichsten Krankheiten kaufen, zum Beispiel gegen das Leiden des Fegefeuers. Ich habe Säcklein voller Knochen gegen den panischen Schrecken und Ablaßelixiere gegen die Heftigsien und schrecklichsten Übel.“

Sein Spaßmacher war ein Tölpel, der sich zur KurzweU des Volkes starke Stockschläge auf die Brust geben ließ. Er hieß Augustin, umtanzte humpelnd ein Grab und trieb allerlei Mummenschanz, der dem Volke wohlgefiel, mir aber höchst gemein dünkte. Gleichwohl bemerkte ich mit Erstaunen, wie vor jener Bühne die Börsen der Zuschauer sich leerten und die des Quacksalbers sich zum Platzen füllte. Diese Leute lebten nur in der Einbildung, in künftigen Zeiten, und brüsieten sich im voraus mit der Gesundheit, deren sie sich nach Jahrhunderten erfreuen würden.

Meine Neugier zog mich sogleich zu einer andren Bude, deren Quacksalber, ein Bursch mit finstrer, mürrischer Miene, unbarmherzig über seinen Nachbar Herzog. „Glaubt nicht, was der verfluchte Gaukler Euch weismacht!“ schrie er. „Hütet Euch, diesem Schurken zu nahen. Er verdirbt und zerstört die alte Heiltunsi. Ich besitze sie noch; nicht sub una, sondern sub utraque166-3. Wir haben eine prächtige Arznei, die aus sub, in und cum besteht, eine andre aus sechs Gran Fatalismus und zwei Gran Freiheit, die wir von dem großen Alchimisten Calvin haben166-4. Gleichwohl besitzt der<167> Zwieback167-1 wirksame Kraft; wir geben ihn für das, was er ist167-2. O treffliches Allheilmittel! O, welche Wunderkuren hat er schon vollbracht! Wir lassen Wesen existieren, ohne daß sie sich an einem Orte befinden. Damit aber all diese Mittel den gewünschten Erfolg haben, müssen die Kranken ihre Seele erheben und ihr ganzes Vertrauen in unsre Arzneien setzen.“

Da unterbrach ihn sein Hanswurst, der ihm über die Schulter blickte. „Glaubt nicht alles, was er sagt, Ihr Herren“, sprach er. „Traut Ihr auch nur der Hälfte seiner Reden, so könnt Ihr Euch immer noch den Magen verderben und Euch an Abgeschmacktheiten übernehmen.“ Bei diesen Worten drehte sich der Quacksalber wütend um und schlug ihn gewaltig. „Seht Ihr,“ sprach der Possenreißer, „er hat unrecht; denn er wird böse. Lieber Meister,“ fuhr er fort, „ehrt Socinchen167-3 (so hieß er selbst), oder er wird sich eines Tages Eurer Bühne bemächtigen und Euch davonjagen.“ Großes Gelächter erscholl ob dieser Hanswurstiade.

Ich verließ jene Schar und ging zu einem Burschen, der auf seiner Bühne Fratzen schnitt, bei denen sich eine Schwangere entsetzen konnte. Er zitterte. Auch zitterten alle, die um ihn standen167-4. Darob erstaunte ich und fragte einen aus dem Volke, warum sie alle zitterten und warum sie nach Herzenslust so seltsame Faxen trieben. „Das geschieht,“ sagte jener, „um den Körper geschmeidiger zu machen. Ihr wißt zweifellos, daß im neuen sächsischen Exerzierreglement ein ähnlicher Brauch eingeführt ist167-5. Sie schlagen Rad mit den Armen und wiegen sich abwechselnd auf einem Beine. Das erhält den Körper beweglich und die Glieder behende; nichts ist so gesund.“ Alsbald begann der Quacksalber zu schnauben. Dann gab er uns teils näselnd, teils mit Kehllauten unverständliches Zeug zum besten. Die Zuhörer vergingen vor Wonne, klatschten in die Hände und riefen Bravo. Ich aber hatte genug davon und verließ den Begeisterten.

Dann trat ich an eine andre Bühne, aber ich gewann bei dem Wechsel nichts. Der Mann salbaderte über das fleckenlose Lamm, das sich ebenso selten fände wie der Apisstier167-6. Wer je von diesem Lamm koste, so sprach er, der werde geheilt vom Reichtum, der die wahre Quelle aller Krankheiten sei. Und barmherzig nahm er seinen Begeisterten alles ab und eignete es sich selbst an. „Denn“, so sprach er, „ich ziehe Eure Gesundheit der eignen vor, ich opfre mich als Sündenbock für das Heil meiner verehrten Zuhörer.“ Ich, der diesen Taschenspielerkunststücken mit ruhigem Blick zusah, merkte wohl, wie der Schelm mit seinem fleckenlosen Lamm den Reichtum all der Dummköpfe gewann, die den Betrug in ihrer Unwissenheit garnicht merkten.

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Am andren Ende des Platzes tauchte ein Mann mit einem großen Turban auf. Er war ein Quacksalber wie die andren und heilte seine Kranken durch das Mittel des „schmalen Steges“168-1, durch häufige Bäder und durch Fasten, die er ihnen verschrieb. Den barmherzigen Seelen, die Hunde und Katzen fütterten, versprach er schöne Houris168-2. Der Fatalismus spielte bei all seinen Heilmitteln eine Rolle, und seine Zuhörer waren in einem Zustande der Erschlaffung, als hätten sie eine zu große Dosis Opium genommen. Sein Hanswurst nannte sich Derwisch. Seine ganze Darbietung bestand darin, daß er sich unaufhörlich auf demselben Fleck im Kreise drehte, bis er schließlich ganz von Sinnen und leblos umfiel168-3, und jedermann klatschte ihm Beifall. Dies Schauspiel stieß mich durch seine Wildheit ab. Ich verließ die Bühne und näherte mich einer andren.

Dort stand ein Wesen, das nichts Menschlichem glich. Es hatte kleine Schlitzaugen, einen Katzenbart am Kinn und eine wie mit Absicht plattgedrückte Nase. Ich dachte bei mir, man solle gegen kein Gesicht Vorurteile hegen, und in diesem Kopfe könne gesunder Menschenverstand wohnen, so gut wie in einem andren. Aber mein Mann enttäuschte mich sehr bald. Er verteilte Nägel an das Volk, um sie sich in den Hintern zu stoßen168-4. Er behauptete, das zöge die Krankheit in diesen KörperteU und entlastete die andren. Ja, er versicherte mit beispielloser Unverfrorenheit: wer nach seinem Tode nicht ein Truthahn noch ein Postpferd werden wolle, der müsse Kopf, Arme und Füße in eine Art von Marterholz stecken, das alle Glieder des Patienten zusammenschnürte. Das Volk gehorchte ihm stumpf. Ich sah an die fünfzig vernagelte Hintere und eine Unmenge von Zuhörern, die spannten ihre Leiber in das Joch, das der Quacksalber ihnen auflegte. Ein unflätiger Spaßmacher, der bei ihm stand, ließ sich von den Weibern ein Glied küssen, das sonst zu andren Dingen gebraucht wird, und der blöde Pöbel klatschte bei all diesen abstoßenden Gemeinheiten stumpfsinnig Beifall.

Ich fände kein Ende, wollte ich die Zahl der Schelme und Verbrecher beschreiben, die sich ihr Brot durch Mißbrauch der Leichtgläubigkeit des Volkes verdienten. Genug, daß sie alle darin einig waren, sich untereinander zu hassen und zu beschimpfen und Abgeschmacktheiten zum besten zu geben, die hinter den plumpsten Ammenmärchen nicht zurückblieben.

Unter diesem großen Schwarm der Betrogenen fand ich ein paar denkende Köpfe, die nur dabei waren, um festzustellen, wie weit die Torheit der Menschen gehen kann. Ich sprach sie an und fragte sie, was sie von alledem hielten. „Ach!“ sagte einer von ihnen, „es erbarmt uns der armen Menschheit! Der gemeine Verstand ist bei ihr nicht so allgemein, wie man annehmen sollte. Die große Menge der Dummen bringt Betrüger hervor. Wir begnügen uns damit, weder zu diesen noch zu jenen zu gehören und nie etwas zu glauben, was unser Verstand verwirft.“

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Diese Worte reizten mich, Fragen an die begeisterten Zuhörer der Quacksalber zu stellen, um ihre Denkweise zu erfahren. Ich nahm mir gleich einen beiseite und fragte ihn, ob er Leute kenne, die durch ihre Arzneien gehellt worden seien. „Nein“, entgegnete er. „Ihre Wirkung tritt erst nach achtzig oder hundert Jahren, ja nach mehreren Jahrhunderten ein.“ Seine Dummheit trieb mir das Blut ins Gesicht. „Geh!“ sprach ich. „Du verdienst, betrogen zu werden; denn Du willst es selber! Wenn Ihr von Eurer Vernunft Gebrauch machtet, gäbe es keine Quacksalber mehr auf der Welt.“

Ich wollte fortfahren, doch mein Blut war in solche Wallung geraten, daß ich jählings erwachte. Ich wußte nicht, ob alle jene Traumbilder Wahn oder Wahrheit waren. Doch wie ich mir die Augen rieb, erwachte ich völlig und begriff, daß ich schlecht geträumt hatte. Aber ich wandte mich weder an Josef noch an Daniel169-1, um eine Erklärung für meinen Traum zu finden. Ich verscheuchte aus meinem Geiste alle diese für die Menschheit so demütigenden Bilder, die mich tief verletzten. Zufällig fand ich in einem Winkel das Buch der Weisheit, das dem Salomo zugeschrieben wird, und vergaß alles andre über den Worten: „Freue Dich, und benutze die Zeit zum Genießen; denn Du weißt nicht, ob Du es morgen noch kannst.“169-2

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165-1 Von dem König mit einem Schreiben vom 9. Juli 1777 an Voltaire überrsandt.

165-2 Josua, Kap. X, Vers 12—14.

165-3 Anspielung auf den Durchzug der Israeliten durchs Rote Meer.

165-4 2. Mose, Kap. IV, Vers 9, Kap. VII, Vers 20.

165-5 2. Mose, Kap. IV, Vers 3, Kap. VII, Vers 10

165-6 2. Mose, Kap. VIII, Vers 17.

166-1 Hesekiel, Kap. I V, Vers 12.

166-2 Satirische Anwendung der scholastischen, von Aristoteles entlehnten Unterscheidung zwischen Substanz (Wesenheit) und Akzidenzien (Eigenschaften), insbesondere bei der Lehre von der Messe, in welcher durch den Priester die Substanz von Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandelt wird, während die Akzidenzien unverändert bleiben.

166-3 Anspielung auf die gemäßigte Partei der Hussiten, die sogenannten Utraquisten, die das Abendmahl in beiderlei Gestalt (sub, utraque specie) forderten. Auch das folgende Wortspiel von sub, in und cum (unter, in und mit) bezieht sich auf die Abendmahlslehre.

166-4 Verspottung der von Calvin wiederaufgenommenen Augustinischen Prädestinationslehre, wonach Gott durch „Gnadenwahl“, d. h. durch völlig freien Ratschluß, die Seligkeit der Auserwählten und die Verdammung der Verstoßenen bestimmt. Vgl. den Brief Pauli an die Römer, Kap. IX.

167-1 Die Hostie.

167-2 Der Calvinismus nimmt im Abendmahl nur geistigen Genuß von Christi leib und Blut an: „das bedeutet meinen Leib“, im Gegensatz zum Katholizismus und Luthertum: „das ist mein leib“.

167-3 Anspielung auf Socinus (vgl. S 163).

167-4 Vermutlich eine Satire auf die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bestehende Sekte der Quäker („Zitterer“) oder die seit 1747 von ihnen abgezweigten Shakers, die Musik und Tanz beim Gottesdienst haben.

167-5 Freiübungen.

167-6 Satire aus die Pietisten.

168-1 Vgl. S. 129.

168-2 Die Dienerinnen des mohammedanischen Paradieses.

168-3 Anspielung auf die tanzenden Derwische der Mohammedaner.

168-4 Verspottung der buddhistischen Askese.

169-1 Vgl. I. Mose, Kap. 40 und 41: Buch Daniel.

169-2 Im Buch der „Weisheit Salomonis“ werden ähnliche Lebensregeln nur den Gottlosen in den Mund gelegt. (Ähnlich auch I. Korinther XV, Vers 32.) Dagegen heißt es im „Prediger Salomo“, Kap. XI, Vers 9: „Freue Dich, Jüngling, in Deiner Jugend, und laß Dein Herz guter Dinge sein.“