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Lobrede auf den Schustermeister Jakob Mathias Reinhart173-1
Gehalten im 13. Monat des Jahres 2899 in der Stadt der Einbildung von Peter Mörser, Diakonus der Domkirche
Gedruckt mit Genehmigung des Herrn Erzbischofs von Mutterwitz

Approbation der Herren Bouciat und Belarmes, Lizentiaten der Theologie und Bücherzensoren des Herrn Erzbischofs von Mutterwitz.

Auf Befehl Seiner Hochwürden des Herrn Erzbischofs haben wir die „Lobrede auf I. M. Reinhart“ vom Diakonus Mörser geprüft und darin nichts gefunden, was den Volksmeinungen und den überkommenen Vorurteilen entspricht. Wir erkennen darin somit keine Wahrheit, die die wohlverdiente Drucklegung verböte.

Gegeben zu Philadelphia, I. Oktober 1759

Bouciat. Belarmes.



Verehrte Leidtragende!

n diesem Tag der Trauer und der Tranen, inmitten dieses Leichenpompes, der uns umgibt, vor diesem Grabe und dieser erloschenen Asche will ich nicht von menschlicher Größe reden, noch vom Dahinschwinden aller Eitelkeiten, noch von der Vergänglichkeit der Welt. Im Schicksal eines Einzigen will ich Euch das Los aller Menschen zeigen, will Euch lehren, gut zu leben, damit Ihr gut sterben lernt. Vor<174> den Augen dessen, der durch ein Wort die Welt aus dem Nichts hob, der durch einen Akt seines Willens das Wasser von der Erde und das Licht von der Finsternis schied und Menschen und Tiere schuf, — vor den Augen dieses höchsten, allmächtigen Wesens, meine Brüder, sind alle Menschen gleich. Güter, Würden, Ehren, alles, was sie in diesem Erdenleben unterscheidet, bilden keinen Unterschied vor Dem, der uns alle gleich geschaffen hat. Aus seiner Schöpferhand ging der Bauer wie der König hervor. Alle Stände, von der Schnürsohle des Mönchs bis zur Papstkrone,vom Zepter bis zum Schäferstab, macht der Tod gleich. Sie sind vor Gott allzumal Sünder und bedürfen seines Erbarmens. Nicht Ämter und Würden, sondern die Tugend unsres Wandels bestimmt unser Schicksal nach dem Tode. Erwartet von mir also nichts, was dem Stolz oder Ehrgeiz durch Schilderung weltlicher Eitelkeiten schmeichelt. Im Gegenteil! Ich will Euch beweisen, daß man durch Mäßigkeit auch in Armut reich, durch wackern Mut unverzagt in der Arbeit, daß man dem Vaterland durch seine Verdienste auch ohne Amt nützlich und ohne Glücksgüter groß durch seine Tugend sein kann. Möge man die Götzen beweihräuchern, die nur von Lobreden leben; mögen feile Zungen sich durch Niedertracht den Weg zum Erfolg bahnen; möge man die Namen der Großen dieser Welt feiern, die Vergessenheit verdienten, und sie ehren, nur weil sie mächtig sind! Ich für mein Teil beschränke mich darauf, den Herzenseigenschaften, den Bürgertugenden, der Pflichttreue und dem christlichen Wandel gebührendes Lob zu spenden. Weit von dieser Kanzel weise ich die arglistige Geschicklichkeit der Betrüger, die die Wahrheit durch allerlei Schönfärberei verhüllen, weil sie sie nicht zu offenbaren wagen. Weit von mir weise ich jene Kunstgriffe, mit denen man die Mißgestalt verdeckt, die man offen zu zeigen fürchtet! Ich habe nicht von einem Manne zu reden, der nur zum Genuß auf der Welt zu sein glaubte, der seine Pflichten aus Trägheit versäumte, seine Freunde aus Fühllosigkeit und sein Vaterland aus Selbstsucht vernachlässigte, sondern von einem Bürger, dessen stets gleichmäßige Seele ohne Wanken auf dem Wege der Tugend fortschritt. Eine lautere, aller Kunst und Schmeichelei bare Huldigung bringe ich dem Andenken des Herrn Jakob Mathias Reinhart, Schustermeisiers dieser Stadt, dar.

Verscheucht, meine Brüder, die nichtigen und so ungerechten Vorurteile, die Ausgeburten der Weichlichkeit und des Stolzes, die vorgefaßten Meinungen von Adel, Rang und Größe, derenthalben man alles verachtet, was in den Augen der Welt nicht glänzend ist, und Geringschätzung für die hegt, deren Herkunft nicht durch berühmte Namen und eine Reihe großer Männer ausgezeichnet ist. Bedenkt, daß die Tugend nicht sowohl in den Palästen der Reichen als in den Hütten der Armen zu Hause ist. Möge Eure Vernunft über die Trugbilder der Gewohnheit siegen. Möge Euer kluger und gelehriger Geist mehr nach Tatsachen, als nach Namen urteilen!

Ich brauche nicht in trocknen, verstaubten Chroniken zu stöbern, um Euch zu sagen, wer Mathias Reinharts Familie und Voreltern waren. Genug, wenn Ihr wißt, daß er von rechtschaffnen Eltern stammte. Sorgfältig pflegten sie die glückliche Anlage,<175> die sie bei ihm fanden, gaben ihm eine schlichte, aber tugendhafte Erziehung und flößten ihm neben der Pflichttreue auch die Liebe zum Vaterland ein. Er vergalt ihnen ihre Mühe und Zärtlichkeit durch Gehorsam, Fleiß und vor allem durch einen unwillkürlichen Hang zu allem, was ehrbar und löblich ist. Von ihnen lernte er das Handwerk, in dem er später ein Meister ward. Wer immer seinesgleichen durch seine Talente überragt, ist ein großer Mann. Ein großer Mann aber braucht keine Vorfahren, und in diesem Sinne kann man ihn wie Melchisedek ansehen, der weder Vater noch Mutter besaß175-1. Warum sollten wir gegen unsre Landsleute ungerechter sein als gegen die Alten, die nicht mehr leben? Sokrates und Plato sind berühmt, und doch kennt niemand ihre Herkunft. Homer, der Vater der Dichtkunst, den die Bewunderung der Nachwelt fast zum Gotte erhob, bettelte um Almosen in den Städten, die sich nach seinem Tode darum stritten, welche von ihnen seine Vaterstadt war. Fürwahr, ist es nicht schöner, sich selbst einen Namen zu machen, als ihn bloß zu ererben? Haben jene adelssiolzen Geschlechter nicht auch einen Anfang gehabt? Sie sind sämtlich aus dem Volke emporgestiegen. Irgend ein Mann von hervorragendem Verdienst trat aus dem ihn umgebenden Dunkel hervor und bahnte sich den Weg zu Ehren und Würden. Die erworbenen Titel gingen auf die Nachkommen über, nicht aber das Verdienst dessen, der sie erwarb. Prüft man, was der Eigenliebe am meisten schmeichelt, so ist es gewiß, daß Der, dessen Glanz auf seine Nachkommen zurückstrahlt, größer ist als Die, die diesen Glanz von ihm erborgen. Der, um den wir trauern, meine Brüder, verdankt seinen Namen allein sich selbst. Er machte ihn berühmt durch seine Talente, schätzbar durch seine Tugenden. Verwerfen wir die falschen Begriffe von Adel und Bürgertum und betrachten wir das Leben eines armen, aber fleißigen und nützlichen Handwerkers, seine Tätigkeit zu Nutz und Frommen der Allgemeinheit und seine Sitten zum Zweck unsrer Erbauung. Folgen wir ihm in seine Werkstatt, zu seiner emsigen Arbeit, seinen Mühen und Plagen, die er zum Wohle der Gesellschaft ertrug. Folgen wir ihm ferner in den Schoß seiner Familie, zu seiner treuen Pflichterfüllung als Vater, Bürger und Christ: das soll der Gegenstand dieser Rede sein.

Erster Teil

Mathias Reinhart war nie müßig. Er hatte so viel Arbeit, daß er sie kaum zu bewältigen vermochte. Sobald der Ruf eines geschickten Handwerkers sich verbreitet, will jeder, daß er für ihn arbeite. Er kommt in Mode. Besonders die vornehme Welt, die ihr sklavisch Untertan ist, glaubt gegen den guten Geschmack zu verstoßen,<176> wenn der Liebling des Publikums nicht für sie arbeitet. Dann gilt es, die Zahl der Lehrlinge zu verdreifachen und zu vervierfachen, die Werkstatt zu vergrößern, ein Auge auf die Gesellen zu haben, damit die Arbeit den Erwartungen entspricht. Nur mit unendlicher Mühe läßt sich der erste, so schwer zu bewahrende Ruf ausrechterhalten. In seiner Emsigkeit kam dieser gute Bürger der Morgenröte zuvor, um das Publikum zu bedienen, und er beschloß seine Arbeit erst lange nach den Stunden, die die Menschen sonst der Ruhe, der Muße und oft der Schwelgerei widmen. Ihr unnützen Bürger der Welt, die Ihr in Müßiggang und Zerstreuung lebt, Euer strafwürdiges Dasein in Spielhäusern verbringt, um Eure FamUien zugrunde zu richten, Euren Nächsien Ärgernis zu geben, Eure Gesundheit in Völlerei und Ausschweifungen zu zerrütten, Ihr lebt! Ihr lebt, sage ich, und ich beweine den, dessen Wachsamkeit und unermüdlicher Fleiß nicht bloß einem schlichten Bürger, sondern allen seinen Landsleuten, ja selbst Fremden so nützlich ward!

Doch die Menschenliebe verbietet mir, in meinen Klagen und traurigen Betrachtungen noch weiterzugehen. Gebührt es doch nicht uns, die Opfer des Todes zu wählen, sondern Ihm, dem allmächtigen Herrn über Leben und Schicksal der Menschen. Der Schöpfer entscheidet über die Geschöpfe, und uns gebührt es, mit dem heiligen Paulus auszurufen: „O welch eine Tiefe des Reichtums beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“176-1 Beten wir, meine Brüder, Gottes Wege in Demut an, ohne nach den Gründen seiner unerforschlichen Ratschlüsse zu fragen, und dulden wir in Ergebung, wenn seine Hand uns empfindlich trifft. Von ihm haben wir alles. Schickt er uns Trübsal, dann geschieht es, um uns von der Welt abzukehren, damit wir unsre Zuversicht nicht auf seine Werke, sondern auf ihn setzen, damit wir unser Herz nicht an die Dinge der Schöpfung, sondern an den Schöpfer hängen, damit wir Weisheit und Mäßigung lemen, indem wir nacheinander die sterben sehen, die mit uns zwischen denselben Mauern, unter demselben Dach wohnen, deren Talente wir bewunderten und deren große Eigenschaften wir ehrten.

Aber wenn Gott auch nicht will, daß wir unser Herz allzusehr an die Schöpfung hängen, so verbietet er uns doch nicht, die zu lieben, denen er gnädig den Stempel der Größe und besonderen Tugend aufgedrückt hat. Jawohl, meine Brüder, auch ein Schuster kann zum großen Manne bestimmt sein. Jedes nützliche Handwerk ist eben darum nicht verächtlich. Die Art, wie es betrieben wird, kann seinen Wert noch erhöhen. Es ist verdienstvoller, einen Acker gut zu bestellen, gutes Tuch oder bequemes Schuhzeug zu machen, als die Justiz schlecht zu handhaben, die Finanzen liederlich zu verwalten, im Kriege keine Detachements führen zu können oder sich den Sieg durch einen beherzteren oder geschickteren Feind entreißen zu lassen. Es liegt nichts Erniedrigendes im Stande eines Mannes, der unsre unentbehrlichen Bedürfnisse befriedigt. Ja fürwahr, was ist<177> notwendiger als die Fußbekleidung? Sie sichert uns vor der Rauheit des ungleichen, spitzigen Pflasters, vor den Unbilden der Witterung, vor Schmutz und Schlamm. Schlecht gemachtes Schuhzeug verdrießt durch seine plumpe Gestalt, drückt den Fuß und erzeugt Schwielen, die bei jedem Schritte, den man tut, Schmerzen verursachen. Es hält das Eindringen des Wassers nicht ab, das durch häufige Erkältung gichtische Säfte entstehen läßt und jene grausame Krankheit hervorruft, die durch lange Qualen zum Grabe führt. Mathias Reinhart war ein Meister darin, alle diese Mängel zu vermeiden. Seine Arbeiten erreichten den höchsten Grad der Vollkommenheit. Er hat alle seine Zunftgenossen und Nebenbuhler durch sein Talent übertroffen. Wer sich aber so siegreich über seine Mitbewerber erhebt, der ist gewiß ein großer Mann. Wer seine Werkstatt und sein Haus klug, ordentlich und fleißig regiert, der würde ebensogut eine Stadt, eine Provinz, ja um nichts zu verschweigen, ein Königreich regieren. Ja, meine Lieben, der gute Bürger, den wir beweinen, besaß Eigenschaften, die einen Thron nicht verunziert hätten, wogegen viele, die ohne Talent und Arbeitslust auf dem Throne sitzen, nur schlechte Schuster geworden wären, hätte das blinde Geschick, das die Geburten bestimmt, sie nicht aus Barmherzigkeit zu dem gemacht, was sie sind, damit diese unfähigen Menschen nicht in Hunger und Elend umkommen.

Ihr, deren stolzes Ohr sich verletzt fühlt durch das Lob eines tüchtigen Handwerkers und durch die kühnen Wahrheiten, die ich Euch ins Gesicht sage, errötet, — nicht über meine Rede, nicht über das, was man vor Euch zum Lobe eines emsigen und talentvollen Mannes sagt, der ein notwendiges Handwerk ausübte, sondern über Eure Weichlichkeit und über die Schwelgerei, in der Ihr im Schoße von Pracht und Glanz aufgeht, ohne Kenntnis Eurer eignen Bedürfnisse und der Arbeit, die andre zu Eurer Bequemlichkeit leisten. Ich wünschte, Ihr würdet für eine Weile der Bekleidungsstücke beraubt, die Mathias Reinharts Talent hervorbrachte! Mit welcher Ungeduld, mit welchen Klagen, mit welcher Eilfertigkeit würdet Ihr seine Hilfe herbeirufen! Wie hoch würdet Ihr das loben, was Euer Stolz jetzt mißachtet! Gesteht, so vornehm Ihr auch seid: was wären die Großen der Welt ohne Schuhzeug! Ja, so sind sie, die in Reichtum und Überfluß Aufgewachsenen! Sie verlangen nach dem, was sie nicht haben, aber wenn sie es haben, befriedigt es sie nicht, und sie haben kein Gefühl für das, was sie besitzen.

Jetzt, wo der Anstand und die Art von Zwang, die diese heilige Stätte Euch auferlegt, Euch zu geduldigem Zuhören zwingen, will ich Euch wider Euren Willen zeigen, wieviel Gewerbfleiß nötig ist, nicht zur Befriedigung aller Eurer Bedürfnisse, aber doch dessen, von dem ich reden will. Um Euch darüber zu belehren, brauchen wir nur den Fleiß und die Sorgfalt zu betrachten, die Mathias Reinhart in seiner Werkstatt bewies.

Niemals legte er Hand ans Wert, bevor er sorgfältig die Stoffe ausgewählt hatte, die er verarbeiten wollte: Leder zu den Absätzen, Leder für die Sohlen und Ober, leder. Alle drei Sorten sind verschieden, und die Arbeit wird oft schlecht befunden,<178> wenn die Wahl dieser Stoffe nicht mit Urteil und Kenntnis erfolgt. Er hatte seine Lohgerber, die für ihn arbeiteten und auf die er sich verlassen konnte. Damit das Publikum mit seiner Arbeit zufrieden war, ließ er diese Grundstoffe aus Vorsicht in seiner Werkstätte lagern, um sich selbst zu vergewissern, ob sie dauerhaft und tadellos wären.

Vergleicht nun Euer Tun mit dem seinen und erfahrt den Unterschied! Mathias Reinhart wählte sich die Mittel aus, die zum vorgesteckten Ziel führen müssen; Ihr aber untersucht nicht, auf welche Weise Ihr zum Ziel gelangen könnt. Ihr laßt Euch von Eurer Unbesonnenheit und vom Zufall leiten. Er prüfte alles selbst, Ihr aber verlaßt Euch auf den ersten besten, der zu Euch kommt und Einfluß auf Euch erlangt. Er übte weise Vorsicht, Ihr aber wißt nicht einmal, was das ist. Er wollte Vollkommenheit in seiner Kunst erreichen; Ihr aber laßt es bei Selbstgefälligkeit und Leichtfertigkeit bewenden. Es genügte ihm nicht, über seine Arbeiter zu schalten; er lehrte sie auch seine Arbeitsweise, hielt sie zur Genauigkeit an, verwarf alles Mangelhafte und arbeitete selbst, um zugleich Lehrer und Vorbild zu sein. Er strebte nicht danach, Meister zu werden, sondern seine großen Talente erhoben ihn dazu. Ihr dagegen bewerbt Euch um Ämter, ohne die nötige Fähigkeit zu besitzen. Habt Ihr sie dann erlangt, so besorgen Eure Untergebenen die Arbeit, und Ihr begnügt Euch damit, das Gehalt einzustreichen und vor der Welt zu repräsentieren. Tut Ihr aber etwas, so sind es nur Ränke, die Ihr zum Schaden des Publikums spinnt; und so gereichen die Würden und Titel, die Ihr bekleidet, Euch nicht zur Ehre, sondern zur Beschämung und Schande.

Ihr Halbgötter der Erde, Ihr Mächtigen, die die Vorsehung einsetzte, um weite Länder mit Menschlichkeit und Weisheit zu regieren, errötet, daß ein armer Schuster Euch beschämt und Euch Eure Pflichten lehrt, daß das Beispiel seines arbeitsreichen Lebens Euch zeigt, was die Völker, die Ihr glücklich machen sollt, von Euch fordern. Der Himmel hat Euch nicht erhöht, damit Ihr beim Lied Eurer Schmeichler auf dem Throne einschlummert, sondern für das Wohl der Abertausende arbeitet, die Euch Untertan und doch Euresgleichen sind. Ihr wurdet nicht so hoch gestellt, um Wochen, Monde und Jahre in den Wäldern zu verbringen und dort ohne Unterlaß die wilden Tiere zu jagen, die Euch fliehen, und Euch der verächtlichen Geschicklichkeit zu berühmen, mit der Ihr sie erlegt. An sich wäre das eine unschuldige Zerstreuung, wenn Eure Mordlust nicht ein Handwerk daraus machte178-1. Während die Straßen in Euren Ländern verfallen, die Städte von jenem abstoßenden Volk heimgesucht werden, das unser Mitleid und die öffentliche Fürsorge erheischt, während der Handel in Euren Staaten daniederliegt, der Gewerbfleiß nicht aufgemuntert wird und selbst die Regierung voller Mängel ist, gewöhnt Ihr Eure Arme an Mord, Eure Augen an Blut, Euer Herz an Fühllosigkeit. Wozu seid Ihr Fürsten? Um wilde Tiere zu<179> jagen oder um eine menschliche Gesellschaft zu regieren? Bekamt Ihr den Verstand, um durch ein Leben voller Zerstreuungen zu verblöden? Erhieltet Ihr Herrschaft und Macht, um alle Tage Eures Lebens zu verlieren?

Ach, verehrte Leidtragende, wieviel Anlaß zu Schmerz und Trübsal bringt die verderbliche Pflichtvergessenheit, die auch die besten Einrichtungen ihrem ursprünglichen Zweck entfremdet! Wie hochachtbar ist dagegen Mathias Reinhart! Wie wenig Menschen sieht man den Weg einschlagen, den die Ehre ihnen vorzeichnet, den ihr Stand ihnen weist, den die öffentliche Wohlfahrt erheischt, den aber ihre Verderbtheit nicht einschlägt! Diesen verhängnisvollen Mißbräuchen ist es zuzuschreiben, daß ein einfacher Mann unter den Großen und Herrschern sieht. Denn, meine Lieben, wen nennen wir groß? Nicht die Geburt macht den Menschen groß, das habe ich Euch bewiesen. Nicht die Herrschaft, die nur verdienstvoll wird, wenn man sie gut zu nützen weiß; nicht der Reichtum, der die Menschen bald geizig, bald verschwenderisch macht. Groß ist, wer uns in derselben Laufbahn überholt, wer Schweres vollbringt, das Glück sich zu Willen zwingt, sich einen Namen macht und durch seine Tüchtigkeit selbst seine Neider zum Beifall nötigt.

Wer konnte sich solcher Vorzüge je mit größerem Rechte rühmen, wer erwarb sich in seinem Leben mehr selbstloses und folglich jeder Schmeichelei bares Lob, als dieser emsige Handwerker, um den wir trauern? Er hat sich über seine Zunftgenossen erhoben, wie die stolzen Palmbäume über andre Bäume hinauswachsen, sie überschatten, ersticken und zu ihren Füßen verdorren sehen. Gleich bekam er Kundschaft; jedermann war mit seiner Arbeit zufrieden; er überteuerte keinen, war beharrlich, geschickt und fiink. Einer rühmte dem andren seine Dienste. Er verstand es, dem Schuhzeug eine vor ihm unbekannte Anmut zu geben; er machte es bestrickend. Sein Schuhwerk vereinte alle Vollkommenheiten: Schönheit, Bequemlichkeit, Dauerhaftigkeit, Undurchlässigkeit. Sein Ruf wuchs rasch. Frau Fama, die von Schuhen so gut wie von Gesandtschaften, Verträgen oder Siegen spricht, verkündete alsbald, daß ein Wundermann lebte, der in seinem Fach alle überträfe und vollkommenes Schuhzeug machte. Man sprach fast nur noch von unsrem Schuster. Seine Berühmtheit verbreitete sich über seine Vaterstadt. Ja, was alles übertrifft: seine Zunftgenossen spendeten ihm Lob, räumten ihm einstimmig den Vorrang ein und schämten sich des Geständnisses nicht, daß sie hinter ihm zurückblieben. Spräche ich hier vor Unbekannten, man würde mir schwerlich glauben, daß Nebenbuhler und Mitbewerber Dem Beifall spenden, der mit ihnen nach dem gleichen Kranze strebt! Das ist so erstaunlich, so unerhört, daß es ans Wunderbare grenzt. Aber Ihr, meine Lieben, Ihr, dies zahl, reiche Volk, das mich anhört, ja selbst wenn die Menschen ihr Zeugnis versagten, diese Wölbungen, diese stummen Mauern rufe ich zu Zeugen an. Sie werden bekunden, wie hoch der Ruhm unsres trefflichen Mathias Reinhart gestiegen ist!

Welch gewaltiger Abstand liegt zwischen einer dunklen, unbekannten Herkunft und einem bekannten und berühmten Namen! Die Schwierigkeit wird noch größer, wenn<180> man in seiner Jugend durch den Zwang ungünstiger, aber gebieterischer Umstände in eine undankbare, unfruchtbare Laufbahn gedrängt ward. Wer sich durch so viele Dunkelheit durchringt, dankt dies allein seinem tätigen, emsigen, unermüdlichen Geiste und seinem alles überwindenden Fleiße. Man muß etwas einzusetzen haben, um sich bekannt zu machen, und Talente weit über den Durchschnitt besitzen. Ist man aber bekannt und erzwingt sich den Beifall, mit dem die Menschheit so geizt, ja lenkt man das einmütige Lob aller auf sich, so ist das geradezu wunderbar und setzt die Übereinstimmung aller Menschen voraus. Denn stellt Euch nur vor, meine Lieben, eine wie große Menge man unterjochen muß und woraus sich die Bevölkerung, nicht einer ganzen Provinz, sondern bloß einer volkreichen Stadt zusammensetzt. Da findet Ihr so viele verschiedene Charaktere und Denkweisen wie Gesichter. Die einen gehen allzu leichtfertig durchs Leben, wie im Traume, ohne Kenntnisse und Überlegung. Die andren haben beschränkte Fähigkeiten und folgen in ihrem Denken nur den Anregungen, die sie von stärkeren Geistern empfangen. Teils sind es leicht bestimmbare Gemüter, die ihre Meinungen mit ihrer Umgebung wechseln, teils Halsstarrige, die sich durch nichts überreden und überzeugen lassen. Hier seht Ihr hochfahrende Leute, die alles mit Verachtung ansehen und meinen, die Welt sei ihrer nicht würdig. Dort seht Ihr bissige Spötter, deren Mund, an Tadel gewöhnt, nur ein Werkzeug des Hohnes ist. Wieder andre sind so erfüllt von einem Gegenstand, daß sie sich durch nichts davon abbringen lassen, Leute, die in Völlerei verblöden, Hoffährtige, die sich selbst bewundern, Genußsüchtige, die nur an ihr Vergnügen denken, Unwissende, die nichts kennen und über alles urteilen, Neidische, die ihre Mitmenschen verleumden und ihren Ruf zerfetzen. Alle diese gilt es zu fesseln und zu einer Meinung zu bringen. Diese ganze Menge, so mannigfach in Gedanken, Neigungen und Ansichten, muß man von seinen Talenten und seiner Tüchtigkeit überzeugen. Wie schwer ist es, so viele Stimmen zu gewinnen! Wieviel Zeit, Mühe, Arbeit und Erfolg ist nötig, um das Gebäude seines Ruhmes zu errichten und so viele widerspenstige Mäuler zum Lobe zu zwingen! Ihre geizigen Hände sparen jedes Körnchen Weihrauch, und andre wollen es auf ihrem eignen Altar verbrannt sehen. Um wieviel mehr Achtung verdient ein armer Handwerker ohne Protektion und Ansehen, der einen so weiten Weg zurückzulegen hatte, um bekannt zu werden und den Beifall der Menge an sich zu reißen. Zudem ist es bedeutend leichter, sich aus der Ferne einen Namen zu machen und denen zu imponieren, die uns weder sehen noch kennen. Aber ein Prophet im eignen Vaterland sein und den Beifall seiner Mitbürger zu ernten, das ist der größte Triumph, nach dem der menschliche Ruhm streben kann. Sein Name ist über das ganze Land hin gedrungen. Er ist so berühmt geworden, daß Leute, die ihn nie gesehen hatten, ihm ihr Maß schickten und ihn beschworen, für sie zu arbeiten. Er war so beliebt, daß Leute, die sich auf ihr Äußeres etwas zugute halten und durch die Eleganz ihrer Kleidung auffallen wollen, nur noch Schuhe von ihm tragen mochten.

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Trotzdem er so gesucht war, blieb er bescheiden und verweigerte seine Dienste keinem, der ihn darum bat. Obwohl oft mit Arbeit überbürdet, befliß er sich, jedermann zufriedenzustellen, dachte weniger an seinen Vorteil als an die innere Befriedigung, nützlich zu sein und sein Handwerk zu vervollkommnen. Stets war er in seiner Werkstatt sanft, leutselig, ertrug Belästigungen, zeigte nie die geringste Ungeduld noch die leiseste Unruhe, wenn neue Zudringliche hintereinander kamen, um ihn in der Arbeit zu stören und zu drängen. Darin unterschied er sich sehr von gewissen vornehmen Herren, die alle anfahren, die ihnen nahen, gleich zu allem nein sagen, statt die Leute ausreden zu lassen, und von ihrer Sprache nur das Nein deutlich aussprechen, weil sie es beständig im Munde führen.

Meister Reinharts Werkstatt war eine Schule der guten Sitte. Bewundernswerte Ordnung herrschte darin. Nie wagten seine Lehrlinge zu fluchen oder anstößige Reden zu führen. Oft sagte er zu ihnen: „Wenn Ihr fleißig arbeitet, kommt Ihr auf keine andren Gedanken.“ Und so lehrte er sie denn getreulich alles, was er mit soviel Mühe, Zeit und Arbeit zur Vollkommenheit gebracht hatte. Ihm lag daran, auch nach seinem Tode noch nützlich zu sein und in denen, die er herangebildet hatte, weiterzuleben. Aus seiner Werkstatt sind eine Menge geschickter Arbeiter hervorgegangen, die jetzt im ganzen Lande ansässig sind. Statt eifersüchtig auf sie zu sein, ermunterte er sie noch und freute sich, daß es ihm so gut gelungen war.

Eine so schlichte Tugend ist in einem so verderbten Jahrhundert sehr selten. Andre Künstler sind auf ihre Entdeckungen oder Geheimnisse eifersüchtig. Ein Arzt, der ein neues Heilmittel gefunden zu haben glaubt, entzieht es der Kenntnis der Welt. Er ist neidisch darauf und will, daß es mit ihm begraben werde. Viele große Feldherren fürchten sich, Generale heranzubilden, die ihnen eines Tages ihren Ruhm streitig machen könnten. Auch Minister pflegen ihre Geschäftsgeheimnisse vor ihren Untergebenen zu verbergen und sie in ihrem Busen zu bewahren. Fürchten sie doch, sich Nebenbuhler zu machen, wenn sie einen anderen ins Vertrauen ziehen. Und so hinterlassen sie denn auch alles in Unordnung und Verwirrung, und bisweilen geht das Geheimnis für immer verloren. Aber Mathias Reinhart hatte Bürgersinn. Er dachte an das Wohl seines Vaterlandes. Wer anders handelt, denkt nur an sich selbst. Warum habe ich nicht Ciceros Beredsamkeit, meine Lieben, um den Ruhm dieses unvergleichlichen Mannes zu verkünden, der jene so gepriesene Römertugend besaß! Die Vorsehung hat ihn nicht so hoch gestellt, daß er seine große Seele in vollem Glänze zeigen konnte. Aber wenn jedes Mitglied der Gesellschaft nach seinen Grundsätzen handelte, so ergäbe sich daraus, wie Ihr mir zugeben müßt, die allgemeine Wohlfahrt.

Was hätte nicht jener römische Konsul, der Vater der Beredsamkeit und des Vaterlandes, hierüber gesagt, er, der die trockensten Gegenstände ftuchbar machte, der den Schuldigen den Freispruch erwirkte181-1, gewöhnliche Menschen in große Männer<182> verwandelte und denen Tugenden zuschrieb, die gar keine hatten! Bei Mathias Reinhart hätte er wahre Tugenden gefunden. Als jener Konsul wünschte, daß der Oberbefehl im Kriege gegen Mithridates dem Pompejus übertragen würde, blendete er das Volk mit dem Zauber seiner unwiderstehlichen Beredsamkeit182-1. Der wirkliche Pompejus und der, von dem er redete, waren nicht ein und derselbe Mensch. Und was war denn Pompejus im Vergleich zu unsrem berühmten Handwerksmann? Jener führte Truppen gegen den rebellischen und blutdürstigen Sulla; dieser war dem Meister, bei dem er sein Handwerk lernte, und seiner Obrigkeit Untertan, ohne sich in Kabalen zu mischen. Jener war ebenso ehrsüchtig wie eitel, riß den Ruhm an sich, den sich Lucullus im Kriege gegen Mithridates, Metellus im Kriege mit Spanien und Crassus im Gladiatorenkrieg erworben hatte. Dieser war ebenso bescheiden wie geschickt, trat an seine Zunftgenossen Arbeit ab und teilte seine Talente seinen Lehrlingen mit. Jener ließ sich von Cäsar betrügen und überraschen; dieser betrog nicht und wurde von niemandem überrascht. Pompejus legte Könige in Ketten, verheerte Provinzen und äscherte Städte ein. Mathias Reinhart diente Königen, beging nie Gewalttat und löschte Brände. Der stolze Römer konnte keinen neben sich dulden; der demütige Deutsche befliß sich, Nebenbuhler zu erhöhen. Der Held des Senates ward von Cäsar besiegt, der berühmte Handwerker von niemand geschlagen. Pompejus entzweite sich mit seinen Freunden; Reinhart pflegte stets die Freundschaft mit den seinen. Jener starb eines gewaltsamen Todes, dieser endigte sein Leben friedlich durch natürliches Hinscheiden. Hätte Pompejus über Cäsar triumphiert, so hätte er gleich jenem Rom unterjocht. Mathias Reinhart triumphierte über alle seine Zunftgenossen und dachte, das behaupte ich dreist, nie an Herrschaft.

Zweiter Teil

Aber, meine Lieben, wie viele Beispiele hat man nicht erst, daß die Kriegsmacht, auch wenn sie das Vaterland verteidigt hat, in Friedenszeiten zu seiner Geißel ward! Hingegen war der treffliche Bürger, von dem ich rede, in seinem Privatleben noch exemplarischer als in dem Teil seines Daseins, den er der Öffentlichkeit widmete. Wie schön ist es, aber wie selten kommt es vor, daß sich große Talente mit echtem Verdienst und glänzende Eigenschaften mit sanften und liebenswerten Sitten paaren! Die meisten Menschen sind ein Gemisch von Gutem und Bösem. Namentlich liefern die großen Genies meist ein Bild mit schönen, lichten Zügen, aber auch mit dunklen Schatten, ein Durcheinander von Großem und Kleinem, von erstaunlichen Wider<183>sprächen und so seltsamen Gegensätzen, daß Pascal überzeugt war, sie hätten zwei Seelen. Wenden wir uns zu den Künstlern, so finden wir unter den trefflichsten wenige, die nicht von Launen genarrt wurden, die oft ans Maßlose und Tolle streiften. Ihre Kunst verschlingt ihre ganze Spannkraft, und so bleibt ihnen keine mehr übrig, um ihre Sitten zu bessern und über ihre Fehler zu wachen. Von solchen Leuten unterschied sich Mathias Reinhart gewaltig. Sein Fleiß war zuerst auf sich selbst gerichtet. Erst war er ein guter Bürger und ein Ehrenmann, dann erst pflegte er sein Talent.

Wer in der vornehmen Welt lebt, wähnt, nur bei Hof und im Getriebe der großen Städte sei die Jugend gefährlichen Versuchungen ausgesetzt; da werde sie durch die Gelegenheit verlockt, durch das Beispiel ermuntert. Aber wenn die dort Lebenden heftig angefochten werden, so haben sie auch starke Waffen zur Abwehr. Der Zügel der Erziehung hält sie zurück, das Elternauge schüchtert sie ein, ihre Freunde raten ihnen ab. Nicht so der Sohn eines armen Handwerkers, dessen Erziehung nicht so sorgfältig geleitet werden kann wie bei jenen, die die Hoffnung reicher FamUien bilden. Ja, ich sage dreist: er ist mehr gefährdet, als die Leute der großen Welt. Denn ist auch das Lasier das gleiche, so hüllt es sich doch bei den Vornehmen in keusche Schleier und zeigt sich immer nur insgeheim. Es sucht unverletzliche Freistätten, um sich hervorzuwagen, und entzieht sich stets der Öffentlichkeit. Beim Volke jedoch schäumt die zügellose Begier oft über. Die Völlerei wird bis zum Übermaß des Ärgernisses getrieben; die Leidenschaften toben in ihrer ganzen Heftigkeit. Etwas Wildes und Rohes herrscht bei allen Freuden, und sie arten in Schlemmerei aus. Da muß man einen festen Charakter haben, um dem bösen Beispiel zu widerstehen, das wie ein wütender Bergstrom Tag für Tag so viele unglückliche Opfer fortreißt.

Mathias Reinhart hat diese gefährliche Klippe vermieden. Selbst in seiner ersten Jugend sah man ihn nie in jenen schlechten Häusern verkehren, wo die Freude der Wut gleicht, wo die unersättliche Habgier Piraten anlockt, die alle weniger Durchtriebenen zugrunde richten, wo so häufig Streit ausbricht und so barbarisch gelärmt wird. Seine Sittsamkeit bewahrte ihn vor diesen und vielen andren Gefahren. Sein Fleiß, sein Aufgehen in seiner Arbeit verbot ihm jeden Verkehr in jenen gefährlichen Kreisen, die seine Sitten hätten verderben können. Diese besondere Gnade, die der Höchste nach seinem stets heUigen Ratschluß austeilt, war Reinhart beschert. Er hatte sein Herz seinem süßen Heiland geweiht; das war der Quell seiner Tugenden, wie der Psalmist sagt: „Gib mir, mein Sohn, Dein Herz und laß Deinen Augen meine Wege Wohlgefallen.“183-1

Ja, das Herz, das ist das Entscheidende. Aus dem Herzen kommt der Friede im Hause, die eheliche Treue und Elternliebe, das gute Einvernehmen mit den Nachbarn, der Gehorsam gegen die Gesetze, die Anhänglichkeit an das Vaterland. Und wenn das Herz in heiliger Glut brennt, sind es Inbrunst, Glaubenseifer und Gottes<184>furcht. Ja, dies Muster eines Bürgers erfüllte alle Pflichten. Im Jahre 1742 ehelichte er Anna Maria Gerie, eine Witwe, obwohl unverheiratet. Dich rufe ich zum Zeugen an, keusche und schamhafte Gattin, in welcher Sanftmut, welchem Frieden, welchem Glück Du die Tage Deiner Ehe verbracht hast! Nie störte ein Gewitter die Heiterkeit Eures Himmels, nie loderte die Fackel der Zwietracht in die keusche Glut Eurer Liebe hinein. Eure Herzen waren einig. Ihr wart ein Muster der Eintracht und des Segens, den der Höchste seinen Getreuen verleiht. Der Gatte griff der Gattin in allem vor, und die Gattin kam den Wünschen ihres Gemahls entgegen. O allzu seltenes Glück, segensreicher Bund, der an die ersten beglückten Zeiten der Welt gemahnt, da noch die Unschuld auf Erden wohnte, jenes goldne Zeitalter, das die Dichter so preisen und das zur Beschämung der Welt leider nur in der glänzenden Einbildungskraft der Söhne Apollos besteht! Warum lassen sich solch schöne Beispiele nicht öfter finden? Woher kommt es, daß die Ehe bei denen, die der weltlichen Verderbtheit huldigen, nur ein langes Ärgernis ist? Das macht, meine Lieben, weil das Herz — ich wiederhole es — weil das Herz keinen Anteil daran hat.

In dem leichtfertigen, zerstreuungssüchtigen Leben der Vornehmen ist die Ehe nur ein Bund der Interessen. Man heiratet nicht für sich, sondern für den VorteU seiner Familie. Die Ehegatten leben, wie Paulus sagt, gleich als ob sie nicht verheiratet wären184-1. Der Geist der Leichtfertigkeit und des Unbestandes, ja oft eine Laune, genügt zum Zerreißen der Bande, die ewig sein sollten. Man trachtet nach dem Ruf eines Mannes, der bei Frauen Erfolg hat, trübt das häusliche Glück seines Nachbars, stiftet Hader in einer andren Familie, während man in sein eignes Haus Unftieden trägt. Die Frau, der man Treue schuldet, will die Krankung, die man ihr antut, nicht umsonst ertragen; sie findet unheilvolle Genugtuung in der Rache. Fortan ist der Friede aus dem Hause verbannt. Argwohn, Eifersucht, Jähzorn, Wut, unversöhnlicher Haß erfüllen die Herzen, in denen allein Liebe und Einigkeit wohnen sollten. Dahin ist alle Zärtlichkeit und Sanftmut. Keine Rückkehr, keine Verzeihung ist zu erhoffen, und das Haus solcher Eheleute, das ein irdisches Paradies sein sollte, wird zur Hölle auf Erden. So, meine Lieben, so vergiftet das Lasier, das sich unter den schmeichelndsten Formen einstellt, das Leben der Menschen, die seinen Lockungen nachgeben.

Nun vergleicht das Glück, das Mathias Reinhart genoß, mit der Zwietracht, die ich Euch eben geschildert habe! Hier seht Ihr Glück, dort Verzweiflung, hier eine ruhige Seele, dort ein bedrängtes Gewissen. Der eine findet bei der Heimkehr eine Freundin, der er sein Herz ausschütten kann, der andre eine Furie mit Schlangenhaaren, bereit, ihn ins Verderben zu stürzen. O unselige Verirrung, die uns in diesem wie in jenem Leben zugrunde richtet! Sie raubt uns ein Glück, das uns zustand, indem sie in uns die Glut zügelloser Begierden entfacht, die uns den Untergang bringen.

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Ein guter Gatte, verehrte Leidtragende, ist zumeist auch ein guter Vater. Ein zärtliches Herz ist nicht unnatürlich. Es liebt in seinen Kindern sein eignes Werk und achtet in ihnen das Abbild des Höchsten. Dieser tugendhafte Bürger gab sich ernste Mühe, seinen Kindern eine gute Erziehung zu geben. Er betrachtete sie als Glieder des Vaterlandes, für das er sie erzog. Er pflegte zu sagen: „Ich gedenke ihnen leine Reichtümer zu hinterlassen, aber sie sollen von mir ehrbare Sitten erben.“ Jedesmal, wenn sie aus der Volksschule kamen, überhörte er sie selbst. Er hielt darauf, daß sie ihm die Fragen und Antworten des Katechismus hersagten, um ihnen von klein auf die Vorurteile ihres Glaubens einzuprägen und sie in unsrer heiligen Religion zu bestärken. Er gewöhnte sie an Wahrhaftigkeit und strafte sie jedesmal, wenn sie sich unterstanden, ihre Fehltritte zu beschönigen und zu bemänteln. Er litt nicht, daß sie sich zankten, und noch weniger, daß ihnen jene anstößigen Reden oder Worte entschlüpften, die das niedere Volt so unschicklich gebraucht und die oft die ganze Beredsamkeit der ungesitteten Landleute ausmacht. Vor allem aber hielt er sie zur Arbeit an, damit sie dereinst ihrem Vaterlande nützlich würden, und befließ sich um ihres eignen Vorteils willen, ihr Herz zu bilden. Er pflegte zu sagen: „Ich häufe ihnen einen Schatz von Tugenden an.“ Nicht Plato noch Sokrates hätten es besser ausdrücken können. Besieht das höchste Gut, wie es unzweifelhaft ist, in der Tugend, so hat er seiner Familie die größten Schätze im ganzen Lande hinterlassen, und zugleich hat er die erste Bürgerpflicht erfüllt, die da ist, Ehrenmänner und eifrige Staatsbürger zu erziehen.

Diese Pflicht, meine Brüder, habt Ihr alle, aber wenige kommen ihr nach. Infolge eines schlimmen und verhängnisvollen Vorurteils kümmern sich die Eltern nur um die Güter, die sie ihren Nachkommen hinterlassen, trachten aber nicht mit allem Fleiße danach, ihre Sitten und ihren Charakter zu bilden. „Meinem ältesten Sohne“, so sagen sie, „hinterlasse ich soundso viel Landgüter, dem jüngeren soundso viel Geld und meiner Tochter eine große Mitgift.“ Was geschieht? Wenige Jahre nach dem Tode des Vaters ist Hab und Gut vergeudet, und das verderbte Geschlecht, ohne Talente und persönliche Verdienste, kommt an den Bettelstab und hat nicht einmal den Trost, daß sein Mißgeschick beklagt wird. Damit ist eine Familie für den Staat verloren, und das Vaterland hat ein paar Bürger mehr, von denen es nicht das geringste erwarten kann.

Das Herz ist die Quelle aller Güter, die erste Triebfeder der Sittlichkeit und der Bürgertugenden. Mathias Reinhart war so lauter und unverstellt! Er war sanft, dienstbar gegen jedermann, verträglich gegen seine Nachbarn, menschlich und liebevoll gegen seine Untergebenen. Wie häufig sind bei Leuten seines Standes Reibereien mit den Nachbarn, Streit mit denen, die dem gleichen Beruf obliegen, oder Prozesse um Geld und andre Dinge. Er aber hatte solchen Abscheu vor allem, was seine Seelenruhe stören konnte, insbesondere gegen Rechtshändel, daß er, soweit er es irgend vermochte, allem auswich, was zu Streitigkeiten oder Prozessen führen konnte.<186> Lieber noch gab er denen nach, die Ansprüche an ihn erhoben, als sich vor Gericht zerren zu lassen. Er pflegte zu sagen, es sei viel gewonnen, wenn man zur rechten Zeit nachzugeben wüßte. Ein so hochherziges Benehmen, eine so edle Uneigennützigkeit zogen ihm die Achtung der ganzen Stadt zu. Sicherlich hätte man ihn zugrunde gerichtet, wenn man immerfort Ansprüche an ihn gestellt hätte. Aber seine Nachbarn schonten ihn aus Zartgefühl, und mit Recht fürchtete man, ihn um sein kleines Vermögen zu bringen, wenn man unrechtes Gut von ihm forderte, das er seiner Ruhe geopfert hätte.

Trotzdem schützte ihn dies exemplarische Leben nicht vor dem Neid und allem, was ihm folgt: üble Nachrede, ja oft schwarze Verleumdungen. Ich darf nichts verheimlichen; denn ich habe nur Löbliches zu berichten. Dieser wahrhaft gute Mensch verbrachte, wie wir gesagt haben, sein Leben in der Werkstatt und lag unablässig seiner schweren und ermüdenden Arbeit ob. So bedurfte er denn der Wiederherstellung seiner Kräfte. Er hatte ein Magenleiden, über das er oft klagte. Das zwang ihn, zu seiner Stärkung täglich etliche Flaschen Wein zu trinken, nach dem Rate des Paulus an Timotheum: „Brauche ein wenig Weins um Deines Magens willen.“186-1 Oft versagten ihm seine ermüdeten Knie des Abends, und da er vor Schwäche bisweilen umfiel, so ließ er sich führen, um dergleichen zu vermeiden. Das genügte seinen Feinden — wer hat deren keine? — um seinen Wandel zu verdachtigen und ihn maßloser Völlerei zu bezichtigen. Jene Arglistigen sagten mit verächtlicher Miene und höhnischem Lachen: „Siehe den heiligen Mann! Siehe das Wunder unsrer Stadt! Wenn er seinen Verstand in Wein ersäuft hat und hinfällt, weil er nicht mehr stehen kann, dann macht er offenbar die Arbeiten, die ihm solche Berühmtheit verschaffen! Sollen die Schuster betrunken sein, um etwas zu leisten? Nun, wenn es so sieht, werden wir ihn bald übertreffen, und man wird alsdann sehen, ob unsre Schuhwaren nicht so beliebt werden wie die seinen.“

Was tat nun unser frommer Handwerksmann, wenn er diese Lügner ihre schändlichen Verleumdungen ausspeien hörte? Er empfahl sie dem Heiland, meine Freunde, und sagte, er danke denen, die ihn demütigten. Er segnete seine Feinde, erflehte Gottes Barmherzigkeit für die, so ihn tadelten und verfolgten. Er fand seinen Trost darin, daß es ihm nicht besser erginge als dem Gerechten, den die gottlosen Juden lästerten, daß auch er das Kreuz des göttlichen Heilands tragen müßte, der seine Seele durch eine schändliche Strafe vom ewigen Verderben erlöst hat. So machte er sich seine Leiden zunutze und errichtete sich auf Kosten seiner Feinde, die ihn zu erniedrigen wähnten, eine himmlische Trophäe, die die menschliche Bosheit nicht zu zerstören vermag. Nie vergalt er Böses mit Bösem. Unbekannt war ihm die schnöde Genugtuung, die verderbte Seelen in der Rache finden, die unheilvolle Freude, Verleumdung und Schmähung mit noch grausamerem Hohn heimzuzahlen, der den<187> Ruf des Nächsten zerfetzt oder meuchelt. Seine Einfalt war so groß, daß er Ratschläge mit Dankbarkeit, Lehren mit Demut, Vorwürfe mit Ruhe entgegennahm und Beleidigungen verzieh.

Welch ein Beispiel der Mäßigung für Euch, Ihr Mächtigen der Erde! Welche Lehre gibt Euch hier ein armer, aber frommer Handwerker! Ein Mann, den Euer Hochmut vielleicht verachtet und dessen Name, so wähnt Ihr, Euer Gedächtnis bestecken würde, wenn Ihr ihn behieltet, dieser Mann lehrt Euch, daß man mit seinen Nächsten in gutem Einvernehmen leben kann. Sein Rechtsgefühl, grundverschieden von dem Euren, zeigt Euch, daß es Mittel gibt, Hader zu vermeiden, Streitigkeiten aus dem Wege zu gehen und Frieden und Ruhe zu wahren, daß es eine seelische Hochherzigkeit gibt, die weit mehr taugt als hitzige Rachsucht und unsre Menschenliebe so weit steigert, daß wir Schimpf und Kränkung vergeben. Bei Euch dagegen werden die geringsten Streitigkeiten gleich giftig, und kleine Zänkereien führen zu blutigen Kriegen. Eure Eitelkeit, grausamer als die Barbarei der Tyrannen, opfert abertausende von Bürgern dem falschen Ruhme, und für ein vom Ehrgeiz und Haß gedeuteltes Wort werden ganze Provinzen verheert und zugrunde gerichtet. Eure Wut gibt die Erde der Raubgier wilder Bestien preis, die Ihr gegen sie loslaßt. Alle Plagen, alles Elend folgen ihnen zur Verzweiflung der Welt, und soviel Jammer und Not entsteht nur aus Euren unheilvollen Feindseligkeiten. Wie weise war Mathias Reinhart! In goldenen Lettern sollte man über die Königspaläsie die schönen und denkwürdigen Worte setzen: „Man gewinnt viel, wenn man zur rechten Zeit nachzugeben weiß.“

Doch wohin reißt mich der Übereifer fort? Hemmen wir unsre Begeisterung für das öffentliche Wohl. Werfen wir den Schleier der Ehrfurcht über die Taten der Großen, die die Vorsehung auf die Throne der Welt gesetzt hat. Verehren wir schweigend die Wege, auf denen sie den Umsturz oder die Erhebung der Reiche herbeiführt. Ohne ihre unerforschlichen Ratschlüsse ergründen zu wollen, verlassen wir die Paläste der Großen, in denen Ehrgeiz und Hoffahrt herrschen, und kehren wir zur Hütte des Armen zurück, in der Fleiß und Tugend wohnen. Ja, meine Brüder, wir sind sicher, sie dort wiederzufinden.

Dieser Gerechte, der so weise in Eintracht und gutem Einvernehmen mit denen zu leben wußte, die das Schicksal zu seinen Gefährten machte, liebte auch die Gesetze und kam ihnen durch sein ebenso billiges wie rechtschaffenes Betragen zuvor. Er fürchtete die Obrigkeit nicht, wie so viele lasterhafte Menschen, sondern er war ihr gehorsam und Untertan. Dank seiner anerkannten Redlichkeit, die ihm aller Herzen gewann, vertraute man ihm insgemein Wertstücke zur Aufbewahrung an. Das Schicksal, das so großen Einfluß auf alle Ereignisse hat, wollte, daß Leute, die er garnicht kannte, ihm Geldsummen und Wertsachen aller Art übergaben. Wie nachher herauskam, waren diese Unseligen Diebe, die ihren Raub seiner Obhut anvertraut hatten. Als sie ergriffen wurden, erfuhr die Obrigkeit das Versteck ihrer Schätze und beschlagnahmte sie. Aber der gottselige Mann war durch seine Fröm<188>migkeit zu wohlbekannt, um auch nur in Verdacht der Hehlerei zu kommen. Die Justiz erkannte wohl, daß böse Menschen seine Redlichkeit mißbraucht hatten, und eröffnete kein Verfahren gegen ihn. Aber der tugendhafte Handwerksmann erbot sich, die ganze gestohlene Summe, von der die Missetäter ihm nur einen Teil gebracht hatten, aus eignen Mitteln zu ersetzen. Seit diesem schlimmen Zufall ward er vorsichtiger und verschwendete seine Diensie nicht mehr an Unbekannte.

Er war von Bürgertugend erfüllt und sah die Vaterstadt als seine Mutter an. Für sie erzog er seine Kinder; zu ihrem Gedeihen trug er bei, soweit sein Stand es erlaubte. Unterstand sich irgend ein törichter, anmaßlicher Fremdling, von gewissen Sitten und Bräuchen des Landes verächtlich zu reden, so wäre Reinhart, wie sanft und menschlich er sonst war, imstande gewesen, sich mit dem vorlauten Schwätzer zu schlagen. Bei allen Feuersbrünsien eilte dieser gute Bürger herbei. Obwohl ihn nichts dazu zwang, war er einer der ersten am Platze, ergriff beherzt eine Leiter und stieg da hinauf, wo das Feuer am grimmigsten wütete. Dort sah man ihn mitten in den sturmgepeitschten Glutwogen unermüdlich bestrebt, das Feuer zu löschen, alles Brennbare, was er erreichen konnte, herunterzureißen, das brennende Gebäude zu retten, oder doch, wenn die Feuersbrunst schon zu weit um sich gegriffen hatte, die anstoßenden Gebäude zu schützen und jedermann hilfreich zu sein, — alles aus Tugend und dem edlen Eifer, seiner Vaterstadt zu nützen.

Alle diese Tugenden erhielten ihre Weihe durch unverstellte Frömmigkeit. Er hatte Gott sein Herz geweiht, und aus dieser Quelle flossen die achtungswerten Handlungen, von denen ich Euch berichtet habe. Nie war ein Glaube inbrünstiger als der seine. Von allen unsren heiligen Büchern las er am fleißigsten und liebsten die Propheten des Alten Testaments und die Offenbarung St. Iohannis, weil er, wie er sagte, nichts davon verstand. Er wünschte, daß die ganze Religion nur ein Mysterium sei, um seinen Glauben desto besser üben zu können. Er wußte seine Vernunft so im Zaume zu halten, daß er nie über das Gelesene nachdachte und daß ihm nichts unglaublich schien. Mit Eifer sahen wir ihn an dieser heiligen Stätte jedem Gottesdienst beiwohnen. Er zeigte die Demut eines Christen, die Aufmerksamkeit eines Schülers, die Zerknirschung eines Wiedergeborenen. Er brachte in unsre Kirche einen gelehrigen Geist und eine demütige Seele mit, bereit, die Lehren des Evangeliums aufzunehmen. Nie duldete er, daß man während der Predigt mit ihm sprach, ja er versagte sich sogar den Genuß des Schnupftabaks, um nicht, wenn er sich schnauben müßte, den Faden unsrer Unterweisungen zu verlieren. Ach! Wie schalt er die Weltkinder, die nur in die Kirche zu gehen scheinen, um auf den Tribünen mit der Pracht ihrer Kleider zu prunken, um zu sehen und gesehen zu werden, die stets zerstreut und mit ihren Gedanken wo anders sind, als an der heiligen Stätte, die sie nur aus einem Rest von Wohlanstand besuchen! Ihn sah man sich niemals rühren. Unbeweglich heftete er die Blicke auf den Prediger und schien schon im voraus mit Entzücken alle Seligkeiten des himmlischen Zion zu schmecken und die<189> Ströme der Wonne zu schlürfen, die unaufhörlich für die Gläubigen stießen und die er jetzt mitten unter den Auserwählten genießt. Er nahte dem heiligen Altar, um das Brot des Lebens zu empfahen, stets mit Furcht und heiligem Schauder. Er sagte: „Herr, ich bin nicht wert, daß Du bei mir wohnest, der ich nur Staub und Asche bin.“ Und verließ er den Tisch des Herrn, so fühlte er sich gestärkt, als hätte ein neuer Strahl der Gnade ihn erleuchtet. Diese Frömmigkeit, dieser blinde Glaube war es, der ihn seine unerschütterliche Seelenruhe bis an sein Ende bewahren ließ.

Bis an sein Ende? Ja, meine Brüder, alles, was einen Anfang hat, muß auch ein Ende haben. Nur der Allerhöchste ist immerwährend, ewig in sich selbst bestehend und in alle Ewigkeit unwandelbar. Aber das Gesetz, das uns seit dem Sündenfall im Paradies auferlegt ward, wirkt weiter und weiter über Adams unseliges Geschlecht. Unser heiliger Handwerksmann sah den Tod nahen. Eine Krankheit, die Vorbotin seines Endes, mahnte ihn, daß er seine Laufbahn bald beschließen werde. Er ward zusehends schwächer. Sein von Krankheit erschöpfter Körper ging der Auflösung entgegen, aber seine Seele war seine feste Stütze, gleichwie eine starke Säule ein in Trümmer sinkendes Bauwerk noch aufrecht erhält. Er sah dem Tod unerschrocken ins Gesicht. Sein gerechtes Leben hatte ihn auf einen christlichen Tod vorbereitet. Wie oft demütigte er sich vor seinem Schöpfer und seufzte über seine Mängel! Wie oft klagte er sich schlechter Gedanken und der geringsten Fehltritte in seinem Wandel an! Wie oft flehte er zu Gott um Verzeihung, daß er über der Arbeit die Zeit verloren habe, die er dem Gebet hätte widmen müssen! Der barmherzige Gott krönte seine Beharrlichkeit und stand ihm mächtig bei. In jenen letzten Augenblicken, da Welt, Freunde, Verwandte und die Kunst derer, die dem Tode jeden Schrittbreit seines Lebens streitig machten, ihm nicht mehr zu helfen vermochten, sah er den Himmel offen, glaubte den Lobgesang der Engel und der Greise der Apokalypse189-1 zu hören, die ein ewiges Halleluja singen. Er vergaß die Welt und seine eignen Schmerzenward schon auf Erden zum Bürger des Himmels und stimmte auf seinem Schmerzenslager den Siegespsalm an. Welche Bestürzung ergriff die Stadt, als mittags auf dem Marktplatz eine Stimme die Trauerbotschaft verkündete: „Mathias Reinhart liegt im Sterben!“ Das Volk strömt herbei, drängt und staut sich in breiten Massen vor dem Sterbehaus. Man hört und sieht nichts als Wehklagen, Schmerzensaute, Tränen, Seufzer, Wehmut und Schluchzen. Jedermann nimmt an diesem Verlust tell, und der Tod eines Einzigen wird zum öffentlichen Unglück.

Den Tribut der Trauer, den man seinen Verdiensien zollte, die Nachrufe, die seiner Tugend galten, die bittren Klagen derer, die, nun er tot war, nicht mehr wußten, bei wem sie ihr Schuhwerk bestellen sollten, alles, was zum Ruf, zur Eitelkeit, zum Nachruhm gehört, müssen wir aus unsrem Geist verbannen. Spräche ich Euch davon, ich fürchtete, die kalte, erloschene Asche dieses Bescheidenen möchte wieder aufleben<190> und zu mir sprechen: „Wie kannst Du wagen, so leichtfertige Worte vor diesem Male der Trauer zu sprechen? Wie kannst Du bei meinem Lobe verweilen, wo ich auch den leisesten Beifall nicht hören mochte? Stehst Du nur darum auf Deiner Kanzel, um dem Stolz der Lebenden zu schmeicheln und die Erinnerungen an meinen eitlen Ruf aufzufrischen? Sagt Dir der Ort, wo Du stehst, sagt Dir Dein heiliges Amt nicht, daß Du sie von dort oben beschämen sollst? Preise lieber den Höchsten, ewig Anbetungswürdigen, der mich aus den Banden des Fleisches erlöst und in sein Himmelreich aufgenommen hat.“

Folgen wir diesem Rat, meine Brüder! Möge sein Tod uns zur Lehre dienen, daß die flüchtige Zeit unsre Tage und Jahre hinwegnimmt, daß wir alle zu Staub und Asche werden, daß das prunkvolle Mausoleum, worin die Hoffahrt der Menschen die Zerstörung ihres Leibes zu überleben wähnt, und der schlichte Sarg, der unter der Last seiner Erddecke zusammenbricht, die gleiche Behausung sind, daß mit dem Tode all die Standes- und Geburtsunterschiede aufhören, von denen die schwachen Sterblichen in ihrer Verblendung soviel Aufhebens machen. Ihr Ungläubigen, die Ihr Eure gottlosen Blicke in das Heiligtum zu werfen wagt, erzittert beim Anblick dieser Bahre. Möge die Gläubigkeit dieses Frommen, der uns soviel Tränen entlockt hat, Euch zum Vorbild dienen. Gebet Eure stolze Vernunft preis, die Euch nur irreführt, und nehmet die Herzenseinfalt dieses Wiedergeborenen an, die ihn erlöst hat, dieses Heiligen, der stolz darauf war, nichts zu verstehen und doch zu glauben. Und Ihr, verstockte Christen, die der ungestüme Strom der Welt fortreißt, sinnt nach über den Tod eines Gerechten, der vergänglichen Anfechtungen widerstanden hat, um jetzt ein dauerndes Glück zu genießen.

Ihr, die Ihr Zunftgenossen des Mannes seid, dessen Tugenden ich Euch geschildert: möge sein Vorbild Euch anspornen, soviel hervorragenden Eigenschaften nachzueifern. Wisset und behaltet es wohl, daß man in jeglichem Stand sich hervortun kann, daß Gottes Sohn nicht unter den Reichen Die auserwählt hat, die er zu Gefährten seines Heilswerkes begnadete, sondern unter der Hefe des jüdischen Volkes. Und Ihr, seine trostlose Familie, trocknet Eure Tränen und besteckt nicht durch unmäßige Trauer den Ruhm dessen, der jetzo zur Rechten des Vaters zwischen dem Sohn und dem Heiligen Geist sitzt. Folget seinem Beispiel, dessen Zeugen Ihr waret, und bereitet Euch durch ein heiliges, christliches Leben vor, mit ihm wieder vereinigt zu werden, wenn Eure Stunde gekommen ist.

Ich, meine Lieben, habe nun der traurigen Pflicht genügt, die mir auferlegt ward. Nachdem ich das Lob der seltenen Tugenden verkündet habe, die so wahr, offenkundig und allbekannt sind, werde ich von dieser Kanzel herab nie mehr die Stimme zum Gedächtnis derer erheben, die Euch noch entrissen werden. Anstatt mein heiliges Amt durch Verherrlichung erheuchelter Verdienste und angedichteter Eigenschaften zu entweihen, bleibe ich in den Schranken meines priesterlichen Berufes und widme den Rest meiner schwachen Kräfte der mir anvertrauten Herde. Ich beschränke mich<191> darauf, die einen mit den Drohungen der furchtbaren Rache Gottes niederzuschmettern, die andren aber mit Worten des Friedens und Erbarmens zu trösten, auf daß ich, wenn der Tod auch mich trifft, vor den Stuhl meines Richters treten und zu ihm sprechen kann: „Herr, hier bin ich mit allen, die Du mir anvertraut hast.“


173-1 Die „Lobrede“ entstand zu Beginn des Jahres 1759.

175-1 Epistel Pauli an die Hebräer, Kap. VII, Vers 1—3.

176-1 Epistel an die Römer, Kap. XI, Vers 33.

178-1 Vgl. „Antimachiavell“, Kap. XIV (Bd. VII, S. 55 ff.).

181-1 Vgl. S. 36.

182-1 Gemeint ist Ciceros Rede: Pro imperio Cu. Pompei (Pro lege Manilia).

183-1 Sprüche Salomonis XXIII, Vers 26.

184-1 1. Korinther VII, Vers 29.

186-1 I. Epistel an Timotheus V, Vers 23.

189-1 Offenbarung Johannis, Kap. IV, VII.