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Lob der Trägheit
(1768)

An den Herrn Marquis d Argens, Herrn von Eguilles und andren Gütern, Königlichen Kammerherrn und Direktor der Klasse der Schönen Literatur192-1



Gnädiger Herr!

>iewohl ich nur zum niedrigsten Gewürm auf dem Parnaß zähle, wollen mir Euer Gnaden verstauen, Ihnen die Frucht meiner Nachtwachen zu wid, men. Wem könnte ich ein Werk über eine so hervorragende Tugend wie die Trägheit besser zu Füßen legen, als Ihnen, gnädiger Herr, der sie so sehr leuchten läßt? Was waren die französischen Könige aus dem Geschlecht der Mero, winger im Vergleich zu Ihnen?192-2 Anfänger, Euer Gnaden, die sich ihrem glücklichen Trieb ohne Nachsinnen überließen, wogegen Sie der Welt ein Vorbild bedachten Nichtstuns geben, das auf den gründlichen Überlegungen eines rein philosophischen Geistes beruht. Fahren Sie fort, 0 göttlicher Marquis, dem verderbten Jahrhundert als Muster zu dienen! Zähmen Sie seine gefährliche Tatlusi zu Nutz und Frommen der Gesellschaft, wie ich es im folgenden nachweisen werde. Führen Sie die glücklichen Zeiten der völligen Tatlosigteit und der stillen Ruhe des goldnen Zeitalters zurück, in der die ersten Menschen ihre Tage beschlossen, nachdem sie ohne Unruhe und Sorge sanft dahingelebt hatten. Jedenfalls bitte ich Euer Gnaden, wenn ich Sie dadurch nicht ermüde, mir eine gute Pension auszuwirken, damit ich Ihren erlauchten Spuren zu folgen vermag. Durch solche Großmut wäre ich in Zukunft dem Zwang enthoben, Unwahrscheinlichkeiten zu beweisen und<193> die unglücklichen Verleger zur Verzweiflung zu treiben, wenn sie ihre Druckerpresse rollen lassen müssen, um meine Hirngespinste zu vervielfältigen.

Ich bin mit aller den Göttern Epikurs schuldigen Verehrung und aller Demut, die die Eigenliebe gewisser Autoren kennzeichnet,

Euer Gnaden
ehrerbietigster und gehorsamster Diener
N.N.

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Lob der Trägheit

Jede Meinung, so wunderlich sie auch ist, hat eifrige Verteidiger gefunden. Der Bischof Las Casas194-1 warf sich zum Beschützer der sokratischen Liebe auf... Erasmus, der weise Erasmus, hat das Lob der Narrheit gesungen194-2. Wenn die Geistesstörung, wenn die Trübung des logischen Denkvermögens in unsren Hirnen einen Fürsprecher in einem großen Manne gefunden hat, warum soll es uns dann nicht erst recht verstauet sein, die unendlichen Vorzüge der Trägheit zu rühmen und klar zu beweisen, daß diese glückliche und friedfertige Anlage, die sich bei einigen Lieblingen der Natur findet, der Gesellschaft im allgemeinen wie dem Individuum, das sie besitzt, gleich vorteilhaft ist? An Beweisen fehlt es uns nicht, im Gegenteil, ihre Menge setzt uns in Verlegenheit. Halten wir uns an die einfachsten. Wir berufen uns auf die Stimme der Öffentlichkeit, auf jene wegen ihrer Allgemeingültige keit sprichwörtlich gewordenen Meinungen und bitten, uns die Trivialität der Ausdrücke angesichts ihres tiefen Sinnes nachzusehen.

Das Volt sagt insgemein: „Schläft die Katze, so weckt sie nicht!“ Eine tiefe Lehre, die allein schon ein Lob der Trägheit bedeutet. Die Katze ist boshaft, der Schlaf macht sie regungslos. Hat sein ftiedenspendender Mohn ihre Lider geschlossen, so hütet Euch, sie zu wecken. So unschuldig sie in ihrer Untätigkeit ist, so tückisch wird sie, wenn sie durch die Erregung ihrer Sinne aus dieser sanften Lethargie erwacht.

Segnet, segnet die Trägheit der Menschen! Stört sie nicht! Möge ihre sanfte, gemütliche Herrschaft ewig währen! Ach! der Mensch ist zu böse, grausam und wild. Er neigt so selten zum Guten, daß es zu wünschen wäre, seine Untätigkeit hielte ewig an. Ja fürwahr, waren die größten Geißeln der Welt nicht die tatlusiigen, rastlosen, waghalsigen Seelen? Alexander, der hochgelobte und viel verlästerte Alexander, der die Ruhe Griechenlands störte und Asien umwälzte, der seine Eroberungen bis in die fernsten Himmelsstriche ausdehnte und seine Weltmacht auf den Trümmern der Throne errichtete, von denen er die rechtmäßigen Herr,cyer gestürzt hatte, Alexander, sage ich, hätte nicht soviel Unrecht begangen, nicht soviel Blut vergossen, hätte es seiner Seele nicht an der Kraft der Trägheit gefehlt! Cäsars Regsamkeit und Unternehmungslust stürzte die römische Republik. Tätiger als Pompejus, besiegte er diesen, riß die höchste Gewalt an sich und unterdrückte die Freiheit seines Vaterlandes. Was waren Tamerlan, Dschingiskhan, Alarich und Attila, wenn nicht von Ehrgeiz geplagte, von den Heftigsten Leidenschaften zerrissene<195> Seelen, die sich in der Ruhe verzehrten, während stürmische Zeiten ihr Lebenselement bildeten? An der Spitze wilder Barbarenvölker überschwemmten sie mit ihren Kriegsscharen die Oberfläche unsres Erdballs und zogen Zerstörung und Verheerung nach sich. Man braucht kaum hinzuzufügen, daß Mohammed, Soliman, die Päpste Gregor der Große und Hildebrand195-1, Karl V., die Guises, Ludwig XIV. und Karl XII. auf die gleiche Stufe zu stellen sind. Das Menschenherz ist von Grund aus verderbt, und unsre unseligen Neigungen treiben uns zum Lasier. Wie verhängnisvoll wird dem Menschengeschlecht jede Tätigkeit! Wie nutzbringend ist ihm die Trägheit!

Aber das Unglück, das unsren Erdball heimsucht, fließt aus mehr als aus einer Quelle. Mit Recht klagen wir über die zügellose Wildheit der Ehrsüchtigen. Doch die fanatische Tatkraft der Einsiedler ist uns nicht minder verderblich geworden. Wieviel Mönche haben den Geist der Zwietracht und des Aberglaubens geschürt! In aller Stille haben sie die Arme der Leichtgläubigen mit dem heiligen Schwerte bewaffnet, mit dem sie ihre Brüder abschlachteten. Ich erinnere weder an Samuel, der König Agag in Stücke zerhieb195-2, noch an Judith, die durch feigen Verrat den Holofernes umbrachte, noch an Ahab195-3, noch an die Leviten, die zwanzigtausend Kinder Israel ermordeten195-4, wohl aber an Esra195-5, der die fälschlich Moses zugeschriebenen Schriften zusammenstellte. Diese fanatischen Schriften erfüllten die Juden mit aufrührerischem Eifer. Sie brachen jeden Verkehr mit den andren Völkern ab, und leichtgläubig gegen die Träume seiner Seher, voller Zuversicht auf die Größe, die sie ihm verhießen, lehnte sich das jüdische Volt gegen das römische Joch auf und zwang dadurch Titus zur Zerstörung Jerusalems und seines Tempels (70 n. Chr.).

Ein gleiches gilt von den Evangelien, die den Aposteln zugeschrieben werden, von den Beschlüssen so vieler KirchentonzUe, die die Glaubensartikel vermehrten, um ihr Ansehen zu vergrößern. Sehr vom Übel war es, daß sie das Gedächtnis der leicht, gläubigen Christen mit einem Wust unglaubwürdiger Wunder anfüllten. Diese führten zu heftigen Streitigkeiten unter so vielen Sekten, die Europa in der Folge gespalten haben. Schließlich rief eine Menge fanatischer Schriften die Kreuzzüge hervor, so viele barbarische Kriege, die unter dem Deckmantel der Religion geführt wurden, die Errichtung des abscheulichen Tribunals195-6, das die Menschlichkeit und die Vernunft empört, das Blutbad der Bartholomäusnacht, die Metzelei in Irland195-7, die Pulververschwörung195-8 und so viele Königsmorde, über die auch die verbrecherischsten Menschen erröten sollten. Die Welt wäre glücklich gewesen, hätten solche in völligem Müßiggang lebende Skribenten nicht emsig die Feder geführt.

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Es ist also bewiesen, daß Tatlust die Mutter aller Verbrechen ist. Daraus folgt, daß Trägheit, Müßiggang und Nichtstun die Anlagen sind, die uns der Tugend am nächsten bringen. Stürzt doch Tätigkeit oder Bewegung Leib und Seele in Gefahr: den Leib, denn wer nicht geht, kann nicht fallen; wer sich nicht dem tückischen Meer anvertraut, kann nicht von seinen Fluten verschlungen werden; wer sich in seinem Bette vergräbt und sein Zimmer hermetisch verschließt, hat nichts von der Gicht zu fürchten, die der Luftzug im Hause zeitigt, noch von den Leiden, die die frische Luft erzeugen kann196-1; und wer nicht im Wagen fährt, kann nicht umschlagen. Diese Wahrheiten sind zu klar, als daß man Beweise auf Beweise zu häufen brauchte. Zu ihrer Bestätigung genügt es, das Sprichwort eines geistreichen Volkes anzuführen. Die Italiener sagen: chi sta bene, non si muova196-2.

Ihr berühmten Faulenzer, die Ihr durch wohlbedachten Müßiggang alle Segnungen des Nichtstuns kennt, wähnt nicht, wir hätten den Gegenstand schon erschöpft! Man muß auch beweisen, daß Bewegung der Körperwelt ebenso schädlich ist wie der sittlichen Welt. Die ganze Natur lehrt es uns. Der erste beste Gegenstand, auf den mein Blick fällt, beweist es mir. Seht Ihr, wie die Luft vom Nordwind gepeitscht wird? Er schwellt und bläht die Wetterwolken, die über unsrem Haupte donnern und aus ihren schwarzen Weichen Blitzsirahlen, Feuersbrünste und Tod senden. Ebenso ruft die heftig bewegte Luft Stürme, Wirbelwinde und furchtbare Orkane hervor und treibt die Trümmer gescheiterter Schiffe und die Leichen ertrunkener Seeleute durch die empörten Wogen. Woher kämen Erdbeben und Vulkanausbrüche, wenn nicht von unterirdischen Stürmen, die durch die Hohlräume der Erde tosen und die Zündstoffe im Erdinnern entfachen? Dann treiben sie sie mit furchtbarem Getöse den Spalten zu, aus denen ihre Wut hervordringt und sich in Flammensirömen über die Gefilde ergießt.

Aber mag man solche Erscheinungen auch für seltene Unglücksfälle halten, die nur zeitweise eintreten und somit wenig zu fürchten sind: Man sieht doch auch sonst, daß die Bewegung das zerstörende Prinzip der Natur ist. Ihr Wesen besteht darin, daß sie unsre Organe abnutzt, die Triebfedern des Lebens durch beständige Spannung erschlafft, Krankheitskeime anhäuft, die Ursachen des Todes vorbereitet, kurz, die Atome, aus denen wir bestehen, scheidet, um sie durch eine neue Metamorphose zu neuen Wesen zusammenzusetzen. Bewegung und Veränderung sind unzertrennlich verbunden. Da nun Tätigkeit der Anlaß jeder Veränderung ist und all unser Unglück von der Unbeständigkeit der Dinge kommt, so folgt daraus mit Notwendigkeit, daß die Summe des Schlechten in dieser Welt weit größer ist als die des Guten, und daß die Tätigkeit mehr verderbliche als ersprießliche Ereignisse herbeiführt. Es ist also offenbar, daß die glücklichste Neigung des Menschen die zur Trägheit und daß Nichts, tun ein Verdienst ist; denn der erste Schritt zur Tugend ist die Abwendung vom Laster.

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Wenn wir der jüdischen Sage Glauben schenken, ruhte Gott aus, nachdem er die Welt geschaffen. Er bereute, seine Sache schlecht gemacht zu haben, und damit ihm das gleiche nicht noch einmal passierte, beschrankte er sich auf unerschütterliche Ruhe. Die Verehrer des Christentums haben ihren Gott zum Schutzpatron der Nichtstuer gemacht. Die Einsiedler, die ihr Leben in steter Untätigkeit verbringen, sind nach ihrer Behauptung seine Lieblingskinder und Auserwählten. Wahre Frömmigkeit trägt nur dann Frucht, wenn sie auf träge Seelen gepfropft wird. Glauben, ohne zu prüfen, sich von Priestern gängeln lassen, um sich die Mühe der Selbstbestimmung zu ersparen, beten, ohne zu wissen, was man sagt, schwärmen oder ins Blaue hineinträumen, nichts tun, das sind die Attribute vollkommener Heiligkeit. O seliges Nichtstun, du öffnest den Frommen mühelos die Pforten des Heiles!

Bemerkenswert isi, daß nicht nur die Religionen Trägheit predigen: auch ganze philosophische Sekten waren der gleichen Ansicht. Nach Epikur, der Leuchte des heidnischen Griechenland, bestand das höchste Glück in Tatlosigkeit. Er riet dem Weisen, sich nie in die Staatsgeschäfte zu mischen, und damit seine Götter ein ungetrübtes Glück genießen können, schrieb er ihnen vollkommene Gleichgültigkeit und Wunschlosigkeit zu. In süßer Ruhe überließen sie die Welt der Vorsehung der Natur. Unbewegt von Leidenschaften, ungestört durch Sorge und Unruhe, genossen sie die Gegenwart und fragten nicht nach der Zukunft. Eine machtvolle und tiefe Lehre, die den Menschen die große Wahrheit enthüllte, daß das meiste, was man tun kann, schlecht ist und man darum besser garnichts tut! Und da allen Sterblichen nun einmal der Tod verhängt isi und es kein Entrinnen giebt, so lehrt die Weisheit, daß man ihm so sanft wie möglich entgegengehen soll, ohne Körper und Geist unnütz dmch Trachten nach Gütern und Ehren zu ermüden, denen man doch früh oder spät entsagen muß.

O glückliche und weise Trägheit, du versöhnst die Meinungen der Frommen und der Philosophen! Wie nutzbringend isi der Hang zu dir für die Seligkeit! Wie wohltätig lindert dein Einfiuß die Bitternisse des Lebens! Du lehrst uns, die weiche Watte und die Daunenbetten unsres Lagers den Mühen und Anstrengungen der rasenden Liebhaber des Ruhmes vorziehen. Du hältst uns fern vom stürmischen Leben der Ehrgeizigen, von der Sorge, die den Staatsmännern ihre nichtigen Pläne bereiten. Du ersparst unsren zarten Ohren das rauhe Geschrei der hadernden Parteien vor Gericht, du verabscheust Prozesse und Advokaten. Du behütest uns vor dem Eifer für unsre Mitbürger, bei dem der Mensch sich selbsi vergißt und nur noch für das Glück seiner Nächsten da isi, gleich als ob wir für die Gesellschaft und nicht für nns selbsi lebten. Du verachtest die Arithmetik und zerreißest die Rechnungen in unsren Händen. Du haßt das unbequeme Sorgen und Mühen um Gelderwerb und gefällst dich im Vergeuden, wenn du Reichtümer aufgestapelt findest. Nie verband sich die Trägheit mit betrügerischem Sinn. Nie war ein Generalpächter, nie ein berufsmäßiger Spieler, nie ein Mandrin197-1 träge.

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Der weiseste aller Könige hat gesagt: alles ist eitel. Warum sich also mit eitlen Dingen befassen? Und wenn des Menschen Leben nur ein Auf und Nieder ist, warum an diesem leichtfertigen Kinderspiel Gefallen finden? Besser garnichts als Nichtiges tun. Überlassen wir die Welt der notwendigen Verkettung der Ursachen, lassen wir dem Schicksal seinen Lauf, sofern es alles bestimmt, und werfen wir uns in die weichen Arme der Trägheit! Unruhe und Sorge pochen nie an ihre Tür, die Sorge um das Morgen darf ihr nicht nahen, ja selbst das grause Gebell des Höllenhundes kann uns nicht schrecken.

O heilige, köstliche Trägheit! Einziges Glück der schönen Seelen! Deiner Tatlosigteil liegt jedes Verbrechen fern; ihr blüht der ungetrübte Genuß seligen Dahindämmerns. Schließen wir diese Betrachtungen mit dem Sprichwort, das wir schon anführten: „Schläft die Katze, so weckt sie nicht!“ Denn in jedermann steckt eine Katze, und die schlafenden sind die ungefährlichsten.


192-1 Für d'Argens vgl. auch S. 132 ff. Die von König Friedrich neubegründete Akademie führte den Namen „Académie Royale des siences et belles-lettre“, und zwar bildete die Schöne Lite, ratur in ihr eine besondere Klasse.

192-2 Anspielung auf das Spottwort „rois fainéants“ (Faulenzer, Könige), das auf die letzten Merowingerkönige geprägt worden ist.

194-1 Vgl. S. 138.

194-2 Vgl. S. 95. 138.

195-1 Gregor VII.

195-2 I. Samuelis XV, Vers 33.

195-3 I. Könige XXII.

195-4 2. Mose XXXII.

195-5 Jüdischer Schriftgelehrter, der 458 v. Chr. eine zweite Schaar Juden aus der babylonischen Verbannung zurückbrachte. Sein Wirken wird im biblischen Buch Esra beschrieben.

195-6 Die Inquisition.

195-7 Gemeint ist die blutige Niederwerfung der aufständischen Iren durch Cromwell (1649).

195-8 Fanatische Katholiken planten, am 5. November 1605 König Jakob I. von England und das Parlament in die Luft zu sprengen.

196-1 Vgl. dazu das Gedicht des Königs: An d'Argens' Bett (Bd. X).

196-2 Wem es gutgeht, der rühre sich nicht.

197-1 Straßenräuber. Vgl. Bd. III, S. 32.