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IV. Gedächtnisreden

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Gedächtnisrede auf Prinz Heinrich den Jüngeren201-1
Gelesen in der Akademie am 30. Dezember 1767



Meine Herren!

Ein verständiger Mensch darf sich gewiß dem Kummer hingeben, wenn er mit seinem Vaterlande und einem zahlreichen Volke den Schmerz um einen unersetzlichen Verlust teilt. Es ist nicht die Aufgabe der Philosophie, das natürliche Gefühl in uns zu ersticken; sie beschränkt sich darauf, die Ausbrüche der Leidenschaften in die rechte Bahn zu lenken und zu mäßigen. Sie wappnet das Herz des Weisen mit so viel Festigkeit, daß er sein Unglück mit Seelengröße trägt, würde ihn aber tadeln, wenn er Verlust und Unglück seiner Mitbürger mit dumpfer Gleichgültigkeit und kaltem Blick ansähe. Sollte ich also allein gefühllos bleiben dürfen bei dem traurigen Ereignis, das den Frohsinn Ihrer Tage trübt, bei dem düstern Schauspiel, das sich jüngst vor Ihren Augen abgespielt hat, bei dem Triumph des Todes, der sich aus dem, was er uns geraubt hat, Siegeszeichen errichtet und sich selber Beifall zollt, die Besten unter uns dahingerafft zu haben? Nein, meine Herren, mein Stillschweigen wäre strafbar; es muß mir vergönnt sein, meine Stimme mit der so vieler tugendhafter Bürger zur Klage um einen jungen Prinzen zu vereinen, den die Götter der Welt nur gezeigt und wieder genommen haben. Wohin ich meinen Blick auch wende, überall sehe ich nur gesenkte Stirnen, düstre Gesichter mit dem Stempel des Schmerzes, Tränenströme, die aus den Augen brechen; ich höre nur Seufzer und Klagen, durch Schluchzen erstickt. All das gemahnt mich an die Trauer der königlichen Familie, die, ach vergebens, den liebenswürdigen Prinzen zurückersehnt, den sie für immer verloren hat.

Die hohe Geburt, die Prinz Heinrich dem Thron so nahe stellte, war nicht die Ursache so allgemeiner Trauer: Hoheit, Glanz und Macht flößen nur Furcht ein, erzwungene Ergebenheit und Respekt, der ebenso leer ist wie das Idol, dem man ihn erweist. Stürzt das Idol, so ist es mit der Achtung vorbei, und die Bosheit schlägt<202> sie in Trümmer. Nein, meine Herren, was man am Prinzen Heinrich schätzte, ist nicht das Werk des Schicksals, sondern das Werk der Natur, seine Geistesgaben und Herzenseigenschaften, das eigenste Verdienst. Wäre er nur ein gewöhnlicher Mensch gewesen, so hätte man vielleicht anstandshalber kühles Bedauern gezeigt, das die Gleichgültigkeit der Welt doch Lügen gestraft hätte, erzwungenes Lob, das man gelangweilt anhört, seichte Beileidsbezeigungen, die den größten Toren nicht täuschen, und sein Name wäre zu ewiger Vergessenheit verurteilt worden.

Doch ach! Wie anders liegen die Dinge! Wäre Prinz Heinrich nur ein einfacher Bürger gewesen, er hätte die Herzen aller gewonnen, mit denen er in Berührung kam. Fürwahr, wer konnte seinem leutseligen, gefälligen Wesen widerstehen, seiner unerschöpflichen Liebenswürdigkeit, seinem weichen und mitfühlenden Herzen, seinem adligen, schwungvollen Geiste, seinem gereiften Urteil im Alter der Verirrungen, seiner Liebe zur Wissenschaft und Tugend, die er in Jahren zeigte, wo die meisten Menschen nur Neigung zu Vergnügungen und Torheiten verspüren, kurz, dieser bewundernswerten Vereinigung von Talenten und Tugenden, der man so selten bei einem Bürgersmann begegnet und noch seltener bei Personen von hoher Geburt, da ihre Zahl weit geringer ist?

Sollte in dieser Versammlung jemand so schlecht, so boshaft sein und so hart und mitleidlos urteilen, daß er den würdigen Gegenstand unsres gerechten Schmerzes zu verhöhnen wagte und Einspruch dagegen erhöbe, daß wir heute das Gedächtnis eines Jünglings feiern, der rasch dahinging und keine Spuren seines Daseins hinterließ? Nein, meine Herren, meine Vorstellung von dem Charakter unsrer Nation ist zu hoch, um bei ihr Männer zu vermuten, die aus Gefühllosigkeit grausam und aus Widerspruchsgeist unmenschlich sind. Mag sein, daß man unsren Verlust nicht kennt; aber kennt man ihn, so muß man erschüttert sein. Sollten sich aber solche verächtlichen Splitterrichter finden, was könnten wir ihnen antworten?

Sind sie der Meinung, daß ein ganzes Volk sich täuscht, wenn es beim Tode eines jungen Prinzen Beweise tiefsten Schmerzes gibt? Glauben sie, daß man die Gunst der Öffentlichkeit ohne Verdienst gewinnt und sie in eine Art von Taumel versetzen kann? Denken sie, daß das Menschengeschlecht, das so ungern Beifall spendet, sich leicht dazu entschlösse, wenn die Tugend ihn nicht erzwingt? Mögen sie also zugeben, daß dieser Jüngling, der keine Spur seines Daseins zurückließ, unsre Trauer verdient, weil er zu den schönsten Hoffnungen berechtigte und wir nur wenige Prinzen zu verlieren haben. Rechtfertigen wir die Tränen der königlichen Familie, die Trauer der wahrhaft königstreuen Bürger und die allgemeine Bestürzung, die bei der Nach, richt von einem so schweren Verluste entstand!

Meine Herren, worauf beruht die Stärke eines Staates? Auf den weiten Grenzen, die vieler Verteidiger bedürfen? Auf den durch Handel und Gewerbfleiß angehäuften Reichtümern, deren Nutzen allein in ihrer guten Anwendung liegt? Auf zahlreichen Völkern, die sich gegenseitig vernichten würden, wenn ihnen die Führer<203> fehlten? Nein, meine Herren, das alles ist roher Stoff, der nur so weit Wert und Bedeutung hat, als Klugheit und Geschicklichkeit ihn zu kneten weiß. Die Stärke der Staaten beruht auf den großen Männern, die ihnen zur rechten Stunde geboren werden. Man durchlaufe die Weltgeschichte, und man wird sehen, daß die Zeiten des Aufstiegs und des Glanzes der Reiche die waren, wo erhabene Geister, tugendhafte Seelen, Männer von hervorragendem Talent in ihnen glänzten und die Last der Regierung unter hochherzigen Anstrengungen trugen.

Ein unbestimmtes Gefühl durchbebt die Welt, wenn Männer von hoher Geburt sterben; denn man erwartete wichtige Dienste von ihnen. Vernichtet ein rauher Winter eine zarte Pflanze kurz vor ihrer Blüte, so beklagt man das mehr als den Fall eines alten Baumes, dessen Säfte eingetrocknet sind und dessen Äste verdorren. Ebenso, meine Herren, empfindet es die Menschheit schmerzlicher, wenn ihre Hoffnungen ihr kurz vor der Erfüllung geraubt werden, als wenn ein Greis die Welt verläßt, von dessen gebrechlichem Alter wir nicht mehr so viel erwarten durften wie von seiner Jugend.

Auf wen hätten wir je festere Hoffnungen gründen können, als auf einen Prinzen, dessen geringste Handlungen uns seinen bewunderungswürdigen Charakter enthüllten, der bereits ahnen ließ, was er eines Tages leisten könnte? Ach, wir sahen den Keim von Talenten und Tugenden wachsen und gedeihen, auf einem Felde, das reiche Ernte versprach.

Die aufgeklärtesten und welterfahrensten Leute, die viel in den Herzen der Menschen geforscht haben, wissen tief in den Seelen zu lesen, welche Taten man von ihnen erwarten kann. Was fanden sie nicht alles bei dem jungen Prinzen? Eine Seele, die den Stempel der Tugend trug, ein Herz voll edler Gefühle, einen wißbegierigen Geist, einen Genius von höchstem Schwunge, ein männliches und vor der Zeit gereiftes Urteil. Wollen Sie Beispiele dafür, wieviel die Vernunft in einem so zarten Alter über ihn vermochte? Meine Herren, gedenken Sie an jene sturmbewegten, unglücksreichen Tage, da das betörte Europa sich verschworen hatte, unsre Monarchie zu stürzen, da wir rings nur Feinde sahen und es schwer war, die Freunde herauszufinden. Damals verließ der Prinz von Preußen Magdeburg, dessen Wälle der königlichen Familie als letzte Zuflucht dienten, um den König in den Feldzug von 1762 zu begleiten. Prinz Heinrich brannte darauf, wie sein Bruder in den Krieg zu ziehen; aber er begriff nicht nur, daß seine Jugend den Strapazen nicht gewachsen war, sondern auch, daß der König, sein Oheim, nicht leichtfertig alle Hoffnungen des Staates auf einmal offenen Gefahren aussetzen durfte203-1. Diese Erwägungen bestimmten ihn, sich ganz dem Studium hinzugeben. Er sagte, er wolle jeden freien Augenblick, den er nicht dem Ruhme weihen könnte, nutzbringend anwenden. Seine<204> Fortschritte entsprachen seinem Entschluß. Er betrieb das Studium nicht wie die leichtfertige und verdorbene Jugend, die nur aus Furcht vor den Lehrern arbeitet und rasch die lästigen Pflichten erfüllt, um sich dann dem Müßiggang oder besser gesagt, zügellosen Ausschweifungen hinzugeben, wozu schlechtes Beispiel ihr nur allzu oft den Weg weist.

Unser Prinz blickte klarer. Er wußte, daß die Natur ihm, wie allen Menschen, nur die Fähigkeit, sich zu unterrichten, verliehen hätte, daß er daher alles lernen müßte, was ihm unbekannt wäre. So füllte er denn sein Gedächtnis, diese kostbare Vorrats, kammer, mit Kenntnissen an, von denen er sein Leben lang Gebrauch machen konnte. Er war überzeugt, daß die Einsicht, die man durch das Studium gewinnt, die Erfahrung frühzeitig reift, und daß eine gründlich durchdachte Theorie die Praxis leicht macht. Wollen Sie wissen, welch weites Gebiet von Kenntnissen er umfaßte? Er beherrschte die Geschichte von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Mit besonderem Fleiße hatte er sich die Charaktere der großen Männer, die wichtigsten, auffälligsten Ereignisse eingeprägt. Er wußte, was zum Aufstieg und Untergang der Reiche am meisten beigetragen hat. Diese kostbare, erlesene Auswahl aus der Geschichte hatte er sich ganz zu eigen gemacht.

Es gab kein militärisches Werk von einigem Rufe, das er nicht studiert und über das er nicht die Meinung erfahrener Leute eingeholt hätte. Wollen Sie noch unzweideutigere Zeugnisse für seinen Eifer, sich gründlich zu unterrichten? Vernehmen Sie denn, meine Herren: er hatte die verschiedenen Befestigungssysteme durchgenommen; da er sich aber auf diesem Gebiet noch nicht so erfahren fühlte, wie er gewünscht hätte, nahm er sechs Monate lang Unterricht bei Oberst Ricaud204-1, ohne daß ihn jemand dazu angeregt hätte, ja, ohne Vorwissen seiner Eltern! O Jüngling! Welch ein Beispiel gabst Du der schlaffen und trägen Jugend, die man zum Lernen zwingen muß! Was durfte man sich von Deinen glücklichen Anlagen nicht alles versprechen! Wollen Sie schlagende Beispiele für die Gründlichkeit seines Geistes? Verkünden wir offen die Wahrheit. Sprechen wir es vor dieser erlauchten Versammlung aus, was wenigstens einem Teil ihrer Mitglieder schon bekannt sein muß! Mit achtzehn Jahren wußte der Prinz die Systeme von Descartes, Leibniz, Malebranche und Locke darzustellen. Ja, sein Gedächtnis hatte nicht allein alle diese abstrakten Dinge erfaßt; seine Urteilskraft hatte sie auch geläutert. Er war erstaunt, in den Forschungen dieser großen Geister weniger Wahrheiten als geistreiche Voraussetzungen zu finden204-2, und er war mit Aristoteles zu der Ansicht gelangt, daß der Zweifel der Vater der Weisheit sei.

Sein gesundes Urteil, das ihn bei allen seinen Schritten leitete, hieß ihn in der Mathematik sich auf das Studium der Elemente des Euklid beschränken. Die höhere Geometrie überließ er, wie er sagte, müßigen Köpfen, die sie als eine Art geistigen<205> Luxus pflegen könnten. Wird die Nachwelt glauben, daß der liebenswerte Prinz, der kaum die Schwelle des Heiligtums der Wissenschaften betreten hatte, so viele in ihrem Amte ergraute Gelehrte beschämte, die nur ihr Gedächtnis anfüllen, ohne ihren Verstand aufzuklären?

Ein guter Kopf ist fähig, sich auf jedem Gebiet zu betätigen. Er gleicht einem Proteus, der mühelos seine Gestalt wechselt und stets wirklich als das erscheint, was er darstellt. Mit dieser glücklichen Anlage geboren, bezog unser Prinz auch die Praxis der Kriegskunst in den Kreis seiner Kenntnisse ein. Für alles, was er unternahm, schien er geschaffen. Sein Wetteifer und seine militärische Neigung traten besonders bei den jährlichen Revuereisen hervor, die er im Gefolge des Königs durch alle Provinzen unternahm. Er kannte die Armee und war ihr bekannt. Er beherrschte die gefahrvolle Kriegskunst von den geringsten Einzelheiten bis zu den schwersten Aufgaben. Dabei war er stets guter Laune, mäßig in seinen Sitten, geschickt in allen Leibesübungen, beharrlich in seinen Unternehmungen, unermüdlich in der Arbeit und ein Freund von allem, was nützlich und ehrenvoll ist.

So viele hervorragende Talente, mit denen die Natur Prinz Heinrich begabt hatte, würden jedoch kein vollkommenes Lob ausmachen, ohne die Eigenschaften des Herzens, die für alle Menschen, besonders aber für die Großen so wichtig sind. Sie setzten seinem Charakter erst die Krone auf.

Hier eröffnet sich meinem Blick ein viel weiteres Feld, das mir eine reiche Ernte von Tugenden schenkt. Ein Jüngling, kaum in dem Alter, wo die Seele sich zu entwickeln beginnt, bietet mir eine Fülle von Beispielen der Vollkommenheit. Ich behaupte nichts, meine Herren, was ich nicht mit Beweisen belegen kann. Wie sehr ich auch an dem Prinzen hing, meine Liebe würde mich doch nicht so sehr verblenden, daß ich Augenzeugen täuschen wollte. Aber wer will mich Lügen strafen, wenn ich sage/ daß Prinz Heinrich, der mit feurigem Gemüt geboren war, seine Lebhaftigkeit durch Klugheit zu zügeln wußte? Wer immer die Ehre hatte, ihm näherzutreten, wußte, daß man ihm ruhig sein Herz ausschütten konnte, ohne befürchten zu müssen, daß er ein ihm anvertrautes Geheimnis verriete. Sein Herz war das Schönste und Edelste an ihm. Er war sanftmütig gegen alle, die ihm nahten, mitleidig gegen die Unglücklichen, zärtlich gegen die Leidenden, menschlich gegen jedermann. Er teilte den Gram der Betrübten, trocknete die Tränen der vom Schicksal Verfolgten und überschüttete die Dürftigen mit Wohltaten. Nichts war ihm zu kostbar, um den Notleidenden Linderung zu schaffen. Euch rufe ich zu Zeugen, ihr darbenden Familien, denen er mit allen Kräften beistand, ihr verschämten Armen, die bei ihm stets sichere Zuflucht fanden, ihr Unglücklichen jeder Art, die in ihm einen Wohltäter, einen Vater verloren! Die Herzensgüte war ihm angeboren. Es kostete ihm so wenig, sie zu betätigen, daß man deutlich erkannte: sie floß aus einer lauteren unerschöpflichen Quelle. Warum ließ ein feindliches Geschick sie so bald versiegen? Soll ich die kurze Zeit vergessen, die er bei seinem Regiment zugebracht hat? Ihr, seine Offiziere, und<206> Ihr, tapfere Kürassiere, die stolz waren, unter ihm zu dienen: wird einer unter Euch mir widersprechen, wenn ich sage: Ihr habt ihn nur durch seine Wohltaten kennen gelernt, und dieser junge Prinz konnte Euch allen Führer und VorbUd sein?

Sie wissen es selbst, meine Herren, daß völlige Uneigennützigkeit die Quelle ist, aus der alle Tugenden stießen. Der Selbstlose zieht Ehre und Ruf den Vorteilen des Reichtums vor, Billigkeit und Gerechtigkeit den Trieben zügelloser Begehrlichkeit, die Wohlfahrt von Staat und Gesellschaft dem Eigennutz und dem Vorteil der Familie, das Hell und die Erhaltung des Vaterlandes der Selbsterhaltung, den Gütern, der Gesundheit, dem Leben. Kurz, sie erhebt den Menschen über das Menschliche und macht ihn fast zum Bürger des Himmels. Diese edle, hochherzige Gesinnung äußerte sich in allen Handlungen des Prinzen. Wie sehr wünschte er seinem Bruder, dem Prinzen von Preußen, eine fruchtbare Ehe! Obwohl er sich nicht verhehlen konnte, daß die Kinderlosigkeit dieser Ehe ihm die Anwartschaft auf den Thron brächte, war er aufrichtig erfreut, als er die Entbindung der Prinzessin Elisabeth, seiner Schwägerin, erfuhr, und bedauerte allein, daß sie keinem Prinzen das Leben geschenkt hatte206-1! Es fiele mir nicht schwer, Ihnen noch ähnliche Züge anzuführen, die Sie mit Liebe erfüllen und zur Bewunderung hinreißen würden. Aber gestatten Sie mir, daß ich hierbei stehen bleibe und den Schleier nicht lüfte, der den ungeweihten Blicken verbirgt, was im Innern des Königshauses vorgeht.

Wer sollte nach allem, was Sie vom Prinzen Heinrich vernommen haben, nicht befürchten, daß die außerordentliche Selbstzufriedenheit aller Menschen, die Bedeutung, die sie ihren geringsten Handlungen zuschreiben, die schmeichlerische Neigung, sich selbst Beifall zu zollen, das Herz eines Jünglings mit einer stets abstoßenden, wenn auch nicht ganz unbegründeten Eitelkeit geschwellt hätte! Welche Klippe für die Eigenliebe bilden so zahlreiche Talente, ja selbst so viele Tugenden! Zum Glück hatten wir für ihn nichts zu befürchten. Etwas Höheres bewahrte ihn vor dieser gefährlichen Klippe. Ich berufe mich auf den Hof, die Hauptstadt, die Armee, die Provinzen, auf Sie selbst, meine Herren! Sie wissen, seine schöne Seele war die einzige, die mit sich selbst nicht zufrieden war. Die Eigenschaften, die er besaß, genügten ihm nicht; er machte sich einen höheren Begriff von denen, die er zu erwerben hoffte. Das war es, was seinen Eifer entstammte, sich die ihm fehlenden Kenntnisse anzueignen. Er wollte auf allen Gebieten der Vollendung so nahe kommen, wie es der menschlichen Schwachheit verstattet ist. Aber wenn auch Eitelkeit ihm eine lächerliche Schwäche deuchte, so war er doch gegen die Lockungen des Ruhmes nicht fühllos. Welcher tugendhafte Mensch hat den Ruhm je verschmäht? Er ist die letzte Leidenschaft des Weisen; die strengsten Philosophen haben ihn nicht auszurotten vermocht. Gestehen wir es offen: das Streben nach dauerndem Ruhme ist die mächtigste und Hauptsächlichste Triebfeder der Seele, ist die Quelle und ewige Grundlage der Tugend.<207> Aus ihr entstehen alle Taten, durch die sich die Menschen unsterblich machen. Prinz Heinrich wollte seinen Ruf nicht der niedrigen Gefälligkeit des Pöbels verdanken, des verächtlichen Anbeters des Glücks, der seine Abgötter knechtisch beweihräuchert, auch wenn sie verdienstlos sind. Er strebte nach einem Ruhme, der von seiner Person unzertrennlich war und den kein Neid anzweifeln tonnte. Er wollte keinen erborgten Namen, sondern echten, von einem unveränderlichen Charakter getragenen Ruhm.

Was erhofften wir nicht alles von so vielen bewundernswerten Eigenschaften, die mit so großer Bescheidenheit gepaart waren! Mit welchem Vergnügen zeichneten wir nicht schon im voraus die Taten auf, die dieser große Prinz uns versprach! Wir sahen ihn in die Welt treten, die Bahn des Ruhmes tat sich vor ihm auf. Wir glaubten einen Wettläufer zu sehen, der seinen Lauf glorreich vollenden würde. Seine blühende Jugend schwellte unser Hoffen. Schon im voraus genossen wir alle seine Verdienste. Ach! Wir wußten nicht, daß ein düsteres Verhängnis ihn uns so bald rauben würde!

Weh mir! Soll ich Ihren Schmerz erneuern und den Quell Ihrer Tränen abermals stießen lassen? Soll meine Hand aufs neue den Dolch in Ihr noch blutendes Herz stoßen? Umsonst, meine Herren, wäre mein Bemühen, Ihnen unsren gemeinsamen Verlust zu verhehlen. Er ist leider nur zu wahr! Ohnmächtige Redner, was vermögt ihr, um einen so heftigen Schmerz zu lindern? Weint lieber mit allen Weinenden ringsum!

Wie Sie wissen, wurde Prinz Heinrich plötzlich von einer ebenso heftigen wie furchtbaren Krankheit ergriffen. Der Prinz, der keine Furcht kannte, scheute sich auch nicht vor den Blattern, obwohl sie im letzten Winter so große Verheerungen angerichtet hatten und fast jedermann mit Schrecken erfüllten. Bewundern Sie seine Menschlichkeit! Als die Ärzte ihm seine Krankheit nannten, verboter allen seinen Dienern den Zutritt, die bisher von den Blattern verschont geblieben waren. Einer seiner Kammerdiener, auf den dies zutraf, durfte ihn daher nicht bedienen. Der Prinz sagte, wenn man ihm seine Ruhe nicht rauben wolle, müsse man ihn allein die Gefahr bestehen lassen und ihn nicht dem aussetzen, andre anzustecken. Ein Flügeladjutant des Königs, der keine Blattern gehabt hatte, erbot sich, bei ihm zu wachen, aber der Prinz ließ es nicht zu. Er fürchtete, das Leben seiner Umgebung in Gefahr zu bringen, und trotzte selbst der Gefahr. Diese Herzensgüte und edle Gesinnung, diese hochherzige Denkweise, diese Menschlichkeit, die Krone aller Tugenden, kennzeichneten ihn bis zum letzten Augenblick. Geduldig ertrug er sein Leiden, blickte dem Tod furchtlos entgegen und starb wie ein Held.

Für die königliche Familie war diese ebenso unverhoffte wie unheilvolle Nachricht ein Donnerschlag. Ach! Wir alle schmeichelten uns mit Hoffnungen, suchten uns zu tauschen und verbannten aus unsrem Geiste die finstern Bilder, deren schmerzlicher Eindruck unser Gemüt verwundete. Die Ärzte, die durch ihre beschränkte Kunst zu bloßen Augenzeugen der Krankheit herabsinken, wiegten uns noch in trügerische<208> Sicherheit, als plötzlich die düstere Trauerkunde unser Hoffen vernichtete und uns in den Abgrund des Schmerzes stürzte.

Gedenken Sie, meine Herren, des Schicksalstages, da das schnell sich verbreitende Gerücht uns plötzlich die traurigen Worte verkündete: „Prinz Heinrich ist tot!“ Welche Bestürzung! Welch aufrichtige, wenn auch vergebliche Klagen! Wieviel Tränen! Nein, das war kein geheucheltes Beileid, sondern der aufrichtige Schmerz eines aufgeklärten Volkes, das die Größe seines Verlustes ermißt. Die Jugend klagte: „Weshalb mußte der sterben, auf den wir so viele Hoffnungen bauten!“ Die Greise sagten: „Er hätte leben und wir sterben sollen!“ Ein jeder glaubte in ihm einen Verwandten, einen Freund, ein Vorbild, einen Wohltäter verloren zu haben. Marcellus, in der Blüte seines Lenzes dahingerafft208-1, wurde weniger betrauert; der Verlust des Germanicus208-2 hat den Römern nicht so viele Tränen entlockt. Der Tod eines Jünglings ward zum Unglück für das ganze Land.

O unseliger Leichenzug! Dein Weg wurde mit Strömen von Tränen benetzt. Nur durch Seufzen und Schluchzen, durch das Klagegeschrei des Voltes und alle Zeichen der Verzweiflung konntest Du zum Grabe gelangen!

Das, meine Herren, ist das Vorrecht der Tugend, wenn sie in ihrer ganzen Reinheit erstrahlt: So sehr die Menschen auch zum Lasier neigen, sie müssen doch zu ihrem eignen Besten die Tugend lieben und ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Der aufrichtige Beifall eines ganzen Volles, das allgemeine Zeugnis der öffentlichen Hochachtung, das Lob, das Prinz Heinrich nach seinem Tode gezollt ward, also zu einer Zeit, wo er jeder Schmeichelei entrückt war, — gehört das alles nicht zu jenen einmütigen Kundgebungen, worin die Stimme Gottes sich durch die Stimme eines ganzen Volkes zu offenbaren scheint? Messen wir also das Leben der Menschen nicht nach seiner längeren oder kürzeren Dauer, sondern nach dem Gebrauche, den sie von der Zeit ihres Daseins gemacht haben. O liebenswerter Prinz! Deine Weisheit ließ Dich diese Wahrheit einsehen. Dein Lebenslauf war kurz, aber Deine Tage waren inhaltsreich. Du selbst würdest die kurze Frist, die das Schicksal Dir beschieden hatte, nicht beklagen, wenn Du wüßtest, wie heiß Du geliebt wardst, wie viele Herzen Dir treu zuschlugen, wie großes Vertrauen die Welt auf Dein Talent setzte. Was konnte ein längeres Leben Dir wohl mehr bieten?

Ach! meine Herren, diese traurigen Betrachtungen vermögen unsren Gram nicht zu lindern. Im Gegenteil, sie mehren ihn nur! Sie gemahnen uns an alle Vorzüge, die wir genießen sollten, und die nun so plötzlich entschwunden sind. Eine Schicksalsstunde hat auf ewig unsre Hoffnung vernichtet, so viele Tugenden zum Wohle des Vaterlandes leuchten zu sehen. O unseliger Tag, der uns eine so süße Hoffnung raubte! Grausame Krankheit, die ein so schönes Leben abkürzte! Erbarmungsloses Geschick, das den Liebling des Volkes raubte — warum lassest Du uns noch das<209> Licht genießen, das Du ihm genommen hast? Doch was sage ich? Wohin verirrt sich mein Schmerz? Nein, meine Herren, unterdrücken wir dies ebenso sträfliche wie vergebliche Murren. Achten wir die Beschlüsse der Vorsehung und bedenken wir, daß wir als Menschen dem Leid unterworfen sind. Der Feige erliegt unter seiner Last, aber der Beherzte erträgt es standhaft. Könnte dieser liebenswerte und geliebte Prinz unsre Klagen und die Schmerzenslaute so vieler Leidtragenden hören, er mißbilligte diese traurigen Zeugnisse unsres ohnmächtigen, fruchtlosen Schmerzes. Er würde denken: da er uns in der kurzen Frist seines Lebens nicht so nützlich sein konnte, wie es in seiner edlen Absicht lag, so sollten wir zum mindesten aus seinem Tode eine Lehre ziehen.

O Ihr, erlauchte Jünglinge, die Ihr Euch dem Waffenberufe widmet und nur für den Ruhm lebt, tretet an sein Grab! Erweist die letzte Pflicht dem Prinzen, der mit Euch wetteiferte und Euch ein Vorbild war! Seht, was uns von ihm bleibt: ein entstellter Leichnam, Gebeine, Asche, Staub — das gemeinsame Schicksal aller, die des Todes Sense weggemäht hat! Doch bedenkt zugleich, was ihn unvergänglich überlebt, das Andenken an seine hohen Eigenschaften, das Beispiel seines Lebens, das Vorbild seiner Tugenden. Mir ist, als sähe ich seine erloschene Asche sich aufs neue beleben, aus dem Grab auferstehen, in dem seine kalten Überreste ruhen, und also zu Euch sprechen: „Euer Leben ist eng begrenzt, wie lange es auch währe. Eines Tages werdet Ihr alle die sterbliche Hülle ablegen. Benutzt die Frist zur Tätigkeit. Seht, wie rasch meine Tage entschwanden. Soll Euer Andenken Euch überleben, so beherzigt, daß Euer Name nur durch edle Taten und Tugenden der zerstörenden Zeit und dem Dunkel der Vergessenheit entgeht.“

Auch Ihr, tapfere Verteidiger des Vaterlandes, die Ihr mit beispielloser An, strengung dem Ansturm ganz Europas Trotz botet, Ihr, höchste Diener des Staates, die Ihr in Euren verschiedenen Ämtern für das öffentliche Wohl wirkt, tretet an das Grab dieses Jünglings! Möge er, den wir wegen seiner Talente und seltenen Tugenden betrauern, Euch in dem Glauben befestigen, daß nicht hohe Würden noch äußere Ehrenzeichen, noch selbst die erlauchteste Geburt denen Achtung erwirbt, die an der Spitze der Völker stehen. Nur ihre Verdienste, ihr Eifer, ihre Arbeit, ihre treue Hingabe an das Vaterland können ihnen den Beifall des Volkes, der Weisen und der Nachwelt erwerben.

Da ich Euch alle an das Grab geführt habe, wie könnte ich allein nicht heran, treten? Mein Prinz! Du wußtest, wie teuer Du mir warst, wie wert ich Dich hielt! Kann die Stimme der Lebenden zu den Toten dringen, so leihe Dein Ohr einer Stimme, die Dir nicht fremd war, und erlaube, daß ich Dir dies vergängliche Denk, mal errichte, das einzige, ach, das ich Dir setzen kann! Versage es einem an Dir hängenden Herzen nicht, von Deinem Schiffbruch so viel Trümmer zu retten, als es vermag, um sie im Tempel der Unsterblichkeit niederzulegen. Ach! Solltest Du mich lehren, wie sehr der Mensch mit den wenigen ihm beschiedenen Tagen Haus<210>halten muß? Sollte ich von Dir lernen, dem herannahenden Tode zu trotzen, ich, den Alter und Hinfälligkeit jeden Tag mahnen, daß er dicht am Ziel seines lebens sieht? Nie wird Dein herrlicher Charakter aus meinem Gedächtnis entschwinden. Ewig wird mir das Bild Deiner Tugenden gegenwärtig sein. Ewig wirst Du in meinem Herzen leben. Dein Name wird sich in alle meine Gespräche mischen, und Dein Andenken wird erst mit dem letzten Atemzuge in mir erlöschen. Schon sehe ich das Ende meiner Laufbahn und den Augenblick, teurer Prinz, wo das höchste Wesen unser beider Asche auf immer vereinen wird.

Der Tod, meine Herren, ist uns allen beschieden. Wohl denen, die mit dem tröstlichen Bewußtsein sterben, daß sie die Tränen der Überlebenden verdienen!

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Gedächtnisrede auf Jordan (1746)211-1

Charles Etienne Jordan wurde am 27. August 1700 in Berlin geboren, als Sohn einer guten Bürgerfamilie aus dem Dauphiné. Sein Vater hatte die Heimat aus religiösen Gründen verlassen. Er bewahrte sich jenen glühenden Eifer, der, lediglich bemüht, den Himmel zufrieden zu stellen, die Dinge dieser Welt nicht immer gerecht und unparteiisch beurteUt. Er hatte seine drei ältesten Söhne zu Kaufleuten bestimmt und widmete den jüngsten der Kirche, ohne seine Neigungen und Talente zu berücksichtigen.

Der junge Jordan besaß eine Leidenschaft für Studium und Wissenschaft. Begierig verschlang er alle Bücher, die ihm in die Hände fielen. Darin folgte er jenem unwiderstehlichen Drang, dem Merkmal aller großen Talente, das die Natur jedem in verschiedener Weise aufprägt. Sein Vater ließ sich dadurch täuschen und verwechselte einen Gelehrten mit einem Pfarrer oder Theologen. Er schickte seinen Sohn nach Magdeburg, wo er unter Leitung seines Onkels, der dort Pfarrer war, seine Studien begann. Im Jahre 1719 ging er nach Genf, wo er bei den tüchtigsten Lehrern der Philosophie, Beredsamkeit und Theologie weiterstudierte. Nachdem er die Geistesschätze Genfs, wenn ich so sagen darf, in sich aufgenommen hatte, eilte er nach Lausanne, um dort aus neuen Quellen neue Kenntnisse zu schöpfen.

Im Jahre 1721 nach Berlin zurückgekehrt, machte er die Bekanntschaft von La Croze211-2, der ihn aus Freundschaft in den Sprachen und Wissenschaften unter, richtete. Aus Gehorsam gegen den Willen des Vaters setzte er seine theologischen Studien fort, und nachdem er alle Vorstufen bis zum Pfarrer durchlaufen hatte, wurde er 1725 mit dieser Würde bekleidet. Er erhielt die kleine Pfarre in Potzlow, einem märkischen Dorfs.

Bei seiner Jugend, der sprudelnden Lebhaftigkeit seines Geistes und seiner Vor, liebe für ein Wissensgebiet, das von der Theologie weit ablag, fühlte Jordan die ganze Schwere des Opfers, das er seinem Vater gebracht hatte. Zum Troste versetzte man ihn 1727 aus seinem Dorfe nach Prenzlau. Aber auch dort war der Wirtungskreis für Jordan zu eng. Ein edler Renner war vor einen Pflug gespannt. Bei seinem Fleiß und seinem guten Gedächtnis war er mit seiner Bibliothek bald zu Ende.

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Ein Mann in seinen Jahren konnte und durfte sich auf den Verkehr mit Toten nicht beschränken; er mußte auch die Gesellschaft der Lebenden genießen. Darum ging er die Ehe mit einem Mädchen ein, das die seltenen Gaben der Schönheit, Tugend und Klugheit vereinigte: Susanne Perreault, die ihm in den fünf Jahren ihrer Ehe zwei Töchter schenkte.

Derselbe Geist, der den Menschen die Neigung zur Wissenschaft einstößt, treibt sie auch zu treuer Pflichterfüllung. Je sicherer das Urteil, je klarer die Begriffe, je folgerichtiger das Denken, desto mehr neigt der Mensch zur makellosen Erfüllung seiner Berufspflichten, welches Amt ihm auch anvertraut sei. So handelte auch Jordan. Gab es Zwistigkeiten in der Herde, deren Seelenhirt er war, er brachte ihr Worte des Friedens und arbeitete mit unermüdlicher Tatlusi an der Versöhnung der Geister. Er tröstete die Betrübten. Er ließ sein Studium, sein Weib und alles, was ihm teuer war, im Stich, um denen die Ruhe und den Seelenfrieden wiederzugeben, die sie durch schweren Kummer und geringe Selbstbeherrschung verloren hatten. Kranke und Sterbende, mochten sie auch dem niedrigsten Stande, dem verachtetsten Menschenschlag angehören, fanden bei Jordan mitfühlenden, liebevollen Beistand in ihren letzten Stunden. Ohne ihn wären sie in ihrem Leiden ohne Hilfe gewesen und ohne Tröstung gestorben.

Durch seinen stets dienstfertigen Charakter, seine sich nie verleugnende Herzens, güte, seinen unerschöpflichen Schah an Menschenliebe, kurz durch alle seine guten Eigenschaften erwarb sich Jordan die Liebe und Achtung aller Franzosen, die in, folge der Widerrufung des Edikts von Nantes (1685) nach Prenzlau gekommen waren. Nahm er aber an ihrem Unglück und ihren Trübsalen Anteil, so waren sie ebenso mitfühlend beim Tode seiner Frau, die er im März 1732 verlor. Bei der Lebhaftigkeit seines Temperaments und der Macht der Leidenschaften über die Jugend vermochte Jordan diesen Verlust nicht mit stoischer Ruhe zu ertragen: ein wahres Bild der menschlichen Ohnmacht, die uns zwar mit Vernunftgründen über die Schwäche der andren triumphieren läßt, uns aber die Waffen entwindet, wenn das Unglück uns selbst trifft! Schmerz und Kummer nagten an ihm. Seine Gesundheit litt darunter derart, daß er mehrfach Blut hustete und fast seiner Gattin ins Grab nachgefolgt wäre. Seine Krankheit artete in Schwermut aus. Unter diesem Vorwand legte er die geistliche Würde nieder, um in Berlin die Freuden des Studiums und der Ruhe zu genießen.

Bei derartigem Herzenskummer ist die Betrübnis um so hartnäckiger, als man sie durch ein edles Motiv gerechtfertigt glaubt. Alles, was an den erlittenen Verlust gemahnt, reißt die Wunde von neuem auf, und Beständigkeit und Treue bohren den Dolch der Schwermut hinein. Ablenkung und Zeit allein vermögen sie zu heilen.

Solche Gründe, verbunden mit dem Drängen seiner Verwandten, bestimmten Jordan zu einer Reise nach Frankreich, England und Holland. Ihm lag nichts daran, das Schauspiel der wechselnden Weltbühne zu genießen. Bei seiner Neigung<213> zur Philosophie und zum Studium erhielt seine Reise wissenschaftliche Bedeutung. Er beschränkte sich nicht darauf, sich Paläste anzusehen, Bauwerke zu betrachten, die verschiedenen Gebräuche eines fremden Landes zu studieren, — die einzige Frucht, die die Jugend bei ihrem Leichtsinn und ihrer geringen Urteilskraft von ihren Reisen mitzubringen pflegt. Denn fürwahr: welchen Nutzen kann man aus dem Besuch jener örtlichkeiten ziehen, die nur das Werk des Luxus und oft der Verschwendung sind? Sein Ziel war lediglich, die großen Männer kennen zu lernen, die durch umfassenden Geist, hohe Gesinnung und Gelehrsamkeit ihrem Vaterland und Zeitalter zur Zierde gereichen. Ich nenne Ihnen nur die Namen's Gravesande, Muschenbroek213-1, Voltaire, Fontenelle, Dubos, Clarke,Pope,Moivre213-2 und übergehe viele andre der Kürze halber. Diese berühmten Männer wollte Jordan sehen; er war würdig, ihre Bekanntschaft zu machen. So reisten die Römer einst nach Griechenland, besonders nach Athen, um ihren Geist und Geschmack in jenem Lande zu bilden, das damals die Wiege der Künste und die Heimat der Talente war. Er befriedigte seine Wißbegier: das fiel ihm nicht schwer. Er wollte auch sein Herz befriedigen und verfaßte eine Reisebeschreibung213-3, in der er dem schönen Geist und den Talenten jener seltnen Männer Gerechtigkeit widerfahren ließ, denen er zeitlebens Hochachtung bewahrte. Wie schwer fällt es doch der Eigenliebe, dem Verdienst reine und völlig neidlose Be, wunderung zu zollen! Die guten Eigenschaften unsrer Nächsten, insbesondre derer, die mit uns in der gleichen Bahn laufen, scheinen die eignen zu verdunkeln. Ja, wie selten gehen Bescheidenheit und Unparteilichkeit mit viel Geist und Kenntnissen Hand ln Hand! Das war eine besondre Tugend bei Jordan, der er sein Leben lang treu geblieben ist und ohne die er nicht die große Zahl von Freunden hinterlassen hätte, die seinen Verlust ehrlich betrauerten.

Nach Berlin heimgekehrt, schloß er sich wieder ln sein Arbeitszimmer ein und widmete sich ganz dem Studium, voll des edlen Wetteifers, der strebsame Geister zu steter Vervollkommnung treibt. Er las alles und vergaß nichts von dem Gelesenen. Sein umfassendes Gedächtnis war sozusagen ein Repertorium aller Bücher, Les, arten und Ausgaben und der merkwürdigsten Anekdoten auf diesem Gebiete.

Bei seinem Geist, seinen Verdiensten und besonders bei seinem guten Charakter blieb Jordan nicht lange in der Stille seines Arbeitszimmers verborgen. Der da, malige Kronprinz und jetzige König berief ihn im September 1736 in seinen Dienste213-4. Seitdem verbrachte er sein Leben in Rheinsberg, wo er sich abwechselnd dem Studium und der Geselligkeit widmete und von allen geliebt und geachtet wurde. Mit gründ, lichen Kenntnissen verband er die Höflichkeit, die der Verkehr in der großen Welt<214> zeitigt. Er glättete die Runzeln der Wissenschaft und führte sie bei Hofe in reizvollem und galantem Gewande ein.

Nach dem Tode Friedrich Wilhelms I. setzte ihn der König in den Stand, seine Geistesgaben und Herzenstugenden dem Vaterlande nutzbar zu machen. Er erhielt den Titel eines Geheimen Rats und wandte seinen ganzen Scharfsinn zum Vorteil des Staates auf214-1. Ihm verdankt Berlin das neue Polizeireglement, durch das die jetzige gute Ordnung eingeführt worden ist. Alle Straßen wurden von dem herumlungernden Volke der Müßiggänger gesäubert, die durch ihre klägliche Erscheinung das Mitleid der Bürger mißbrauchten. Unter seiner Leitung erstand ein Arbeitshaus, in dem tausend Menschen, die sonst ihren Mitbürgern auf der Tasche lagen, sich durch ihrer Hände Fleiß ernähren und ihre Fähigkeiten zum allgemeinen Besten nutzen können. Die Hauptstadt wurde in Bezirke eingeteilt, deren jeder einen Vorsieher erhielt, der über die Ausführung der Polizeivorschriften wacht. Mit Umsicht und Menschenkenntnis wurden tüchtige, gelehrte Professoren an die Universitäten berufen. Alle diese neuen Einrichtungen und die Fürsorge für die Universitäten214-2<215> verdanken wir der Tätigkeit Jordans. Im Jahre 1744, bei Erneuerung der Königlichen Akademie der Wissenschaften und schönen Literatur, wurde er zu ihrem Vizepräsidenten gewählt.

Man sage ja nicht, die Pflege der Künste und Wissenschaften mache die Menschen ungeschickt zu Geschäften. Ein guter Kopf leistet auf allen Gebieten gleich Tüchtiges. Die Pflege der Wissenschaften würdigt den Menschen nicht nur nicht herab, sondern verleiht ihm in allen Ämtern neuen Glanz. Die großen Männer des Altertums bildeten sich unter der Obhut der Wissenschaften, wenn ich so sagen darf, ehe sie die Staatsämter bekleideten. Alles, was den Geist klärt, das Urteil festigt und die Kenntnisse erweitert, bildet sicherlich Menschen, die allen Ansprüchen gewachsen sind. Sie gleichen wohlgepfiegten Pflanzen, deren Blüten und Früchte von erlesenerer Schönheit und köstlicherem Geschmack sind als die wildwachsenden Bäume des Waldes, die sich selbst überlassen, aufs Geratewohl gedeihen und deren wunderlich verkrüppelte Äste nicht einmal schön aussehen.

Als der König nach Kaiser Karls VI. Tode an der Spitze seiner Heere in Schlesien einrückte, um das Erbe seiner Väter heimzufordern, das Österreichs Übermacht ihm unter Mißachtung seiner Ansprüche lange Zeit vorenthalten hatte, begleitete Jordan den Monarchen 1741 ins Feld und verband so die sanfte Pflege der Musen mit dem Waffenlärm und dem Getümmel eines Heeres, dessen Bewegungen und Operationen ununterbrochen währten.

Aber trotz dieser Feldzüge und seines häufigen Erscheinens bei Hofe fand Jordan noch Zeit zur Arbeit an verschiedenen Werken, die er uns hinterließ — eine lateinische Dissertation über Leben und Schriften des Giordano Bruno (1726), ein „Recueil de littérature, de philosophie et d'histoire“ (1730) und die „Histoire de la vie et des ouvrages de M. La Croze“ (1741), ungerechnet einige Manuskripte, die er aus Bescheidenheit nicht veröffentlichte. Er pflegte zu sagen, man müsse in die Finsternisse hineinleuchten, die die neidische Natur den Menschen offenbar zu verbergen wünscht, müsse die Welt durch neue Tatsachen belehren, die ihre Aufmerksamkeit verdienen, müsse die Trockenheit des Gegenstandes fruchtbar zu machen verstehen und ein entfleischtes Skelett mit den Zügen und Körperformen der Mediceischen Venus zu umkleiden wissen, wenn man seine Werke veröffentlichen und die Druckerpresse in Bewegung setzen wolle. Peinlich kritisch war er allein gegen seine eignen Werke. Ja, er schien zu bedauern, daß er seine Erstlingsarbeiten nicht unterdrückt hatte. Er bezwang seine Eigenliebe, verbesserte seine neuen Schriften immer wieder und glaubte, bei all seiner Arbeit und Beharrlichkeit der Öffentlich, keit nicht genug Beweise jener Hochachtung und Ehrerbietung geben zu können, die ein Autor ihr schuldet.

Den Vorzügen, die Jordan besaß, war leider nur eine kurze Frist beschieden. Die Wissenschaften, das Vaterland und sein Gebieter verloren ihn durch eine lange, schmerzhafte Krankheit, die ihn am 24. Mai 1745 im Alter von vierundvierzig Jahren<216> und etlichen Monaten dahinraffte. Mit unerschöpflicher Geduld ertrug er sein Leiden, das mit der Zeit immer drückender wurde, ein Leiden, dessen Last für die festesten Seelen oft unerträglich wird, ja selbst für die, deren Standhaftigkeit in den größten Gefahren unerschüttert bleibt.

Jordan war mit lebhaftem, durchdringendem Geiste begabt und zugleich bienenfleißig. Sein Gedächtnis war umfassend und bewahrte wie eine Vorratskammer eine Auslese des Besten, was die guten Schriftsteller aller Zeiten hervorgebracht haben. Sein Urteil war sicher, und seine glänzende Einbildungskraft wurde stets durch seine Vernunft gezügelt. Sein sprudelnder Geist machte nie Seitensprünge; seine Moral war ohne Trockenheit. Er war zurückhaltend in seinen Meinungen, offen in seinen Reden, gab der philosophischen Sekte der Akademie216-1 den Vorzug vor den andren, war wissensdurstig, bescheiden im Urteil, ein Freund und Verbreiter jedes Verdienstes, höflich und wohltätig, ein Mann, der die Wahrheit liebte und sie nie verhehlte, menschlich, hochherzig, dienstfertig, ein guter Bürger, treu gegen seine Freunde, seinen Herrn und sein Vaterland. Sein Tod wurde von allen Rechtschaffenen betrauert. Selbst der Neid verstummte vor ihm. Der König und alle, die ihn kannten, ehrten ihn durch ihre aufrichtige Trauer.

Das ist der lohn des wahren Verdienstes. Es wird bei Lebzeiten geachtet und dient nach dem Tode zum Vorbild.

<217>

Gedächtnisrede auf La Mettrie
Gelesen in der Akademie am 19. Januar 1752

Julien Offray de La Mettrie wurde am 25. Dezember 1709 in St. Malo geboren, als Sohn des Julien Offray de La Mettrie und der Marie Gaudron. Sein Vater war Großkaufmann und konnte seinem Sohne eine gute Erziehung zu, teil werden lassen. Dieser erhielt seine erste Schulbildung im College von Coutances, kam dann nach Paris ins College Duplessis und machte die Klasse für Rhetorik in Caen durch, wo er dank seiner großen Begabung und Einbildungskraft alle Preise gewann. Er war ein geborener Redner, ein leidenschaftlicher Verehrer der Dicht, tunst und der schönen Wissenschaften. Aber sein Vater meinte, ein Priester brächte es weiter als ein Poet, und bestimmte ihn zur geistlichen Laufbahn. Im folgenden Jahre sandte er ihn wieder nach Paris ins College Duplessis, wo er seine Logik unter Herrn Cordler absolvierte, der mehr Iansenist als Logiker war217-1.

Es ist ein Zeichen glühender Einbildungskraft, die Dinge der Vorstellung kraft, voll zu erfassen, wie es ein Zeichen der Jugend ist, die ersten ihr eingeprägten Meinungen als Evangelium zu betrachten. Jeder andre Schüler hätte sich die Ansichten seines Lehrers zu eigen gemacht. Das aber genügte dem jungen La Mettrie nicht. Er wurde Jansenist und schrieb ein Werk, das bei jener Partei begeisterte Aufnahme fand.

Im Jahre 1725 studierte er Physik im College Harcourt, wo er große Fortschritte machte. Als er nach St. Malo zurückgekehrt war, riet ihm der dortige Arzt Hunauld217-2, Mediziner zu werden. Man überredete den Vater, seine Zustimmung zu geben, indem man ihm versicherte, die Arzneien eines mäßigen Arztes brächten mehr ein als die Absolutionen eines guten Priesters. Der junge La Mettrie studierte zunächst Anatomie, sezierte zwei Winter lang und erwarb sich 1728 in Rheims den Doktorhut und das Diplom als Arzt.

Im Jahre 1733 ging er nach Leiden, um unter dem berühmten Boerhave217-3 zu studieren. Der Lehrer war des Schülers würdig; bald machte sich auch der Schüler<218> des Lehrers würdig. La Mettrie wandte seinen ganzen Scharfsinn auf die Erkenntnis und Heilung der menschlichen Leiden und wurde ein großer Arzt, seit er es sich vornahm. In seinen Mußestunden übersetzte er 1734 Boerhaves Abhandlung über das Feuer, dessen Aphrodisiacus und schrieb selbst eine Abhandlung über die venerischen Krankheiten218-1. Die alten Ärzte in Frankreich erhoben sich gegen einen Neuling, der so dreist war, ebensoviel zu wissen wie sie. Einer der berühmtesten Pariser Ärzte erwies ihm die Ehre, sein Werk zu kritisieren, ein sicheres Zeichen, daß es gut war. La Mettrie schrieb eine Entgegnung, und um seinen Gegner erst recht zu entwaffnen, verfaßte er 1736 eine Abhandlung über den Schwindel218-2 die alle unparteiischen Ärzte schätzten.

Bei der menschlichen Unvollkommenheit ist leider niedrige Scheelsucht zum Attribut der Gelehrten geworden. Die Leute von begründetem Rufe sind gereizt über die Fortschritte aufstrebender Geister. Dieser Rost setzt sich an ihre Talente an, ohne sie zu zerstören, aber er schadet ihnen bisweilen. La Mettrie, der in der Wissenschaftlichen Laufbahn mit Riesenschritten vordrang, litt unter dieser Scheelsucht, und seine Lebhaftigkeit machte ihn doppelt empfindlich dagegen.

Nach St. Malo zurückgekehrt, übersetzte er Boerhaves „Aphorismen“, die „Matière médicale“, die „Procedes chimiques“, die „Théorie chimique“ und die „Institutionen“ desselben Autors218-3. Fast zugleich veröffentlichte er einen Auszug aus Sydenham218-4. Durch frühe Erfahrung hatte der junge Arzt gelernt, daß Übersetzen bequemer ist als eigne Produktion. Aber das Kennzeichen der Genies ist die Unbelehrbarkeit. Im Gefühl seiner eignen Kraft, wenn ich so sagen darf, und erfüllt von den Ergebnissen der Naturforschung, die er mit ungemeinem Geschick betrieb, wollte er seine nützlichen Entdeckungen der Welt mitteilen. Er veröffentlichte eine Abhandlung „Über die Pocken“, seine „Médecine pratique“218-5 und sechs Bände Kommentare zur „Physiologie“ von Boerhave218-6, die sämtlich in Paris erschienen, obwohl sie in St. Malo geschrieben waren. Mit der Theorie der Heilkunst verband er eine stets glückliche Praxis, was für einen Arzt kein kleines Lob ist.

Im Jahre 1742, anläßlich des Todes seines alten Lehrers Hunauld, kam La Mettrie nach Paris. Die Herren Morand und Sidobre verschafften ihm eine Stellung beim Herzog von Grammont, und kurz darauf besorgte ihm dieser ein Patent als Militärarzt bei der Garde. Er begleitete den Herzog in den Krieg, machte die Schlachten von Dettingen (1743) und Fontenoy (1745) und die Belagerung von Freiburg (1744) mit. Bei Fontenoy fiel sein Beschützer durch einen Kanonenschuß.

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La Mettrie empfand diesen Verlust um so schmerzlicher, als ihn zugleich sein Glück verließ. Die Ursache war folgende. Während der Belagerung von Freiburg befiel ihn ein hitziges Fieber. Krankheit ist für einen Philosophen stets eine Schule der Physik. Er glaubte wahrzunehmen, daß die geistigen Fähigkeiten lediglich von der Beschaffenheit unsrer Körpermaschine abhängen und daß Unordnungen in deren Getriebe beträchtlichen Einfiuß auf den Teil unsres Selbst haben, den die Metaphysiker „Seele“ nennen. Diese Ideen erfüllten ihn während seiner Genesung. Er leuchtete mit der Fackel der Erfahrung kühn in die Finsternisse der Metaphysik hinein, suchte mit Hilfe der Anatomie das feine Gestecht des Verstandes zu entwirren und fand dort, wo andre ein höheres, unsioffliches Etwas vorausgesetzt hatten, bloße Mechanik. Seine philosophischen Mutmaßungen ließ er unter dem Titel „Zur Naturgeschichte der Seele“219-1 drucken. Der Feldgeistliche des Regiments schlug Lärm gegen ihn, und sofort erhoben alle Frömmler großes Geschrei.

Die große Masse der Priester gleicht Don Quichotte, der in den alltäglichsten Er, eignissen wunderbare Abenteuer sah, oder dem Chevalier Folard219-2, der so von seinem System erfüllt war, daß er in allen Büchern, die er las, Angriffskolonnen fand. Die meisten Priester prüfen alle literarischen Erzeugnisse wie theologische Abhandlungen. Da sie an weiter nichts denken, wittern sie überall Ketzerei. Daher so viele falsche UrteUe, so viele meist unangebrachte Angriffe gegen die Schriftsteller. Ein phyfi, lalisches Buch muß mit dem Geist eines Physikers gelesen werden. Vor dem Richter, stuhl der Natur und der Wahrheit muß es freigesprochen oder verurteilt werden. Ein gleiches gilt von astronomischen Werten. Beweist ein armer Arzt, daß ein starker Stock, hieb auf den Kopf den Geist verwirrt oder daß der Verstand sich bei gewissen Wärme, graben trübt, so muß man ihm das Gegenteil beweisen oder stillschweigen. Beweist ein geschickter Astronom trotz Iosua, daß die Erde und alle Himmelskörper um die Sonne kreisen, so muß man ihm entweder im Rechnen überlegen sein oder dulden, daß die Erde sich dreht.219-3

Aber die Theologen, die durch ihre beständige Besorgnis bei schwachen Seelen den Glauben erwecken könnten, daß ihre Sache schlecht sieht, setzen sich über dergleichen hinweg. Auch hier wollten sie in einer physikalischen Abhandlung durchaus den Samen der Ketzerei finden. Der Verfasser wurde grausam verfolgt, und die Pfaffen blieben da, bei, daß ein der Ketzerei beschuldigter Arzt die französische Garde nicht kurieren dürfe.

Zum Haß der Frömmler gesellte sich die Scheelsucht seiner Nebenbuhler. Sie brach mit neuer Heftigkeit aus, als La Mettrie ein Wert „Die Politik der Ärzte“219-4 erscheinen ließ. Ein ränkesüchtiger, von Ehrgeiz verzehrter Mann strebte nach der Stellung des ersten Leibarztes des Königs von Frankreich. Um sie zu erlangen, hielt er es für hinreichend, die unter seinen Kollegen lächerlich zu machen, die als Mitbewerber um<220> diese Stellung etwa in Frage kamen. Er verfaßte ein Pamphlet gegen sie und mißbrauchte zu dem Zwecke La Mettries gefällige Freundschaft. Er bestimmte ihn dazu, ihm mit dem mühelosen Schaffen seiner Feder und der Fruchtbarkeit seiner Phantasie zu Hilfe zu kommen. Das genügte zum völligen Sturz eines wenig bekannten Mannes, der den Augenschein gegen sich und keinen Schutz als sein eignes Verdienst hatte.

Zum lohne für seine zu große Aufrichtigkeit als Philosoph und seine zu weitgehende Gefälligkeit als Freund mußte La Mettrie sein Vaterland verlassen. Der Herzog von Duras und Vicomte du Chayla rieten ihm, sich dem Haß der Priester und der Rachsucht der Ärzte zu entziehen. Er verließ also 1746 das Armeelazarett, wo Herr von Sechelles220-1 ihn angestellt hatte, und ging nach Leiden, wo er ruhig als Philosoph lebte. Dort schrieb er seine „Penelope“220-2 eine Polemik gegen die Ärzte, worin er nach Demokrits Vorbild die Eitelkeit seines Berufes ins Lächerliche zog. Das merkwürdigste dabei war, daß die Ärzte, deren Quacksalberei hier wahrheitsgetreu geschildert wird, beim lesen des Buches selbst lachen mußten; ein Beweis, daß es mehr Frohsinn als Bosheit enthielt.

Nachdem La Mettrie seine Hospitäler und Kranken aus dem Auge verloren, widmete er sich ganz der spekulativen Philosophie. Er schrieb seinen „Mensch als Ma, schine“220-3, oder vielmehr: er brachte einige starke Gedanken über den Materialismus zu Papier, jedenfalls, um sie später durchzuarbeiten. Das Werk mußte denen mißfallen, die von Amts wegen erklärte Feinde des Fortschritts der menschlichen Vernunft sind. Es brachte alle Pfaffen von leiden gegen den Verfasser auf. Calvinisten, Katholiken und lutheraner vergaßen plötzlich ihre Streitereien über die Transsubstantiation, die Willensfreiheit, die Totenmesse und die Unfehlbarkeit des Papstes und taten sich alle zur Verfolgung eines Philosophen zusammen, der zum Unglück auch noch ein Franzose war, — zu einer Zeit, da die französische Monarchie einen glücklichen Krieg gegen die Generalstaaten führte.

Als Philosoph und als Verfolgter fand la Mettrie seine Zuflucht in Preußen und erhielt eine Pension vom König. Im Februar 1748 kam er nach Berlin, wo er Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften wurde. Die Medizin machte ihn der Metaphysik streitig, und er schrieb eine Abhandlung über die Ruhr, sowie eine andre über das Asthma220-4, die besten Arbeiten, die es über diese grausamen Krankheiten gibt. Auch entwarf er mehrere Werke über abstrakte philosophische Gegenstände, die er einer näheren Prüfung unterziehen wollte. Aber durch eine Reihe von Schicksalsschlägen, die er erlitt, wurden ihm diese Schriften gestohlen, und als sie erschienen220-5, verlangte er ihre Unterdrückung.

<221>

La Mettrie starb im Hause Lord Tyrconnells, des französischen Gesandten, den er vom Tode gerettet hatte. Geschickt griff die Krankheit, als wüßte sie, mit wem sie es zu tun hatte, zuerst sein Gehirn an, um ihn desto sicherer niederzuschlagen. Ein hitziges Fieber mit heftigem Delirium befiel ihn. Der Kranke mußte das Wissen seiner Kollegen in Anspruch nehmen, fand bei ihnen aber nicht die Hilfe, die er zum eignen Heil wie zum Nutzen des Publikums in seinem eignen Wissen so oft gefunden hatte.

Er starb am II. November 1751 im Alter von 41 Jahren. Er war verheiratet mit Luise Charlotte Dreauno, der er nur ein Töchterchen im Alter von fünf Jahren und etlichen Monaten hinterließ.

Die Natur hatte La Mettrie einen Schatz unerschöpflicher natürlicher Heiterkeit verliehen. Sein Geist war lebhaft, seine Einbildungskraft so fruchtbar, daß sie aus dem dürren Boden der Medizin Blumen hervorzauberte. Er war zum Redner und PHUosophen geboren, aber eine noch schätzbarere Gabe der Natur war seine lautere Seele und sein dienstfertiges Herz. Alle, denen die frommen Beschimpfungen der Theologen keinen Eindruck machen, betrauern in La Mettrie einen Ehrenmann und kenntnisreichen Arzt.

<222>

Gedächtnisrede auf Knobelsdorff
Gelesen in der Akademie am 24. Januar 1754

Hans Georg Wenceslaus Freiherr von Knobelsdorss wurde am 17. Februar 1699 geboren. Sein Vater besaß die Ortschaft Cossar im Herzogtum Krossen. Seine Mutter war eine Baronin von Haugwitz.

Mit fünfzehn Jahren ergriff er den Waffenberuf. Er trat ins Regiment lottum ein und machte bei ihm den Feldzug in Pommern und die Belagerung von Gtralsund (1715) mit. Hier zeichnete er sich aus, soweit der enge Wirkungskreis des Eub, alternoffiziers es gestattete. Die Strapazen des rauhen Feldzuges und der bis an die Schwelle des Winters fortgesetzten Belagerung zerrütteten seine Gesundheit. Er bekam einen Bluthusten, bezwang die frühe Krankheit aber und diente trotz seiner zarten Gesundheit bis 1730 weiter. Dann quittierte er den Dienst als Kapitän.

Es ist ein Kennzeichen des Genies, daß es seinen natürlichen Neigungen unbezwinglich folgt und klar erkennt, wozu es geschaffen ist. Daher kommt es, daß so viele tüchtige Künstler sich selbst gebildet und sich neue Wege auf dem Gebiete der Kunst erschlossen haben. Dieser mächtige Drang zeigt sich besonders bei geborenen Dichtern und Malern. Ich brauche wohl nicht erst auf Ovid zu verweisen, der trotz des väterlichen Verbots Verse machte, oder auf Tasso, für den ein gleiches zutraf, oder auf Correggio, der sich beim Anblick von Raffaels Gemälden zum Maler berufen fühlte. Auch Knobelsdorss bildet ein Beispiel dafür. Er war zum Maler und zum großen Architekten geboren. Die Natur hatte ihm die Begabung geschenkt; es blieb der Kunst nur noch übrig, die letzte Hand anzulegen.

Schon während seiner Dienstzeit zeichnete er in seinen Mußestunden nach Gipsmodellen und malte bereits Landschaften im StU Claude Lorrains, ohne den Meister zu kennen, dem er so nahe kam. Nachdem er den Dienst quittiert hatte, überließ er sich völlig seinen Neigungen, befreundete sich mit dem berühmten Pesne222-1 und verschmähte es nicht, sich von ihm ausbilden zu lassen. Unter diesem geschickten Lehrer studierte er namentlich jenes besiechende Kolorit, das mit sanftem Trug der Natur ihre Rechte<223> nimmt, indem es die tote Leinwand lebendig macht. Er vernachlässigte kein Genre von der Historienmalerei bis zur Blumenmalerei, vom Hl bis zum Pastell. Die Malerei führte ihn zur Architektur. Hatte er die Bauwerke anfangs nur als Staffage für seine Gemälde benutzt, so stellte sich doch bald heraus, daß das, was er nur für eine Nebensache gehalten hatte, sein eigentliches Talent ausmachte.

Trotz seines zurückgezogenen Lebens blieb er dem König, dem damaligen Kronprinzen, nicht verborgen. Der berief ihn in seinen Dienst. Knobelsdorffs erster Versuch war die Ausschmückung des Schlosses von Rheinsberg, das er nebst den Gartenanlagen in seinen jetzigen Zustand brachte. Er verschönerte die Architektur

durch seinen malerischen Geschmack, der den gewöhnlichen Ornamenten eigene Anmut verlieh. Er liebte die edle Schlichtheit der Griechen, und sein Feingefühl verwarf alle unangebrachten Verzierungen.

Begierig, sich Kenntnisse zu erwerben, wünschte Knobelsdorff Italien kennen zu lernen, um dort, selbst in den Ruinen, die Regeln seiner Kunst zu studieren. Im Jahre 1736 trat er seine Reise an. Er bewunderte das Kolorit der Venezianer, die Zeichnung der römischen Schule und sah alle Gemälde der großen Meister. Von allen zeitgenössischen Malern erschien ihm allein Solimena223-1 denen ebenbürtig, die unter Leo X. ihr Vaterland ausgezeichnet hatten. In der Architektur der Alten fand er mehr Majestät als in der der Neueren. Er bewunderte die prunkvolle Peterslirche in Rom, ohne gegen ihre Fehler blind zu sein. Er erkannte wohl, daß die ver<224>schiedenen Baumeister, die daran gearbeitet, sehr zu Unrecht Michelangelos ursprünglichen Plan nicht befolgt haben. Dann kehrte Knobelsdorff nach Berlin zurück (1737), durch die Kunstschätze Italiens bereichert, in seinen architektonischen Grundsätzen befestigt und durch die Erfahrung in seiner Vorliebe für Pesnes Kolorit bestärkt. Nach seiner Rückkehr malte er den verstorbenen König, den Kronprinzen und viele andre Porträts, die allein seinen Ruf begründet hätten, wäre er nur Maler gewesen.

Im Jahre 1740, nach dem Tode Friedrich Wilhelms I., übertrug ihm der König die Oberaufsicht über die Bauwerke und Gärten. Sofort befaßte sich Knobelsdorff mit der Ausschmückung des Berliner Tiergartens. Er machte ihn zu einem köstlichen Stückchen Erde durch die Mannigfaltigkeit der Alleen, der Hecken und Rondele und durch die reizvolle Mischung des verschiedensten Laubwerks. Er verschönerte den Park durch Statuen und die Anlage von Wasserläufen, sodaß die Bewohner der Hauptstadt hier eine bequeme und schmucke Promenade finden, wo die Reize der Kunst nur unter den ländlichen Reizen der Natur auftreten.

Aber nicht zufrieden damit, in Italien gesehen zu haben, was die Künste einst waren, wollte Knobelsdorff sie auch in einem Lande studieren, wo sie gegenwärtig in Blüte stehen. Er erhielt also Urlaub zu einer Reise nach Frankreich (Herbst 1740) und widmete sich wahrend seines dortigen Aufenthalts ganz seinem Gegenstand. Sein Sinn war zu sehr auf die schönen Künste gerichtet, als daß er die Zerstreuungen der großen Welt gesucht hätte, und er war zu wissensdursiig, um sich in andrer Ge, sellschaft als der von Künstlern zu bewegen. So sah er nichts als Ateliers, Gemälde, galerien, Kirchen und Baudenkmäler. Wir schweifen von unsrem Gegenstand nicht ab, wenn wir hier sein Urteil über die französische Malerschule berichten. Seinen vollen Beifall fand die poetische Komposition von Le Bruns Gemälden224-1, die kühne Zeich, nung Poussins224-2, das Kolorit Blanchards und der Boullongne224-3, die Ähnlichkeit und Vollendung der Draperien auf den Bildern von Rigaud, das Helldunkel von Raour, die schlichte Naturwahrheit von Chardin224-4. Großen Gefallen fand er auch an den Bildern von Charles van Loo und den Kunstlehren von Detroy224-5. Immerhin fand er bei den Franzosen das Talent für die Skulptur stärker ausgeprägt als das für die Malerei; ist sie doch von Bouchardon, Pigalle und den Adam224-6 zur höchsten Vollen, dung gebracht worden. Von allen Bauwerken Frankreichs schienen ihm nur zwei völlig klassisch: Perraults224-7 Fassade des Louvre und die Gartenfront von Versailles. Für die Außenarchitektur gab er den Italienern den Vorzug, aber den Franzosen für die<225> Innendekoration, die Anlage und Wohnlichkeit der Räume. Nach Verlassen Frank, reichs bereiste er Flandern, wo ihm, wie man sich denken kann, die Werke van Dycks, Rubens' und Wouwermans nicht entgingen.

Nach seiner Heimkehr übertrug ihm der König den Bau des Opernhauses, eines der schönsten und stilgerechtesten Gebäude, die die Hauptstadt zieren. Die Fassade ist der des Pantheon frei nachgebildet. Das Innere ist durch das glückliche Verhältnis der Maße bei aller Größe von guter Akustik. Danach übernahm Knobelsdorff den Bau des neuen Flügels des Charlottenburger Schlosses, in dem die Kunstfreunde die Schönheit des Vestibüls und des Treppenhauses, die Eleganz des großen Saales und der Galerie bewundern. Ebenso kamen seine Talente bei der Anlage der neuen Kolonnade des Potsdamer Stadtschlosses, der Marmortreppe und des Saales zur Geltung, der die Apotheose des Großen Kurfürsten225-1 enthält. Auch der Kuppelsaal in Sanssouci, eine freie Nachbildung vom Innern des Pantheon, entstand nach seinen Entwürfen, ebenso die Grotte und die Marmorkolonnade im Park dieses Schlosses225-2. Außer den genannten Bauwerken wurde noch eine Unzahl von Privathäusern in Berlin und Potsdam, sowie das Schloß in Dessau nach seinen Zeichnungen ausgeführt.

Die Königliche Akademie der Wissenschaften ließ sich ein so vielseitiges Talent bei ihrer Erneuerung nicht entgehen und ernannte Knobelsdorff zu ihrem Ehrenmitgliede. Man wundre sich nicht, einen Maler und großen Architekten unter Astronomen, Mathematikern, Physikern und Dichtern sitzen zu sehen. Künste und Wissenschaften sind Zwillingsgeschwister. Ihre gemeinsame Mutter ist das Genie. Natürliche und unzerreißbare Bande verknüpfen sie miteinander. Die Malerei erfordert genaue Kenntnis der Mythologie und Geschichte; sie führt zum Studium der Anatomie, denn sie bedarf der Kenntnis aller Triebfedern der menschlichen Bewegungen, damit die Muskulatur bei der Stellung der Figuren der Wirklichkeit entspricht und die Glieder nur richtige Schwellungen und Vertiefungen aufweisen. Die Landschaftsmalerei erfordert Kenntnis der Optik und Perspektive, und bei der Darstellung der Architektur auch das Studium der Geometrie, der bewegenden Kräfte und der Mechanik. Vor allem hängt die Malerei mit der Dichtkunst zusammen. Das gleiche Feuer der Einbildungskraft, das den Dichter beseelt, muß auch den Maler durchglühen. Das alles gehört zum Schassen eines guten Malers. Vielleicht liegt einer der großen Vorzüge unsres aufgeklärten Jahrhunderts darin, daß es die Wissenschaften unentbehrlich gemacht und sie dadurch verbreitet hat.

Alle diese Kenntnisse machten Knobelsdorff zum würdigen Mitgliede der Akademie. Sie würden ihm noch mehr zur Ehre gereicht haben, wäre er uns nicht in einem Alter entrissen worden, wo seine Talente in voller Reife standen. Er litt unter Gichtan<226>fällen. Mochte er sein Leiden nun allzu gleichgültig verschleppt haben oder seine Gesundheit von selbst untergraben sein, jedenfalls klagte er über Blutstauungen, und seine Krankheit artete schließlich in Wassersucht aus. Die Ärzte schickten ihn nach Spaa, in der Hoffnung, er würde durch die Kur genesen, aber er fühlte, daß die dortigen Bäder ihm nichts halfen. Mit Mühe kehrte er nach Berlin zurück und starb dort am 16. September 1753 im Alter von vierundfünfzig Jahren und sieben Monaten. Knobelsdorff erwarb sich durch seinen lauteren und rechtschaffenen Charakter allgemeine Hochachtung. Er liebte die Wahrheit und glaubte, sie verletze niemanden. Gefälligkeit betrachtete er als Zwang und floh alles, was seine Freiheit zu beeinträchtigen schien. Man mußte ihn genau kennen, um sein Verdienst voll zu würdigen. Er förderte die Talente, liebte die Künstler und ließ sich lieber suchen, als daß er sich vordrängte. Vor allem muß zu seinem Lobe gesagt werden: er verwechselte nie Wetteifer mit Neid, Gefühle, die sehr verschieden sind, und die zu unterscheiden man den Künstlern und Gelehrten zu ihrer eignen Ehre und Ruhe und zum Wohle der Gesellschaft nie genug anraten kann.

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Brief eines Akademikers in Berlin an einen Akademiker in Paris
(November 1752)227-1

Seit es Gelehrte gibt, gibt es auch gelehrte Streitigkeiten; denn jedermann hat das Recht auf seine eigne Meinung, und jeder glaubt gute Gründe zum Verfechten dieser Meinungen zu haben. Erniedrigend für den menschlichen Geist aber ist neidische Gehässigkeit, sind die Pamphlete und Schmähungen, die rohen Verleumdungen, mit denen kleine Geister das Andenken der Großen zu besudeln suchen.

<228>

Glauben Sie nicht, ich persönlich hätte über dergleichen zu klagen! Mittelmäßige Talente sind gleichsam ein Wall gegen die Angriffe des Neides. Es handelt sich hier um Maupertuis, unsren berühmten Präsidenten. Seine geistige Überlegenheit, sein tiefes Wissen hat die Eigenliebe des Philosophieprofessors König aufgestachelt. Da dieser Mann sich nicht zu seiner Höhe aufzuschwingen vermochte, glaubte er schon viel dadurch erreicht zu haben, daß er ihn herabsetzte. Er stritt unserm Präsidenten die Priorität der Entdeckung des Prinzips der kleinsten Aktion ab und behauptete, Leibniz sei der Erfinder. Maupertuis forderte Beweise. Er wollte wissen, in welchem Werke von Leibniz Spuren dieser Entdeckung zu finden seien. Um sich aus der Verlegenheit zu helfen, veröffentlichte König Bruchstücke aus angeblichen Briefen von Leibniz und behauptete, nicht mehr zu wissen, wo er die Originale gesehen hätte. Dieser literarische Prozeß wurde in einer Sitzung unsrer Akademie verhandelt, und König wurde einstimmig verurteilt.

Der Professor war wütend, daß er widerlegt war, und noch mehr, daß er einem von ganz Europa Bewunderten nicht hatte schaden können. Er begnügte sich nicht mit groben Schmähungen gegen ihn, — dem letzten Hilfsmittel aller, die keine wirklichen Gründe vorzubringen haben — sondern tat sich mit ziemlich verächtlichen Skribenten zusammen, die seine Partei ergriffen und unter seiner Fahne fochten. Einer dieser Elenden ließ unter dem Deckmantel eines Berliner Akademikers ein schändliches Machwerk erscheinen. Darin behandelte er Maupertuis in einer Weise, wie ein urteilsloser Mensch nur von einem Unbekannten reden kann, oder wie die frechsten Betrüger die Tugend zu verleumden pflegen.

Maupertuis ist durch seinen Charakter, seine Verdienste und seinen Ruf zu erhaben über dergleichen Verunglimpfungen, um sich beleidigt zu fühlen. Er denkt zu sehr als Philosoph, als daß bloße Schmähungen seine Seelenruhe stören könnten. Aber wir andren Akademiker müssen uns gegen einen Rasenden erheben, der zwar Maupertuis nicht verletzen, wohl aber das Ansehen unsrer Körperschaft schädigen kann.

Es soll allen Völkern klar vor Augen stehen: unter uns ist kein so entarteter Sohn, daß er den Arm gegen seinen Vater zu erheben wagt, lein Akademiker, der sich zum feilen Söldling der Wut eines Neidischen herabwürdigt. Nein! Wir alle zollen unsrem Präsidenten den Tribut der Bewunderung, der seinem Wissen und seinem Charakter gebührt. Ja, wir wagen ihn zu den unsren zu rechnen und machen ihn Frankreich streitig. Zu seinen Lebzeiten genießt er hier den Ruf, den Homer erst lange nach seinem Tode erwarb. Berlin und St. Malo streiten sich um den Ruhm, seine Vaterstadt zu sein. Wir betrachten sein Verdienst als das unsre. Sein Wissen verleiht unsrer Akademie den höchsten Glanz. Aller Nutzen seiner Werke fällt uns zu. Sein Ansehen ist das der ganzen Körperschaft. Als Charakter ist er das Muster eines Ehrenmannes und eines wahren Philosophen. So denkt die gesamte Akademie!

Wer so redet der Betrug! Der angebliche ungenannte Akademiker behauptet, Maupertuis müßte durch seine schlimmen Praktiken alle unsre Akademiker zum Aus<229>tritt bestimmen, würden sie nicht durch den Schutz des Königs gehalten. Soviel Worte, soviel Falschheiten! Es ist in ganz Preußen und ganz Deutschland bekannt, daß unsre berühmtesten Akademiker durch Maupertuis hierher gezogen wurden, daß er die Einkünfte verwaltet, die erledigten Stellen besetzt, die Preise verteilt, die Talente beschützt, daß er sich in all diesen verschiedenen Verwaltungszweigen stets selbstlos gezeigt hat durch gute Finanzwirtschaft, richtiges Urteil bei der Neubesetzung der erledigten Stellen, Gerechtigkeit bei der Verteilung der Pensionen und Preise, treue Fürsorge für den Ruhm der Akademie, Freundschaft und Treue gegen jeden seiner Kollegen und stete Hilfsbereitschaft für alle, die seines Schutzes bedurften. Wir haben also keinerlei Anlaß, über ihn zu klagen, vielmehr sind die meisten ihm Dank schuldig für unsre Berufung, für seinen Rat und seine Lehre, für seine Einsicht und sein Vorbild.

Der Verfasser der Schmähschrift gegen Maupertuis ist offenbar von den Vorgängen in unsrer Akademie und dem dort herrschenden Geiste sehr schlecht unterrichtet. Nie haben wir Streitigkeiten gehabt; denn nie haben wir dem Parteigeist Zutritt gestattet. Meinungsverschiedenheiten führen bei uns immer nur zu Erörterungen, nie aber zu Streit. Nach unsrer Meinung sieht es den Philosophen an, dem Volte ein Vorbild zu geben. Männer, die ehrlich die Wahrheit suchen, dürfen nicht starrköpfig sein. Weniger von sich selbst eingenommen und in ihre eignen Gedanken vernarrt als die, deren ungebildeter Geist brach liegt, verwenden sie den ganzen Scharfsinn ihres Geistes zur Erforschung der Rätsel der Natur, sind dankbar gegen alle, die sie vor Täuschung bewahren, und voller Bewunderung für die, deren Einsicht ihnen Erleuchtung bringt. Aus diesem Grunde hat man in unsren Versammlungen nie jene für eine gelehrte Körperschaft so erniedrigenden Szenen erlebt, wie den Auftritt in Paris vor einigen Jahren, der den Alterspräsidenten aller europäischen Akademiker so tief verletzt hat.

Unser angeblicher Akademiker hat nicht nur so offenkundige Lügen verbreitet wie die obengenannten. Er ist auf diesem schönen Wege noch weitergegangen. Gleich als ob seine Frechheit in dem Maße zunähme, wie er sein Gift verspritzt, behauptet er dreist, Maupertuis gereiche unsrer Akademie zur Unehre. Darauf war ich nicht gefaßt! Die Alten in ihrer Weisheit bezeichneten Böswillige als Rasende; denn die Bosheit ist eine Art von Delirium und verwirrt den Verstand. Hat jener geistlose Pamphletist, jener verächtliche Feind eines Mannes von seltnem Verdienst, in seiner unfruchtbaren Phantasie keine wahrscheinlichere Verleumdung finden können als eine derartige Unterstellung? Hat er nicht begriffen, daß, wenn schon ein nutz, bringendes Verbrechen empört, ein unnützes Verbrechen der Gipfel der Niedertracht ist? Eine so platte Roheit, eine so aberwitzige Behauptung verdient fürwahr keine Antwort. Wem soll ich es erst sagen und wer wüßte nicht längst, daß Maupertuis in Frankreich unter allen Mathematikern für den Befähigtesten galt, die Wahrheiten über die Erdgestalt, die Newton in seinem Arbeitszimmer geahnt hatte, festzustellen? Er wurde nach Lappland gesandt und trug durch seine geometrischen Berechnungen<230> ebensosehr zu seinem eignen Ruhme bei, wie zu dem des großen Engländers, den er in seiner Bescheidenheit stets als seinen Lehrer ansah. Wem brauchte ich erst zu sagen, daß er, vom König von Frankreich mit Ehren überhäuft, durch unsren König nach Berlin berufen ward, und daß unsre Akademie unter seiner Leitung nach langem Siechtum neues Leben gewann?

Soll ich das Publikum darüber belehren — es weiß ja längst Bescheid! — daß Maupertuis durch seine Mitarbeit auf allen Gebieten mehr als ein andrer von uns zu den Abhandlungen beiträgt, die wir alljährlich veröffentlichen? Wer weiß nicht oder tut, als wüßte er nicht, daß Maupertuis von allen Gelehrten, die seine Werke lasen, bewundert, von uns geliebt und geschätzt, von allen, die mit ihm leben, hochgeehrt, bei Hofe ausgezeichnet und vom König mehr begünstigt wird als irgend ein Gelehrter ?

Ich beklage unsren Präsidenten nicht. Er teilt das Los aller großen Männer: beneidet zu werden und seinen Feinden keine andre Waffe zu lassen, als die Erfindung abgeschmackter Lügen. Zu beklagen sind nur die armseligen Skribenten, die sich kopflos ihren Leidenschaften überlassen und von ihrer Böswilligkeit so verblendet sind, daß sie ihre Gewissenlosigkeit, Schlechtigkeit und Unwissenheit zugleich offenbaren.

Aber welchen Zeitpunkt, glauben Sie wohl, haben diese Leute zum Angriff gegen unsren Präsidenten benutzt? Sicherlich meinen Sie, als ehrliche Kämpfer hätten sie ihn zum Kampfe mit gleichen Waffen herausgefordert. Nein, mein Herr! Ermessen Sie die ganze Feigheit und Nichtswürdigkeit ihres Charakters! Sie wissen, daß Maupertuis zu unsrem Schmerze seit einem halben Jahre brustleidend ist, Blut hustet und häufige Ersiickungsanfälle hat, daß sein Siechtum ihn am Arbeiten hindert, daß er dem Tode näher ist als dem Leben, daß die Tränen einer liebenden Gattin und die Teil, nahme aller redlich Denkenden ihn rühren230-1. Diesen Augenblick wählten sie, um ihm, wie sie glauben, den Dolch in das Herz zu stoßen! Hat man je etwas Boshafteres, Feigeres, Ruchloseres gesehen? Hat man je von einer schändlicheren Räubertat gehört? Wie? Ein berühmter Gelehrter, der in seinen Worten nie einen Menschen gekränkt, der selbst mit der Feder seine Feinde respektiert hat, erfährt in dem Augen, blick, wo er sein Leben aushauchen will, wo ihm wie allen Ehrenmännern nichts bleibt als der Trost, einen wohlbegründeten Ruf zu hinterlassen, — daß man ihn angreift, verfolgt und verleumdet! Man möchte ihn ins Grab bringen mit dem Schmerz und der Verzweiflung darüber, in seinen letzten Stunden der Zuschauer seiner eignen Entehrung und Schande gewesen zu sein! Man möchte von ihm das Bekenntnis hören: Wozu hat mir das reine, makellose Leben genützt, das ich führte, wozu all die emsige Arbeit, die ich der Öffentlichkeit leistete, meine literarischen Schriften, die Diensie, die ich der Akademie widmete, und die Werke, die mich unsterblich machen sollten, wenn meine Asche zum Gegenstand der Verachtung wird, indem man meinen Ruf zu bestecken sucht, wenn ich meiner Familie nichts als<231> Schande und Unehre hinterlasse? Doch nein, mein Herr! Maupertuis' Feinde haben ihn schlecht gekannt; er verachtet ihre ohnmächtige Wut und verzeiht ihnen. Er ist zu sehr PHUosoph, um sich seine Seelenruhe nach dem Gutdünken seiner Feinde er, schüttern zu lassen, und ein zu guter Christ, um in seinem Herzen Rachsucht zu nähren. Er hat ihr Wutgeschrei kaum gehört, und selbst wenn er gesund wäre, hätte er nicht darauf geantwortet.

Ist die wohlverstandene Ruhmesliebe die erste Triebfeder großer Seelen und der ftuchtbare Mutterboden edler Taten und seltener, ja einziger Tugenden zum Wohle der Allgemeinheit: muß man dann Leute, die den großen Männern ihren wohlverdienten Ruhm zu rauben suchen, nicht für Störenfriede der öffentlichen Ordnung und für gefährlicher als Mörder halten? Und was soll aus dieser edlen Glut werden, die den Menschen durch die Lockung eines rein idealen Lohnes zu großen Dingen treibt, wenn man solche verbrecherischen Verschwörungen duldet, die den Ruhm, gekrönten das, was sie besitzen, entreißen wollen?

Sie sehen, Maupertuis' Feinde sind im Irrtum. Sie haben Neid mit Wetteifer verwechselt, ihre Verleumdungen mit Wahrheiten, den Wunsch, einen Menschen zu verderben, mit seinem wirtlichen Untergang, die Hoffnung, ihn in Verzweiflung zu bringen, mit dem Zusammenbruch seines Daseins und ihren Wahnsinn mit den feinsigesponnenen Ränken. Mögen sie endlich begreifen, daß sie sich in ihren Plänen und Voraussetzungen verrechnet haben, und daß, wenn es Feiglinge gibt, die große Männer zu verleumden wagen, in unsrer Zeit auch noch Tugendhafte leben, die sie verteidigen.

<232>

Gedächtnisrede auf Voltaire
Gelesen in der Akademie am 26. November 1778



Meine Herren!

In allen Zeitaltern, besonders bei den geistvollsten und gebildetsten Völkern, sind Männer von hoher und seltner Begabung schon während ihres Lebens geehrt worden, noch mehr aber nach ihrem Tode. Man betrachtete sie wie Phänomene, die ihren Glanz über ihr Vaterland verbreiteten. Die ersten Gesetzgeber, die die Menschen lehrten, in Gesellschaft zu leben, die ersten Helden, die ihre Mitbürger verteidigten, die Philosophen, die in die Abgründe der Natur hinabdrangen und einige Wahrheiten entdeckten, die Dichter, die die Großtaten ihrer Zeitgenossen der Nachwelt überlieferten, sie alle wurden wie höhere Wesen angesehen; man glaubte sie von der Gottheit besonders erleuchtet. Daher kam es, daß man dem Sokrates Altäre errichtete, daß Herakles für einen Gott galt, daß Griechenland den Orpheus verehrte und daß sieben Städte sich um den Ruhm stritten, die Heimat Homers zu sein. Das Volt von Athen, das die beste Erziehung besaß, wußte die Ilias auswendig und ehrte in ihren Gesängen pietätvoll den Ruhm seiner alten Helden. Auch Sophokles, der die Palme auf dem Theater errang, stand wegen seiner Talente in hohem Ansehen, ja der athenische Staat bekleidete ihn mit den höchsten Würden. Jedermann weiß, wie hoch Äschines, Perikles und Demosthenes geschätzt wurden, und daß Perikles dem Diagoras zweimal das Leben rettete, einmal, als er ihn vor der Wut der Sophisten schützte, das zweitemal, indem er ihn durch seine Wohltaten<233> unterstützte. Wer immer in Griechenland Talente besaß, war sicher, Bewunderung, ja selbst Begeisterung zu finden. Das war die mächtige Anregung, die Talente entwickelte und den Geistern jenen Aufschwung gab, durch den sie sich über die Schranken der Mittelmäßigkeit erhoben. Welch ein Stachel des Wetteifers für die PHUosophen, als sie erfuhren, daß Philipp von Mazedonien den Aristoteles als einzig würdigen Lehrer Alexanders erkoren hatte! In jenem schönen Zeitalter fand jedes Verdienst seinen Lohn, jedes Talent seine Ehren. Die guten Schriftsteller wurden ausgezeichnet. Die Werke des Thukydides und Xenophon befanden sich in aller Händen; kurz, jeder Bürger schien teilzuhaben an der Berühmtheit jener großen Geister, die Griechenlands Ruf damals über den aller übrigen Völker er, hoben.

Bald nachher liefert uns Rom ein ähnliches Schauspiel. Cicero schwingt sich durch seinen philosophischen Geist und seine Beredsamkeit auf den Gipfel des Ruhmes. Lukrez lebte nicht lange genug, um seinen Ruf zu genießen. Aber Virgil und Horaz wurden durch den Beifall jenes königlichen Volkes geehrt, standen in vertrautem Verkehr mit Augustus und hatten Teil an den Belohnungen, die dieser geschickte Tyrann über alle ausschüttete, die seine Tugenden priesen und seine Lasier beschönigten.

Zu der Zeit, da die Wissenschaften im Abendlande wieder aufblühten, gedenkt man mit Freuden der Medizäer und einiger Päpste, die sich eifrig der Schriftsteller annahmen. Man weiß, daß Petrarca als Dichter gekrönt wurde und daß Tasso nur durch seinen Tod um die Ehre kam, auf demselben Kapitol gekrönt zu werden, wo dereinst die Besieger der Welt triumphiert hatten.

Ludwig XIV., der nach jeder Art von Ruhm dürstete, vergaß auch den Ruhm nicht, die außerordentlichen Männer zu belohnen, die unter seiner Regierung auftraten. Er überhäufte nicht nur Bossuet, Fenelon, Racine und Boileau mit Wohltaten, sondern dehnte seine Freigebigkeit auch auf alle Schriftsteller aus, in welchem Lande sie auch wohnten, wenn nur ihr Ruf bis zu ihm gedrungen war.

So handelten alle Zeitalter gegen jene glücklichen Geister, die das Menschengeschlecht zu adeln scheinen, deren Werke uns erquicken und uns über das Elend des Lebens hinwegtrösien. Es ist also nur recht und billig, daß wir den Manen des Großen, dessen Verlust Europa betrauert233-1, den Tribut des Lobes und der Bewunderung zollen, den er so sehr verdient hat.

Wir gedenken nicht, auf die Einzelheiten von Voltaires Privatleben einzugehen. Die Geschichte eines Königs soll in der Aufzählung der Wohltaten bestehen, die er seinem Volke angedeihen ließ, die eines Kriegsmannes in seinen Feldzügen, die eines Schriftstellers in der Darlegung seiner Werke. Anekdoten können die Neugierde unterhalten; Taten unterrichten. Doch es ist unmöglich, die Fülle der Werke, die wir der Fruchtbarkeit Voltaires danken, im einzelnen zu prüfen. Nehmen Sie also,<234> meine Herren, mit der flüchtigen Skizze fürlieb, die ich Ihnen davon entwerfen will, und lassen Sie mich die Hauptereignisse seines Lebens nur kurz berühren. Es hieße Voltaire entehren, wollte ich Gewicht auf Nachforschungen legen, die nur seine Herkunft betreffen. Im Gegensatz zu denen, die ihren Vorfahren alles und sich selber nichts schulden, verdankte er alles der Natur: er allein war der Schmied seines Glückes und seines Ruhmes. Es genügt zu wissen daß seine Verwandten, die Justizbeamte waren234-1, ihm eine anständige Erziehung gaben. Er studierte im Jesuitenkolleg Ludwigs des Großen unter den Vätern Poree und Tournemine, die zuerst die Funken des glänzenden Feuers entdeckten, das seine Werke erfüllt.

Obwohl noch jung, wurde Voltaire nicht wie ein gewöhnliches Kind angesehen. Sein Geistesschwung hatte sich schon offenbart. Dadurch kam er in das Haus der Frau von Rupelmonde. Die Dame war entzückt von der Lebhaftigkeit seines Geistes und den Talenten des jungen Dichters. Sie führte ihn in die beste Pariser Gesellschaft ein. Die große Welt wurde für ihn zur Schule, in der er seinen Geschmack und den feinen Takt erwarb, die Gewandtheit und Höflichkeit des Benehmens, die jene weltfremden Gelehrten nie erreichen, weil sie kein Urteil darüber haben, was in der guten Gesellschaft gefallen kann, die ihrem Blick zu entrückt ist, um sie kennen zu können. Diesem Tone der guten Gesellschaft, dieser funkelnden Glätte verdanken Voltaires Werke ihre Beliebtheit.

Schon waren seine Tragödie „Ödipus“234-2 und einige liebenswürdige Gesellschaftsgedichte in die Öffentlichkeit gedrungen, als in Paris eine anstößige Verssatire gegen den Herzog von Orleans, den damaligen Regenten von Frankreich, erschien234-3. Ein gewisser La Grange, Verfasser dieses dunklen Machwerks, wußte den Verdacht von sich abzulenken, indem er es für ein Werk Voltaires ausgab. Die Regierung handelte übereilt. Der junge Dichter wurde unschuldig verhaftet und in die Bastille gesteckt, wo er mehrere Monate blieb234-4. Da aber die Wahrheit früher oder später doch ans Licht kommt, so wurde der Schuldige bestraft und Voltaire als gerechtfertigt freigelassen.

Meine Herren, würden Sie es für möglich halten, daß es just die Bastille war, in der unser junger Dichter die ersten beiden Gesänge seiner „Henriade“ schrieb? Und doch ist es so. Sein Gefängnis ward ihm zum Parnaß, wo die Musen ihn begeisterten. Sicher ist, daß der zweite Gesang so geblieben ist, wie er ihn zuerst entwerfen. In Ermangelung von Papier und Tinte lernte er die Verse auswendig und behielt sie im Gedächtnis.

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Bald nach seiner Freilassung zog er sich, aufgebracht durch die unwürdige Behandlung und den Schimpf, den er in seinem Vaterlande erduldet hatte, nach England zurück235-1, wo er nicht nur die günstigste Aufnahme beim Publikum fand, sondern sich auch bald begeisterte Anhänger warb. In London legte er die letzte Hand an seine „Henriade“, die er damals unter dem Titel „Poème de la Ligue“ veröffentlichte235-2.

Unser junger Dichter, der während seines Aufenthalts in England alles zu nutzen wußte, warf sich besonders auf das Studium der Philosophie. Damals blühten die weisesten und tiefsten Philosophen. Er ergriff den Faden, an dem sich der vorsichtige Locke durch das Labyrinth der Metaphysik getastet hatte, zügelte seine feurige Einbildungskraft und unterwarf sich den mühseligen Berechnungen des unsterblichen Newton. Ja, er eignete sich die Entdeckungen dieses Philosophen derart an und machte solche Fortschritte, daß er das System des großen Mannes in einer kurzen Abhandlung so klar darstellte, daß es für jedermann faßlich wurde235-3. Vor ihm war Fontenelle der einzige Philosoph gewesen, der Blumen auf die trockne Astronomie gestreut und sie zum Zeitvertreib des schönen Geschlechts gemacht hatte. Den Engländern schmeichelte es, daß ein Franzose ihre Philosophen nicht nur bewunderte, sondern sie auch in seine Sprache übersetzte. Die vornehmste Welt Londons drängte sich, ihn zu besitzen. Nie fand ein Fremder bei dieser Nation günstigere Aufnahme. Aber so schmeichelhaft der Triumph auch für seine Eigenliebe war, die Liebe zum Vaterlande siegte im Herzen unsres Dichters, und er kehrte nach Frankreich zurück (1729).

Durch den Beifall aufgeklärt, den ein so ernstes und kluges Volk wie die Engländer dem jungen Schriftsteller gespendet hatte, begannen die Pariser zu ahnen, daß ein großer Mann in ihrer Mitte geboren war. Nun erschienen die „Lettres sur les Anglais“235-4, die mit raschen, kräftigen Strichen die Sitten, den Kunstfleiß, die Religion und die Regierung des englischen Volkes schildern. Die Tragödie „Brutus“, höchst geeignet, diesem freien Volke zu gefallen, folgte bald nach, ebenso „Mariamne“235-5 und eine Menge andrer Stücke.

Damals lebte in Frankreich eine durch ihre Neigung zu Kunst und Wissenschaft berühmte Dame. Sie erraten wohl, meine Herren, wir meinen die Marquise du Châtelet. Sie hatte die philosophischen Werke des jungen Autors gelesen; bald machte sie auch seine Bekanntschaft (1733). Das Verlangen, sich zu unterrichten, und der leidenschaftliche Wunsch, die wenigen Wahrheiten zu ergründen, die im<236> Bereiche des menschlichen Geistes liegen, knüpfte die Bande ihrer Freundschaft unlöslich. Sofort gab Frau von Chatelet die „Theodicee“ von Leibniz und die geistvollen Phantasiegebilde dieses Philosophen236-1 auf, um an ihrer Statt die vorsichtige und besonnene Methode Lockes anzunehmen, die weniger die heftige Wißbegier als die strenge Vernunft befriedigte. Sie lernte so viel Mathematik, um Newton in seinen abstrakten Berechnungen folgen zu können. Ja, ihr Fleiß war so beharrlich, daß sie einen Auszug seines Systems zum Gebrauch ihres Sohnes verfaßte236-2. Cirey wurde bald die philosophische Zufluchtsstätte beider Freunde. Dort schrieben sie jeder für sich Werke verschiedener Art, die sie sich mitteilten, indem sie sich bemühten, ihren Erzeugnissen durch gegenseitige Kritik den höchsten erreichbaren Grad von Vollkommenheit zu geben. Dort entstanden „Zaire“ (1732), „Alzire“ (1734/36), „Mérope“ (1737), „Sémiramis“ (1748), „Catilina“ (1749), „Électre ou Oreste“ (1749).

Voltaire, dessen Tätigkeit alles umfaßte, beschränkte sich nicht allein auf das Ver, gnügen, das Theater durch seine Tragödien zu bereichern. Er verfaßte eigens für den Gebrauch der Marquise von Chatelet seinen „Essai sur l'histoire universelle“236-3. Das „Zeitalter Ludwigs XIV.“236-4 und die „Geschichte Karls XII.“236-5 waren bereits erschienen.

Einen so genialen Schriftsteller, der ebenso vielseitig wie korrekt war, ließ die französische Akademie sich nicht entgehen. Sie forderte ihn als ein ihr gehöriges Eigentum. Er wurde Mitglied dieser erlauchten Körperschaft (1746) und eine ihrer schönsten Zierden. Auch Ludwig XV. zeichnete ihn aus, indem er ihn zum Kammer, Herrn (1746) und zum Historiographen Frankreichs (1745) ernannte, was er eigentlich durch seine Geschichte Ludwigs XIV. schon war.

Obwohl Voltaire für so glänzende Ehrungen empfänglich war, sprach das Gefühl der Freundschaft doch noch stärker in ihm. Unauflöslich mit Frau von Chatelet verbunden, ließ er sich durch den Glanz eines großen Hofes nicht blenden und zog den Aufenthalt in Luneville236-6, mehr noch die ländliche Abgeschiedenheit von Cirey der Pracht von Versailles vor. Dort genossen beide Freunde friedlich das den Menschen zugemessene Glück, bis der Tod der Marquise von Chatelet (10. September 1749) ihrem schönen Bund ein Ziel setzte. Das war ein furchtbarer Schlag für Voltaires Zartgefühl. Er mußte seine ganze Philosophie zu Hilfe rufen, um ihm zu widerstehen.

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Gerade zu der Zeit, wo er alle Kräfte anspannte, um seinen Schmerz zu bezwingen, wurde er an den preußischen Hof berufen. Der König, der ihn im Jahre 1740 gesehen hatte237-1, wünschte dies hervorragende und seltene Genie zu besitzen. Im Jahre 1750 kam Voltaire nach Berlin237-2. Seine Kenntnisse waren umfassend, seine Unterhaltung ebenso belehrend wie angenehm, seine Einbildungskraft ebenso glänzend wie vielseitig, sein Geist rasch im Erfassen und stets schlagfertig. Er verschönte die Trockenheit eines Gegenstands durch die Anmut der Darstellung; kurz, er war das Entzücken aller Gesellschaften. Ein unglücklicher Streit, der zwischen ihm und Maupertuis ausbrach237-3, entzweite diese beiden Geister, die dazu geschaffen waren, sich zu lieben, nicht aber, sich zu hassen237-4. Der Ausbruch des Siebenjährigen Krieges erweckte bei Voltaire den Wunsch, seinen Aufenthalt in der Schweiz zu nehmen. Er ging nach Genf, dann nach Lausanne, erwarb später Les Délices237-5 und ließ sich schließlich in Ferney nieder (1759). Seine Muße war zwischen Studium und Arbeit geteilt. Er las und schrieb und beschäftigte durch die Fruchtbarkeit seines Geistes alle Buchhändler jenes Kantons.

Voltaires Gegenwart, sein sprudelnder Geist, seine mühelose Produktion versetzte seine ganze Umgebung in den Wahn, um ein großer Geist zu sein, brauchte man es nur zu wollen. Eine Art von Epidemie ergriff die Schweizer, die sonst nicht für die feinsten Köpfe gelten. Sie drückten die gewöhnlichsten Dinge nur noch in Antithesen und Epigrammen aus. Genf wurde von dieser Ansteckung am meisten befallen. Die Bürger hielten sich samt und sonders für Lykurge und hatten nicht übel Lust, ihrer Vaterstadt neue Gesetze zu geben, aber keiner wollte den bestehenden gehorchen. Diese Regungen mißverstandenen Freiheitseifers führten zu einer Art Aufruhr oder Krieg, der in die Komödie gehörte. Voltaire verfehlte nicht, das Ereignis unsterblich zu machen; er besang diesen sogenannten Krieg im Tone von Homers Froschmäusekrieg237-6.

Bald brachte seine fruchtbare Feder Theaterstücke hervor, bald vermischte philosophische und geschichtliche Aufsätze, bald allegorisch-moralische Romane. Aber während er derart die Literatur durch neue Schöpfungen bereicherte, widmete er sich zugleich der Landwirtschaft. Man sieht, wie ein guter Kopf sich auf allen möglichen Gebieten betätigen kann. Ferney war ein fast wüstes Stück Land, als unser Philosoph es erwarb. Er kultivierte es und bevölkerte es nicht allein, sondern siedelte auch viele Handwerker dort an.

Rufen wir uns nicht zu bald die Ursachen unsres Schmerzes ins Gedächtnis zurück. Lassen wir Voltaire noch ruhig in Ferney und werfen wir unterdessen einen<238> aufmerksamen und eingehenden Blick auf die Fülle seiner geistigen Erzeugnisse. Die Geschichte erzählt, Virgil habe, als er starb, seine „Äneis“ verbrennen wollen, weil er ihr nicht die gewünschte Vollendung hatte geben können. Voltaire konnte bei seinem langen Leben sein Gedicht „La Ligue“ immer wieder feilen und verbessern und ihm die Vollkommenheit geben, die es jetzt unter dem Namen der „Henriade“ erreicht hat238-1. Seine Neider warfen ihm vor, es sei nur eine Nachahmung der „Äneis“, und man muß einräumen, daß der Gegenstand mancher Gesänge Ähnlichkeiten aufweist. Aber es sind keine sklavischen Kopien. Schildert Virgil die Zerstörung Trojas, so stellt Voltaire die Greuel der Bartholomäusnacht dar. Der Liebe der Dido und des Äneas sieht die Liebe Heinrichs IV. und der schönen Gabrielle d'Estrées gegenüber. Das Hinabsteigen des Äneas in die Unterwelt, wo Anchises ihm seine Nachkommenschaft prophezeit, wird mit Heinrichs IV. Traum und der Weissagung des heiligen Ludwig verglichen, der ihm das Schicksal der Bourbonen verkündet. Wenn ich meine Meinung äußern dürfte, würde ich bei zweien dieser Gesänge den Vorzug dem Franzosen geben, nämlich bei der Schilderung der Bartholomäusnacht und dem Traume Heinrichs IV. Nur in der Liebe der Dido scheint Virgil über Voltaire den Sieg davonzutragen, weil der Lateiner fesselt und zum Herzen spricht, während der Franzose sich nur in Allegorien ergeht. Aber bei ehrlicher Prüfung beider Dichtungen, ohne Vorurteil für die Alten oder Neueren, muß man einräumen, daß viele Einzelheiten der „Äneis“ in den Werken unsrer Zeitgenossen nicht mehr geduldet würden, so z. B. das Totenopfer, das Äneas seinem Vater Anchises darbringt, die Fabel von den Harpyen, die Prophezeiung dieser Fabelwesen, die Trojaner würden noch in solche Not kommen, daß sie ihre Teller essen müßten — eine Prophezeiung, die dann später in Erfüllung geht —, das Mutterschwein mit den neun Frischlingen, das die Stätte bezeichnet, wo Äneas das Ende seiner Mühen finden soll, die Verwandlung seiner Schiffe in Nymphen, der von Askanius erlegte Hirsch, der den Krieg der Trojaner und Rutuler herbeiführt, der Haß gegen Äneas, den die Götter ins Herz der Amata und Lavinia legen, derselben Lavinia, die Äneas am Ende fteit. Vielleicht war Virgil mit diesen Fehlern selbst unzufrieden und wollte deshalb sein Werk verbrennen. Jedenfalls stellen sie nach der Meinung urteilsvoller Kunsirichter die „Äneis“ unter die „Henriade“. Wenn das Verdienst eines Autors in der Überwindung von Schwierigleiten liegt, so ist es sicher, daß Voltaire mehr zu überwinden fand als Virgil. Der Gegenstand der „Henriade“ ist die Unterwerfung von Paris durch die Bekehrung Heinrichs IV. Der Dichter konnte also den Wunderapparat nicht nach Belieben benutzen; er sah sich auf die christlichen Mysterien beschränkt, die weniger reich an lieblichen und malerischen Bildern sind als die Mythologie der Heiden. Gleichwohl kann man bei der Lektüre des X. Gesanges der „Henriade“ nicht umhin, zu gestehen,<239> daß der Zauber der Dichtung jeden Gegenstand zu veredeln vermag. Voltaire war der einzige, der mit seiner Dichtung unzufrieden war. Er fand, sein Held hätte weniger große Gefahren zu bestehen als Äneas und könne darum nicht so fesseln wie dieser, der aus einer Gefahr stets in die nächste gerät.

Prüft man ebenso unparteiisch die Tragödien Voltaires, so wird man zugeben, daß er hier und da Racine übertrifft, an andrer Stelle aber hinter dem berühmten Dramatiker zurücksieht. Sein erstes Theaterstück war „Ödipus“. Seine Phantasie war damals erfüllt von den Schönheiten des Sophokles und Euripides, und sein Gedächtnis gemahnte ihn fortwährend an die flüssige Eleganz Racines. Dank diesem doppelten Vorzug wirkte sein Stück auf der Bühne als Meisterwerk. Einige wohl zu strenge Kritiker fanden daran zu tadeln, daß die fast erloschene Leidenschaft der alten Jokaste in Gegenwart des Philoktet wieder aufflammt. Hätte der Dichter aber die Rolle des Philottet beschnitten, so hätte er uns die Freude an den Schönheilen genommen, die der Gegensatz zwischen dem Charakter des Philottet und des Ödipus zeitigt. Seinen „Brutus“ hielt man für passender auf der Londoner als auf der Pariser Bühne; denn in Frankreich wird ein Vater, der seinen Sohn kalt, blutig zum Tode verurteilt, als Barbar gelten, während in England ein Konsul, der sein eignes Fleisch und Blut der Freiheit des Vaterlandes opfert, als Gott an, gesehen wird. Seine „Mariamne“ und eine Anzahl andrer Stücke zeugen noch für die Kunst und die Fruchtbarkeit seines Schaffens. Jedoch darf man sich nicht verhehlen, daß manche, vielleicht zu strenge Kritiker unsrem Dichter vorwerfen, der Bau seiner Tragödien reiche an die Natürlichkeit und Wahrscheinlichkeit der Racineschen nicht heran. Bei der Aufführung von „Iphigenie“, „Phädra“ und „Athalie“, sagen sie, entwickelt sich die Handlung ungezwungen vor unsren Augen, wogegen man sich bei der Aufführung der „Zaire“ über die Wahrscheinlichkeit hinwegsetzen und gewisse auffällige Fehler übersehen muß. Der zweite Akt fällt nach ihrer Meinung aus dem Ganzen heraus. Man muß das Geschwätz des alten Lusignan über sich ergehen lassen, der in seinen Palast zurückgekehrt ist, aber nicht weiß, wo er sich befindet, und von seinen früheren Waffentaten spricht, wie ein Oberstleutnant vom Regiment Navarra, der Gouverneur von Péronne geworden ist. Man weiß nicht recht, wie er seine Kinder wiedererkennt. Um seine Tochter zum Christentum zu bekehren, erzählt er ihr, sie sei auf dem Berge, wo Abraham seinen Sohn Isaak dem Herrn opferte oder opfern wollte. Er redet ihr zu, sich taufen zu lassen, nachdem Chatillon bezeugt hat, daß er sie selbst getauft habe — und das ist der Knoten des Stückes! Nach dieser kalten und matten Handlung stirbt Lusignan am Schlagfluß, ohne daß irgend jemand an seinem Schicksal Anteil nimmt. Da die Handlung des Stückes einen Priester und ein Sakrament nötig machte, hätte die Taufe wohl durch die Kommunion ersetzt werden können. So begründet aber auch diese Einwendungen sein mögen, man verliert sie im fünften Akt aus den Augen: das Interesse, die Furcht und das Mitleid, die der große Dichter so meisterlich zu erregen weiß, reißen<240> den Zuschauer hin, und von gewaltigen Leidenschaften erschüttert, vergißt er über so großen Schönheiten kleine Mängel. Man wird also einräumen, daß Racine den Vorzug größerer Natürlichkeit und Wahrscheinlichkeit im Bau seiner Dramen hat, daß in seiner Versgestaltung eine ununterbrochene Eleganz, Weichheit und Flüssigkeit herrscht, die bis jetzt kein Dichter annähernd erreicht hat. Andrerseits muß man zu, geben, daß Voltaire, von einigen epischen Breiten in seinen Stücken und vom fünften Akt seines „Catilina“ abgesehen, die Spannung von Szene zu Szene, von Aufzug zu Aufzug bis zur Katastrophe kunstvoll zu steigern versieht, und das ist der Gipfel der Kunst.

Sein Universalgenie umfaßte jede Kunstart. Nachdem er es mit Birgit auf, genommen und ihn vielleicht übertroffen hatte, wollte er sich mit Ariost messen. Er verfaßte die „Pucelle“ im Stil des „Rasenden Roland“, jedoch ohne ihn nachzuahmen. Die Fabel, die Wundergeschichten, die Episoden — alles darin ist Original, alles atmet die Heiterkeit einer glänzenden Einbildungskraft.

Seine Gesellschaftsgedichte bildeten das Entzücken aller Leute von Geschmack. Der Verfasser selbst gab nicht viel darauf, wiewohl weder Anakreon, noch Horaz,. Ovid und Tibull, noch die andren Schöngeister des Altertums uns irgend ein Muster in dieser Gattung hinterlassen haben, das er nicht erreicht hätte. Sein Geist gebar diese Werke mühelos; das befriedigte ihn nicht. Er glaubte, ein wohlverdienter Ruf müsse durch Überwindung der größten Hindernisse erworben werden.

Nachdem wir in Kürze die Talente des Dichters aufgezählt haben, gehen wir zu denen des Historikers über. Die „Geschichte Karls XII.“ (1731) war sein erstes Geschichtswerk. Er wurde der Quintus Curtius dieses Alexanders240-1. Die Blumen, die er über seinen Stoff ausstreut, verändern die Grundlage der Wahrheit nicht. In den leuchtendsten Farben malt er die glänzende Tapferkeit des nordischen Helden, seine Festigkeit bei manchen Gelegenheiten, seinen Starrsinn bei andren, sein Glück und Unglück. Nachdem er seine Kräfte an Karl XII. versucht hatte, wagte er sich an die Geschichte des „Zeitalters Ludwigs XIV.“ (1751). Hier finden wir nicht mehr den romanhaften Stil des Quintus Curtius, sondern den Stil des Cicero, dessen Rede Pro lege Manilia240-2 zur Lobrede auf Pompejus wird. Als Franzose hebt er mit Begeisierung die berühmten Ereignisse jenes großen Zeitalters hervor und setzt die Vorzüge ins hellste Licht, die seinem Volke damals das Übergewicht über die andren Nationen gaben: die Fülle großer Geister, die unter der Regierung Ludwigs XIV. erstanden, die Herrschaft der Künste und Wissenschaften unter dem Schutze eines so glänzenden Hofes, die Fortschritte des Gewerbfieißes aller Art und die innere Kraft Frankreichs, die den König gleichsam zum Schiedsrichter Europas machte. Dies einzig dastehende Werk mußte Voltaire die Zuneigung und Dankbarkeit des ganzen französischen Volkes erwerben, dem er mehr Ansehen verschaffte als irgend ein andrer<241> französischer Schriftsteller. In seinem „Versuch über die Weltgeschichte“241-1 wechselt der Stil abermals: er ist schlicht und kraftvoll. Seine Geistesart offenbart sich in der Weise, wie er die Geschichte behandelt, besser als in seinen übrigen Schriften. Man merkt darin die Überlegenheit eines Geistes, der alles im großen sieht, sich nur an das Bedeutende hält und die Kleinigkeiten übergeht. Das Werk ist nicht geschrieben, um denen Geschichte zu lehren, die sie nie studiert haben, sondern nur, um die Haupttatsachen denen ins Gedächtnis zu rufen, die sie schon kennen. Er befolgt das oberste Gesetz des Geschichtsschreibers, die Wahrheit zu sagen. Die eingestreuten Betrachtungen sind kein Beiwerk, sondern stehen in engstem Zusammenhang mit dem Stoffe.

Es bleibt uns noch eine Fülle andrer Abhandlungen Voltaires übrig, auf die ein näheres Eingehen fast unmöglich ist. Die einen sind kritischer Natur; in andren klärt er metaphysische Fragen, wieder andre drehen sich um Astronomie, Geschichte, Physik, Redekunst, Poetik und Mathematik. Selbst seine Romane haben einen originellen Zug. „Zadig“, „Micromegas“, „Candide“ sind Schriften, die unter scheinbarer Oberflächlichkeit moralische Allegorien oder Kritiken moderner philosophischer Systeme bergen, wo das Nützliche Hand in Hand mit dem Angenehmen geht.

Diese Fülle von Talenten und verschiedenen Kenntnissen, in einer Person vereint, versetzen den Leser in ein Gemisch von Überraschung und Erstaunen. Gehen Sie das leben aller großen Männer des Altertums durch, deren Name auf uns gekommen ist. Sie werden finden, meine Herren, daß jeder sich auf ein einziges Talent beschränkte. Aristoteles und Plato waren Philosophen, Äschines und Demosthenes Redner, Homer ein Epiker, Sophokles ein Dramatiker. Anakreon pflegte die gefällige Muse; Thukydides und Xenophon waren Geschichtsschreiber. Ebenso waren bei den Römern Virgil, Horaz, Ovid und Lukrez nur Dichter, Livius und Varro241-2 Geschichtsschreiber, Crassus, der ältere Antonius und Hortensius Redner. Nur Cicero, Konsul und Redner, Verteidiger und Vater des Vaterlandes, hat verschiedene Talente und Kenntnisse in sich vereint. Mit der Macht des Wortes, die ihn über alle seine Zeitgenossen erhob, verband er tiefes Studium der Philosophie, wie man sie zu seiner Zeit kannte. Das zeigt sich in seinen Tuskulanen, in seiner wundervollen Abhandlung „Über die Natur der Götter“, in seiner Schrift „Von den Pflichten“, die vielleicht das beste Moralbuch ist, das wir besitzen. Cicero war sogar Dichter. Er übersetzte die Verse des Aratos241-3 ins Lateinische, und wie man glaubt, hat er durch seine Verbesserungen das Gedicht des Lukrez241-4 vervollkommnet.

Wir mußten also den Zeitraum von siebzehn Jahrhunderten durchlaufen, um unter der Fülle der Sterblichen, die das Menschengeschlecht bilden, einen einzigen, Cicero, zu finden, dessen Kenntnisse sich mit denen unsres berühmten Schriftstellers<242> vergleichen lassen. Man kann sagen, wenn der Ausdruck erlaubt ist, daß Voltaire allein eine ganze Akademie aufwog. Er hat manches geschrieben, worin man Bayle mit dem ganzen Rüstzeug seiner Logik zu erkennen glaubt, andres, wo man Thukydides zu lesen vermeint. Bald entdeckt er als Physiker die Naturgeheimnisse, bald folgt er als Metaphysiker, auf Analogie und Erfahrung gestützt, mit gemessenen Schritten der Fährte Lockes. In andren Werken finden Sie ihn als Nebenbuhler des SophoNes; dort weiß er ein trockenes Thema reizvoll zu gestalten; hier pflegt er die heitere Muse. Aber offenbar strebt er in seinem hohen Geistesflug nicht allein danach, sich mit Terenz oder Moliere zu messen. Bald sehen Sie ihn den Pegasus besteigen, der seine Flügel entfaltet und ihn auf die Höhen des Helikon trägt, wo der Gott der Musen ihm seinen Platz zwischen Homer und Virgil anweist.

Solche mannigfaltigen Schöpfungen und solche gewaltigen Anstrengungen des Genius wirkten schließlich mächtig auf die Geister, und ganz Europa zollte Voltaires hervorragenden Talenten Beifall. Man darf nicht glauben, daß Eifersucht und Neid ihm erspart blieben: sie spitzten alle ihre Pfeile, um ihn zu Fall zu bringen. Der den Menschen eingeborene Unabhängigkeitstrieb, der ihnen Abneigung selbst gegen die rechtmäßigste Autorität einstößt, machte sie um so erbitterter gegen eine Überlegenheit an Talenten, die sie in ihrer Unzulänglichkeit nicht erreichen konnten. Doch der Beifall übertönte das Geschrei der Neider. Die Gelehrten fühlten sich durch die Bekanntschaft mit diesem großen Manne geehrt. Wer irgend Philosoph genug war, um das persönliche Verdienst anzuerkennen, stellte Voltaire weit über die, deren Vorfahren, Titel, Stolz und Reichtum ihr einziges Verdienst bilden. Voltaire gehörte zu der kleinen Zahl der Philosophen, die da sagen können: Omnia mea mecum porto242-1. Prinzen, Fürsten, Könige, Kaiserinnen überhäuften ihn mit Zeichen ihrer Hochachtung und Bewunderung. Damit wollen wir zwar nicht behaupten, daß die Großen der Erde die besten Beurteiler des Verdienstes seien, aber es beweist doch so viel, daß der Ruf unsres Autors allgemein so fest begründet war, daß die Häupter der Völker der öffentlichen Meinung nicht widersprachen, sondern im Gegenteil glaubten, sich ihr anschließen zu müssen.

Wie aber in der Welt das Gute stets mit dem Schlechten gepaart ist, so geschah es, daß Voltaire, so empfänglich für den Beifall der Welt, dessen er sich erfreute, nicht minder empfindlich war gegen die Stiche jener Insekten, die sich vom Schlamme des Musenquells nähren. Weit entfernt, sie zu züchtigen, verewigte er sie, indem er ihre obskuren Namen in seine Werke setzte. Von ihnen wurde er jedoch nur leicht verunglimpft im Vergleich zu den weit heftigeren Verfolgungen, die er von den Geistlichen zu erdulden hatte. Sie, die schon von Berufs wegen als Diener des Friedens nur Werke der Barmherzigkeit und Wohltaten hätten vollbringen sollen, fielen, durch falschen Eifer verblendet und durch Fanatismus verdummt, über ihn<243> her und wollten ihn durch Verleumdungen zu Falle bringen. Ihre Unwissenheit machte ihr Vorhaben zuschanden. Aus Mangel an Einsicht verwirrten sie die klarsten Begriffe, legten die Stellen, wo unser Autor Duldung predigt, als Lehrsätze des Atheismus aus, und derselbe Voltaire, der alle Hilfsquellen seines Genius zum kraftvollen Nachweis vom Dasein Gottes anwandte, wurde zu seinem großen Erstaunen gescholten, dessen Dasein geleugnet zu haben.

Aber wenn jene frommen Seelen ihrem Haß gegen ihn so ungeschickt Luft machten, so ernteten sie damit nur den Beifall von Leuten ihres Schlages, nicht aber von denen, die den leisesten Begriff von Logik hatten. Sein eigentliches Verbrechen bestand darin, daß er in seiner Geschichte nicht feige die Lasier so vieler Päpste verhehlte, die die Kirche entehrt haben, daß er mit Fra Paolo243-1, mit Fleury243-2 und so vielen andren aussprach, wieviel öfter die Leidenschaften das Benehmen der Priester bestimmten als die Eingebung des Heiligen Geistes, daß er in seinen Werken Abscheu gegen jene entsetzlichen Metzeleien erregte, die aus falschem Eifer begangen wurden243-3, und daß er schließlich jene unverständlichen und nichtigen Streitereien, denen die Theologen aller Sekten soviel Bedeutung beilegen, mit Verachtung behandelte. Fügen wir zur Vollendung des Bildes noch hinzu, daß alle Werke Voltaires frisch von der Presse verkauft wurden, während die Bischöfe mit heiligem Grimm sahen, wie ihre Hirtenbriefe von Würmern zerfressen wurden oder in den Buchhändlerläden vermoderten. So urteilen dumme Priester! Man würde ihnen ihre Dummheit verzeihen, wenn ihre falsche Logik die Ruhe des Bürgers nicht störte. Gibt man der Wahrheit die Ehre, so genügt der Mangel an Denkvermögen zur Kennzeichnung dieser elenden und verächtlichen Wesen, die ihren Beruf darin sehen, die Vernunft in Fesseln zu schlagen und mit dem gesunden Menschenverstand offen zu brechen.

Da es hier Voltaire zu rechtfertigen gilt, dürfen wir keine der Beschuldigungen übergehen, die man ihm zur Last legte. Die Scheinheiligen bezichtigten ihn also noch, er habe die Anschauungen Epikurs, Hobbes', Woolstons243-4, Lord Bolingbrokes und andrer Philosophen verkündet. Aber ist es nicht klar, daß er, anstatt ihre Lehren durch das zu bestärken, was auch jeder andre hätte hinzufügen können, sich mit der Rolle des Berichterstatters begnügt und die Entscheidung des Prozesses seinen Lesern anheimgibt? Und zweitens, wenn die Religion auf Wahrheit beruht, was hat sie dann von allem zu fürchten, was die Lüge gegen sie erfinden kann? Davon war Voltaire fest überzeugt. Er hielt es nicht für möglich, daß die Zweifel eines Philosophen über die göttlichen Offenbarungen den Sieg davontragen könnten.

Aber gehen wir weiter. Vergleichen wir die in seinen Werken vertretene Moral mit der seiner Verfolger. Er sagt, die Menschen sollen sich wie Brüder lieben; sie haben die Pflicht, einander die Last des Lebens tragen zu helfen, wo die Summe<244> der Leiden die der Freuden überwiegt; ihre Meinungen sind so verschieden wie ihre Gesichter. Statt sich zu verfolgen, weil nicht alle das gleiche denken, sollen sie sich darauf beschränken, das Urteil der im Irrtum Befangenen durch Gründe zu berichtigen, nicht aber Feuer und Schwert zu Hilfe zu nehmen. Kurz, sie sollen sich gegen ihre Nächsten so betragen, wie sie wünschen, daß man sie behandle. Ist es nun Voltaire, der so spricht, oder der Apostel Johannes, oder ist es die Sprache des Evangeliums? Stellen wir nun die praktische Moral der Heuchler oder der falschen Eiferer daneben. Sie drückt sich wie folgt aus: „Rotten wir die aus, die anders denken, als wir wünschen. Schlagen wir die zu Boden, die unsren Ehrgeiz und unsre Lasier enthüllen. Gott sei der Schild unsrer Ungerechtigkeit. Mögen die Menschen sich zerfleischen, mag Blut stießen, was liegt daran, wenn nur unser Ansehen wächst? Machen wir Gott unversöhnlich und grausam, damit die Zolleinnahmen für das Fegefeuer und das Paradies unsre Einkünfte vergrößern.“ Derart dient die Religion oft nur den Leidenschaften der Menschen zum Vorwand, und durch ihre Verderbtheit wird die reinste Quelle des Guten zur Quelle des Bösen.

Da die Sache Voltaires eine so gute war, wie wir eben zeigten, so erhielt er den Beifall aller Tribunale, an denen die Vernunft mehr Gehör fand als mystische Sophismen. So sehr er auch vom Priesterhaß verfolgt ward, er unterschied stets zwischen der Religion und denen, die sie entehren. Stets ward er den Geistlichen gerecht, die durch ihre Tugenden der Kirche wahrhaft zur Zierde gereichten, und tadelte nur die, die sich durch ihre Sittenverderbnis zum Abscheu der Welt machten.

So verbrachte Voltaire sein Leben zwischen den Verfolgungen seiner Neider und der Begeisterung seiner Bewunderer, ohne daß der Spott der einen ihn demütigte und ohne daß der Beifall der andren ihm eine höhere Meinung von sich selbst beibrachte. Er begnügte sich damit, die Welt aufzuklären und durch seine Werke die Liebe zu den Wissenschaften und zur Menschheit zu verbreiten. Nicht zufrieden damit, Moralvorschriften zu geben, predigte er das Wohltun durch sein eignes Beispiel. Sein mutiger Beistand kam der unglücklichen Familie des Calas zu Hilfe244-1. Er trat für Sirven ein und entriß ihn den barbarischen Händen seiner Richter244-2. Er hätte den Chevalier de La Barre von den Toten erweckt, hätte er die Gabe, Wunder zu tun, besessen244-3. Wie schön ist es, wenn ein Philosoph aus seiner Zurückgezogenheit die Stimme erhebt, wenn die Menschlichkeit, deren Anwalt er ist, die Richter zwingt, ungerechte Urteile umzustoßen! Hätte Voltaire nur diesen ein<245>zigen Zug für sich, er verdiente unter die kleine Zahl der wahren Wohltäter der Menschheit versetzt zu werden. Philosophie und Religion lehren also übereinstimmend den Weg der Tugend. Urteilen Sie selbst, wer christlicher ist, die Behörde, die eine Familie grausam aus dem Vaterlande stößt, oder der Philosoph, der sie aufnimmt und unterstützt? Der Richter, der mit dem Schwert der Gerechtigkeit einen Unbesonnenen mordet, oder der Weise, der das Leben des Jünglings retten will, um ihn zu bessern, der Henker des Calas oder der Beschützer seiner verzweifelten Familie? Solche Züge werden das Andenken Voltaires für ewig allen denen teuer machen, die mit gefühlvollem Herzen geboren sind und am Los ihrer Mitmenschen Anteil nehmen. Wie köstlich die Gaben des Geistes und der Einbildungskraft auch seien, wie hoch der Genius stiegen, wie umfassend die Kenntnisse sein mögen — diese Geschenke, die die Natur nur selten in Fülle austeilt, erheben uns doch nie über Taten der Menschenliebe und Wohltätigkeit. Jene werden bewundert, diese aber werden verehrt und gesegnet.

Wie schwer es mir auch wird, meine Herren, mich für immer von Voltaire zu trennen, ich fühle doch den Augenblick nahen, wo ich den Schmerz erneuern muß, den sein Verlust Ihnen verursacht. Wir haben ihn ruhig in Ferney gelassen. Geldgeschäfte riefen ihn nach Paris, wo er noch zeitig genug einzutreffen hoffte, um den Rest seines Vermögens aus einem Bankrott zu retten, in den er verwickelt war. Er wollte nicht mit leeren Händen in sein Vaterland zurückkehren. Indem er seine Zeit abwechselnd in den Dienst der Philosophie und der schönen Wissenschaften stellte, brachte er eine Fülle von Werken hervor und hatte stets einige in Vorrat. Da er eine neue Tragödie „Irene“ verfaßt hatte, wollte er sie in Paris aufführen lassen. Er pflegte seine Stücke der strengsten Kritik zu unterwerfen, bevor er sie an die Öffentlichkeit brachte. Diesem Grundsatz getreu, beriet er sich in Paris mit allen ihm bekannten Leuten von Geschmack und opferte eitle Eigenliebe dem Wunsche, seine Werke des Nachruhms würdig zu machen. Gelehrig folgte er den klugen Ratschlägen, die man ihm erteilte, und mit einzig dastehendem Feuereifer ging er an die Verbesserung seiner Tragödie. Ganze Nächte verbrachte er mit ihrer Umarbeitung. Sei es nun, um den Schlaf zu verscheuchen oder seine Sinne zu beleben, er genoß unmäßig viel Kaffee: fünfzig Tassen täglich reichten kaum hin245-1. Dies Getränt setzte sein Blut in heftige Wallung und erhitzte es derart, daß er zur Beschwichtigung des Fiebers Opium nahm, und zwar in so starten Dosen, daß es, statt sein Übel zu lindern, sein Ende beschleunigte. Bald nach diesem mit so wenig Vorsicht angewandten Mittel stellte sich eine Art Lähmung ein, dann ein Schlagfiuß, der seinem Leben ein Ende machte.

Obgleich Voltaire von zarter Konstitution und seine Natur durch Kummer, Sorgen und anstrengende Arbeit geschwächt war, erreichte er doch ein Alter von<246> vierundachtzig Jahren. Bei ihm beherrschte der Geist stets den Leib. Seine starte Seele teilte ihre Kraft einem Körper mit, der fast wie ein Hauch war. Sein Gedächtnis war erstaunlich. Bis zum letzten Atemzuge blieb sein Geist völlig klar und seine Vorstellungskraft rege. Mit welcher Freude, meine Herren, erinnere ich Sie an die Beweise von Bewunderung und Dankbarkeit, die die Pariser diesem großen Manne während seines letzten Aufenthaltes im Vaterlande darbrachten246-1! Es ist schön, aber selten, daß die Welt gerecht ist und jenen Ausnahmemenschen, die die Natur nur hin und wieder hervorbringt, schon bei Lebenszeit Gerechtigkeit widerfahren läßt, daß sie bei ihren Zeitgenossen selbst den Beifall finden, den sie von der Nachwelt mit Sicherheit ernten. Man durfte billig erwarten, daß auf Voltaire, der den ganzen Scharfsinn seines Genius dem Ruhme seines Volkes gewidmet hat, einige Strahlen zurückfallen würden. Das haben die Franzosen gefühlt und sich durch ihre Begeisterung des Glanzes würdig gemacht, den ihr großer Lands, mann über sie und über das Jahrhundert ausgegossen hat. Würde man indes glauben, daß einem Voltaire, dem das heidnische Hellas Altäre und das alte Rom Statuen errichtet hätte, dem eine große Kaiserin, die Beschützerin der Wissenschaften, in Petersburg ein Denkmal setzen wollte246-2, daß einem solchen Manne, sage ich, in seinem Vaterlande das bißchen Erde fast verweigert wurde, das seine Asche bedeckte? Wie? Im achtzehnten Jahrhundert, wo die Aufklärung verbreiteter ist denn je, wo der philosophische Geist so große Fortschritte gemacht hat, sollte es Priester geben, barbarischer als die Heruler, würdiger, unter den Völkern von Taprobane246-3 zu leben, als im Schoße der französischen Nation, Elende, die, durch falschen Eifer verblendet und von Fanatismus trunken, verhindern, daß die letzten Pflichten der Menschlichkeit einem der berühmtesten Männer erwiesen werden, die Frankreich hervorgebracht hat? Und doch hat Europa das mit Schmerz und Entrüstung gesehen246-4! Aber wie groß auch der Haß dieser Rasenden und ihre feige Rachsucht sei, die sie noch gegen Leichname wüten läßt — weder das Geschrei des Neides noch ihr wildes Geheul werden Voltaires Andenken bestecken. Das gelindeste Schicksal, das<247> sie erwarten dürfen, ist, daß sie und ihre schnöden Ränke für ewlg ins Dunkel der Vergessenheit sinken, während Voltaires Ruhm von Zeitalter zu Zeitalter wachsen und sein Name unsterblich sein wird.

<248>

201-1 Prinz Heinrich, der zweite Sohn des Prinzen August Wilhelm und jüngere Bruder des Thronfolgers Friedrich Wilhelm, geb. am 30. Dezember 1747, † am 26. Mai 1767 im Dorfe Protzen bei Ruppin, während des Marsches seines Kürassierregiments, dessen Chef er war, zur Revue nach Berlin.

203-1 Die Ehe der Brüder des Königs, Heinrich und Ferdinand, war kinderlos oder noch ohne männliche Nachkommenschaft. So ruhte nach dem Tode August Wilhelms (1758) die Zukunft der Monarchie nur auf dessen Söhnen Friedrich Wilhelm und dem jüngeren Heinrich.

204-1 Pierre Ricaud de Tiregale, Oberst im Ingenieurkorps.

204-2 Vgl. S. 40f. 90. 96.

206-1 Der Ehe des Prinzen Friedrich Wilhelm mit der Prinzessin Elisabeth von Braunschweig-Wolfenbüttel entsproß am 7. Mai 1767 die Prinzessin Friederike.

208-1 Marcus Claudius Marcellus, der Neffe und Schwiegersohn des Kaisers Augustus, starb 23 v. Chr. im Alter von 20 Jahren.

208-2 Germanicus starb 19 n. Chr., 33 Jahre alt.

211-1 Der Tag der Verlesung in der Akademie sieht nicht fest.

211-2 Mathurin Veissière la Croze (1661 bis 1739), Benediktinermönch, dann Bibliothekar in Berlin, ein Polyhistor und Sprachgenie.

213-1 Wilhelm Jakob 's Gravesande (1688—1742), Philosoph und Mathematiker; Peter van Muschenbroek (1692—1761), Naturforscher.

213-2 Jean Baptiste Dubos (1672—1742), Ästhetiker; Samuel Clarke (1675—1729), Philosoph und Theolog; Alexander Pope (1688—1744), Dichter; Abraham Moivre (1667—1754), Mathematiker.

213-3 „Histoire d'un voyage littéraire fait, en 1733, en France, en Angleterre et en Hollande“, Haag 1735.

213-4 Jordan wurde Friedrichs Sekretär und literarischer Berater.

214-1 Damals bekam Jordan die Aufsicht über das Armenhaus, das Arbeitshaus und das Irrenhaus in Berlin.

214-2 Seit 1744 gehörte Jordan auch dem für die Universitäten bestehenden Kuratorium an.

216-1 Vgl. S. 17.

217-1 Die HJansenisten, Anhänger des niederländischen Theologen Cornelius Jansen (1585—1638), wurden vom Papst 1719 in den Bann getan.

217-2 François Joseph Hunauld (1701—1742), berühmter Anatom.

217-3 Vgl. S. 81.

218-1 Traité du feu, 1734; Système sur les maladies vénériennes, 1735.

218-2 Nouveau traité des maladies vénériennes, 1739: Traité du vestige, 1737.

218-3 Aphorismes sur la connaiset la cure des maladies, 1738; Traité de la matière médicale, 1739: Abrégé de la théorie chimique, 1741; Institutions de médecine, 1740.

218-4 Thomas Sydenham (1624 bis 1689), berühmter englischer Arzt.

218-5 Traité de la petite vérole, 1740; Observations de médecine pratique, 1743.

218-6 Wohl die „lnstitutions et aphorismes, avec un commentaire“ (1743).

219-1 Histoire naturelle de l'âme, 1745.

219-2 Vgl. die Vorrede des Königs zum Auszug aus den Kommentaren des Chevalier Folard zur Geschichte des Polybios (Bd. VI).

219-3 Vgl. S. 89. 163.

219-4 Politique du médecin de Machiavel, 1746.

220-1 Der französische Armee-Intendant.

220-2 Ouvrage de Pénélope, ou le Machiavel en médecine, 1748.

220-3 L'Homme-machine, 1748.

220-4 Mémoire sur la dyssenterie, 1750; Traité de l'asthme et et de la dyssenterie, 1750.

220-5 Œvrez philosophiques, 1751.

222-1 Antoine Pesne (1683—1757), Hofmaler in Berlin.

223-1 Francesco Solimena(1657—1747), später, aber glänzender Vertreter der neapolitanischen Malerschule. Sein Hauptwerk, die Freslen der Geschichte des Heliodor in S. Gesù nuovo in Neapel, ist starl durch Raffaels Stanzen beeinflußt.

224-1 Charles le Brun (1619—1690).

224-2 Vgl. S. 6.

224-3 Jacques Blanchard (1600—1638); Louis Boullongne (1609—1674), nebst seinen Söhnen Bon und Louis.

224-4 Hyacinthe Rigaud (1659 bis 1743); Jean Raoux (1677—1734); Jean Baptiste Simon Chardin (1699—1779).

224-5 Jean François Detroy (1679—1752).

224-6 Edme Bouchardon (1698—1762); Jean Pigalle (1714—1785): lambert Sigisbert Adam (1700—1759) und Nicolas Adam (1705—1778).

224-7 Claude Perrault (1613—1688).

225-1 Gemalt von Karl Amadeas Philipp van Loo (1718 bis nach 1790), dem Neffen des oben genannten Charles van Loo (1705—1765).

225-2 Gemeint sind die Neptunsgrotte und die prächtige Marmorkolonnade, die später abgebrochen und beim Bau des Marmorpalais verwandt wurde.

227-1 Mit der obigen Schrift griff der König im November 1752 in den Streit ein, der zwischen dem Mathematiker Samuel König in Leiden und dem Präsidenten der Berliner Akademie, Maupertuis, um die Priorität der Entdeckung des „Prinzips der Neinsien Aktion“ entbrannt war. Nach diesem Gesetz sollte sich die haushälterische Natur für alle Bewegung stets mit dem kleinsten Kraftmaß begnügen. Maupertuis nahm diese Entdesung für sich in Anspruch, während Samuel König sie Leibniz zuwies. Der Leibnizbrief, auf den sich König bezog, wurde von der Berliner Akademie für eine Fälschung erklärt — wie heute feststeht, mit Unrecht. In einer anonymen Flugschrift „Réponse d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris“ nahm nun Voltaire aus persönlichen Gründen gegen Maupertuis Partei. Gegen sie wandte sich Friedrich im obigen „Brief“. Voltaires Antwort blldete das Pamphlet: „Diatribe du Docteur Akakia, médecin du Pape“, die Friedrich öffentlich verbrennen ließ. Damit war der Bruch zwischen ihm und Voltaire unvermeidlich.

230-1 Maupertuis starb erst am 27. Juli 1759 in Basel.

233-1 Voltaire war am 30. Mai 1778 gestorben.

234-1 Voltaires Vater, François Arouet († 1722), war Notar und später Sportelzahlmeister an der Pariser Rechnungskammer. Über den Ursprung des Pseudonyms Voltaire ist Sicheres nicht bekannt. Es erscheint zuerst 1719 in der Widmung des „Ödipus“ an die Herzogin von Orleans.

234-2 Der „Ödipus“, 1712 begonnen, wurde am 18. November 1718 in Paris aufgeführt.

234-3 Die „Odes philippiques“ von La Grange (vgl. Bd.VII, S. 32).

234-4 Hier liegt eine Verwechslung vor mit Voltaires erster Gefangenschaft in der Basiille (1717/1718), die aber ihren guten Grund in einem höchst anstößigen lateinischen Spottgedicht („Puero !egante“) auf den Regenten hatte.

235-1 Voltaire ging erst im Mai 1726 nach England, und zwar nach feiner zweiten Gefangenschaft in der Bastille. Sie war die Folge einer Forderung, die er dem Chevalier de Rohan wegen einer ihm öffentlich zugefügten Beschimpfung hatte zugehen lassen.

235-2 „La Ligue ou Henri le Grand“ erschien bereits 1723.

235-3 „Élements de la philosophie de Newton“, 1738.

235-4 Bekannter als „Lettres philosophiques“, 1733.

235-5 „Brutus“ wurde 1730 aufgeführt; „Mariamne“ war schon 1724 gespielt worden.

236-1 Vgl. S. 40 f. 90. 96.

236-2 „Les principes de Newton.“

236-3 Die erste Fassung des „Essai sur les mœurs et l'esprit des nations“. Das Werk erschien ohne Wissen und Wollen Voltaires 1753 in Berlin und Holland unter dem Titel „Abrégé de l'histoire universelle“. Erst 1769 gab Voltaire es in der endgültigen Gestalt unter dem Titel „Essai“ usw. heraus.

236-4 „Le Siècle de Louis XIV“, Berlin 1751, 2 Bände.

236-5 „Histoire de Charles XII“, 1731.

236-6 In Luneville residierte König Stanislaus Leszczynski, Ludwigs XV. Schwiegervater, nach seinem Verzicht auf die polnische Krone (1735).

237-1 Nach der ersten Begegnung mit dem König auf Schloß Moyland bei Kleve (11. September 1740) hatte Voltaire Ende 1742 und dann nochmals 1743 am preußischen Hofe geweilt. Vgl. Bd II, S. 149.

237-2 Am 10. Juli 1750 traf Voltaire in Potsdam ein.

237-3 Vgl. S. 227 ff.

237-4 Voltaire verließ Potsdam am 25. März 1753.

237-5 Die Übersiedlung nach Les Délices fand schon im Frühjahr 1755 statt.

237-6 „Der Genfer Bürgerkrieg. Ein Heldengedicht.“ 1767.

238-1 Vgl. S. 3 ff. und Bd. I I, S. 45.

240-1 Vgl. Bd. VII, S. 33.

240-2 Vgl. S. 182.

241-1 Vgl. S. 236.

241-2 Vgl. S. 60.

241-3 Das astronomische Lehrgedicht: Phaenomena.

241-4 Das Lehrgedicht: De rerum natura

242-1 All meinen Besitz trage ich bei mir.

243-1 Vgl. S. 162.

243-2 Vgl. S. 103 ff.

243-3 Vgl. S. 195.

243-4 Vgl. S. 163.

244-1 Jean Galas, ein protestantischer Kaufmann in Toulouse, wurde 1762 gerädert, weil die Geistlichkeit ihn beschuldigte, seinen Sohn, der Selbstmord begangen hatte, ermordet zu haben. Dank Voltaires unermüdlichen Bemühungen wurde er 1765 rehabilitiert und seine Familie entschädigt.

244-2 Sirven, ein Protestant aus Castres, wurde angeklagt, seine Tochter ertränkt zu haben, weil sie katholisch geworden war, und 1764 verurteilt. Unter persönlicher Gefahr setzte Voltaire 1771 die Freisprechung Sirvens und seiner Familie durch.

244-3 Der junge Chevalier de La Barre und zwei Freunde waren 1765 beschuldigt worden, ein Kruzifix verstümmelt zu haben. Er wurde 1766 hingerichtet. Voltaire versuchte umsonst, seinen Mitverurteilten d'Etallonde zu rehabilitieren.

245-1 D'Alembert, aus dessen Berichten der König die Darstellung von Voltaires Tobe schöpft, spricht nur von „viel Kaffee“.

246-1 Am 30. März 1778 wohnte Voltaire nach einem glanzvollen Empfang in der Akademie der Aufführung seiner „Irene“ bei, die sich für ihn zu einer beispiellosen Ovation gestaltete. Nach der Vorstellung wurde seine Büste auf der Bühne mit Lorbeer gekrönt und ihm selbst ein Lorbeerkranz aufs Haupt gedrückt.

246-2 Wie d'Alembert am 16. August 1778 dem König schrieb, hatte Katharina II. Voltaires Bibliothel angekauft und beabsichtigte, sie in einem kleinen Tempel aufzustellen und in dessen Mitte ihm ein Denkmal zu erlichten.

246-3 Taprobane, altgriechischer Name für Ceylon, nach dem Sanskritnamen Tamrapanni.

246-4 Da die Pariser Geistlichkeit verbot, daß Voltaire in der Hauptstadt begraben wurde, mußte er in der Abteikirche von Scellières in der Champagne beigesetzt werden, deren Abt, Abbe Mignot, sein Neffe war. Der Einspruch des Bischofs von Troyes gegen seine dortige Bestattung kam zu spät. 1791 wurde die Leiche auf Beschluß der Nationalversammlung nach Paris übergeführt und mit großem Pomp im Pantheon beigesetzt.