<82>So sehr auch Kleid und Brauch uns trennen mochten,
Einst China und die Perser unterjochten.

Man hütet sich ja so vor ernstem Denken
Und läßt im Witz das bißchen Geist versprühn.
Ja, redet man nur lässig, frech und kühn,
Kann man die Welt nach seiner Laune lenken.
Demütig beugt sie ihr betörtes Haupt,
Der größre Narr dem kleinern Narren glaubt.
Ein stolzer Ton und eine freche Stirn
Beherrschen stets der Masse blödes Hirn...

Und doch bevölkert ja solch schielend Pack
Die ganze Welt, man trifft es jeden Tag.
Virgil wird leichter als Segrais1 gewogen,
August den Antoninen vorgezogen.
Gekrönte heil'ge Väter voller Lügen
Malten Julian mit des Tiberius Zügen.
Der fromme Trug bekehrte alle Welt,
Julian ward als ein Scheusal hingestellt,
Und erst nach tausend Jahren sprach ein Weiser2
Die Wahrheit über diesen großen Kaiser.
Hat ganz Paris nicht seinen Spott getrieben
Mit jenem Mann,3 der einst ein Werk geschrieben,
Worin er Feuris mit Homer vergleicht?
Doch Frankreich hielt dies Buch für hohl und seicht
Und lernte erst durch Fremde seinen Wert.

Auch London hatte Milton nie geehrt.
Nach seinem Tode erst sah England klar,
Wie schön das Epos seines Dichters war.
Das Werk war gut, es mußte immer taugen.
Talente zu durchschaun, bedarf es guter Augen.

Ihr wähnt, ein Buch, ein Stück sei nur vorhanden,
Damit es Eurer Laune dienstbar sei,


1 Jean Regnauld de Segrais (1624—1701), französischer Dichter, der auch Virgils Werke ins Französische übertragen hat.

2 Anmerkung des Königs: „Abbe de la Blatterte“ (vgl. S. 11).

3 Anmerkung des Königs: „Abbé Dubos.“ Dieser war der Verfasser des Werkes: „Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture“ (Paris 1719).