<97>„Das Glück“, versetzt' ich, „ist ein schlimmes Gift.
„Kann es den Geist mit Hirngespinsten nähren,
„So muß sich auch des Besten Sinn verkehren;
„In seinem Wahn glaubt er, ein Gott zu sein,
„Verlangt, daß Weihrauch überall ihm dampfe.
„Die Mächtigen in ihres Hochmuts Krampfe
„Vermeinen, daß die Vorsehung allein
„Für sie erschuf, was auf der Erde lebt
„Und was auf Flügeln durch die Lüfte schwebt.
„Sie fühlen sich als Mittelpunkt der Welt;
„Geht's ihnen gut, ist alles wohlbestellt.
„Zart gegen sich, doch gegen andre hart,
„Vom Glück berauscht, in ihren Rang vernarrt
„Und streng ihn wahrend, gleichen sie den Ästen,
„Die sich aus ihres Stammes Säften mästen
„Und eitle Blätterzier in Fülle treiben,
„Doch uns die süßen Früchte schuldig bleiben.
„Wird denn für sie allein der Saft bereitet,
„Den das Geflecht des Schafts zum Wipfel leitet?
„Ach, welcher Gärtner wird sie klug beschneiden,
„Wenn sie Pomona ihre Gaben neiden?
„Wie schmerzt es mich, es werden immer mehr!“
„Vielleicht, daß manches Herz wohltätig wär',“
Erwiderte mein Freund mit düstren Mienen.
„Doch die verderbte Welt ist voll von Bösen;
„Durch Wohltun ist nur Undank einzulösen:
„Wer Menschen kennt, versagt den Beistand ihnen!“
Wie schön ist's, Freund, sich Undank zu verdienen!
Ist's nötig, wenn es uns zur Tugend drangt,
Daß kaltes Klügeln unsrem Herzen wehrt?
Weise Minerva, Schwester, liebenswert,
Mit allen Herzensgaben reich beschenkt,
Ich weiß, Du denkst: ein edles Herze muß
Wohltätig sein; ihm ist es Hochgenuß,
Wenn es den Menschen, seines Gleichen, spendet,
Was ihm des Himmels Güte zugewendet!
Die Säulen, die ein kluger Architekt
Vor seinen Bau in edler Ordnung stellt,