8. An d'Argens45-1
Über die Schwachen des menschlichen Geistes
Ein Zweifler, ja, Freund d'Argens, bin auch ich:
Gleich Dir lieb' ich's, mein Urteil auszusetzen.
Statt Deinen Geist zum letzten Schluß zu Hetzen,
Prüfst Du den wahren Grund bescheidentlich.
Du kennst den ewig irrenden Verstand,
Des Aberglaubens schmählichen Betrug;
Ich seh' in Deiner Philosophenhand
Die Wage schwanken: Dir ist es genug,
Zu zweifeln, doch Du fürchtest, zu bejahn;
Nie hat Parteiwut es Dir angetan!
Als Jüngling war ich stolz und dünkelhaft;
Rasch stand mein Urteil fest. In reifen Jahren
Lernt' ich vor dieser Torheit mich bewahren;
Da kam ich zum Bewußtsein meiner baren
Unkenntnis und der eitlen Wissenschaft.
Im Traum schwang ich zum Himmel mich empor
Auf Flügeln, die ich wachen Sinns verlor.
Mißtrauen lernt' ich da dem Phantasieren
Eilfertiger Neugier und dem Spekulieren
Des Grüblers, den sein eigner Wahn betrügt.
Mich deucht, ist zweckvoll diese Welt gefügt,
So ward vom Geist ein Fünkchen uns zuteil,
Das klein, für unsre Notdurft doch genügt.
Der Himmel gab es uns zu unserm Heil,
<46>Um unsres Schicksals Elend aufzuwiegen:
Sonst müßten wir den Leiden ja erliegen!
An Kräften stehn wir allen Tieren nach;
Hilflos als Kind, gefährdet ohne Waffen,
Müßt' uns im ersten Lenz der Tod entraffen.
Ein künstliches Gebild, gebrechlich, schwach,
Ist unser Leib; nur eine dünne Haut
Schützt uns vor Sturm und Frost; in stetem Ringen
Gilt es, die Elemente zu bezwingen.
Mit Spinnen, Weben ward der Mensch vertraut;
Er fällte Holz, mit dem er Hütten baut,
Grub Steine aus dem Fels und schuf sich Wagen,
Die schwere Bürde knarrend fortzutragen.
Doch mehr als alles galt es sich zu nähren,
Zu helfen und die Notdurft zu erklären,
Durch Laute seiner Seele Wunsch zu künden,
Das Feuer, das uns wärmte, zu entzünden,
Zum eignen Schutz sich Künste auszudenken,
Den Stahl zu Härten und das Tier zu lenken;
So gab Natur, um unser Los zu lindern,
Den Kunsifieiß einst den schwachen Menschenkindern.
Doch wenn der Dünkel die Vernunft bezwingt
Und unser Geist zu hoch empor sich schwingt,
Wenn unser Auge dreist die Nacht durchbohrt,
Mit der Natur sich rätselhaft umflort —
Glaul' nicht, der Weltplan würd' uns offenbar:
Nur unsre eignen Schranken sehn wir klar!
Der Sinne ledig, faßt der Geist nichts mehr;
Ihr Beistand nur kann durch das All ihn tragen,
Doch ohne sie treibt er ins Ungefähr,
Ein Schifflein auf dem grenzenlosen Meer,
Das masi- und feuerlos, vom Wind verschlagen,
Ein Raub der Wogen, fern dem Heimatstrand,
Am Riff zerschellt in unerforschtem Land.
Jedes System ist voller Widersinn:
Von Scylla reißt mich's zu Charybdis hin.
Geziemt es uns, selbstherrlich zu entscheiden,
Wo tausend Rätsel sich in Dunkel kleiden?
<47>Durch seine Sinne und durch ihren Trug
Lernt dies und das der Mensch — wenig genug.
Hört man ihn selbst, war er von je so klug,
Daß er, als Gott einst Erd' und Himmel schied.
Bei seinen tiefen Plänen ihn beriet
Und ihm gestalten half den Bau der Welt.
Das weise Rom, Athen, von Stolz geschwellt,
Beschrieben klar der Götter Art und Wesen
Und konnten nicht im Menschenherzen lesen!
Ist's Dir bestimmt, Du engbeschränkter Geist,
Dem Grenzenlosen Dein Gesetz zu geben?
Erkennst Du nicht, Du Wurm, so schwach wie dreist,
Die Kluft der Zeiten und Dein kurzes Leben?
Du willst den Strom des Werdens überschauen,
Du Eintagsfliege, die in ihm ertrinkt?
Dein Auge darf sich blinzelnd kaum getrauen
Ins Licht zu sehn; doch wähnst Du, es ergründe,
Wie sich der Sonnen Feuerbahn verschlingt!
Du sähst vom blachen Felde bei Berlin
Noch eher ragen Alp und Apennin,
Als daß Du wüßtest, wie das All entstünde.
Wärst Du auch Ödipus an Weisheit gleich,
Du fändest doch die Welt an Rätseln reich,
Im Größten wie im Winzigsten unendlich!
Ist dem Gelehrten wohl sein „Stoff“ verständlich?
Was ist Anziehungskraft? Er weiß es nicht.
Doch unentwegt schreibt er sein Lehrgedicht
Vom Geist in Wotten, unbestimmt und kraus.
Sein Kauderwelsch stellt uns die Seele dar
Als Hauch, als Himmelsglut, als Wesen gar.
Statt zu erklären, sinnt er Worte aus;
Wohl irrt er ab, doch bricht er keine Bahn.
In Abstraktionen schwelgt, spitzfindig nur,
Sein dürrer Geist; von Tiefe keine Spur.
Ob wir dem Schicksal sklavisch Untertan,
Ob frei der Wille sei — wie will er's wissen?
Sich kennt er nicht, allein sein Geist errät,
Daß anfangslos die Welt von je besieht.
<48>Ein andrer weiß, wie aus den Finsternissen
Des alten Chaos Gottes Werderuf —
Ein Wörtlein nur — der Dinge Ordnung schuf!
Sein Scharfsinn urteilt, ohne abzuwägen,
„Erklärt“, wie Wesen aus dem Nichts entstehn!
Weiß er, was „Leere“ sei? Ist einzusehn,
Wie Körper sich im vollen Raum bewegen?...
Bevor ein Sohn Euklids das Land aufnimmt
Und Berg und Tal auf seinem Plan bestimmt,
Prüft er zunächst sein mancherlei Gerät:
Je schärfer dieses, um so sichrer geht
Sein Werk vonstatten — welch ein weiser Brauch!
Gebührt es, eh man Schlüsse zieht, nicht auch,
Zu prüfen, wie beschaffen der Verstand?
Wer sich nicht kennt, ist in des Zufalls Hand,
Behauptet dies und das, verneint, bejaht.
Auf sich beschränkt, gerät auf falschen Pfad
Sein Wissensdrang, versteigt sich in das Leere.
Weiß er, ob der Verstand ihn nicht betrügt,
Ob sich sein Flattergeist dem Zügel fügt,
Ob nicht die Phantasie der Weisheit Lehre
Verspottet und mit ihm ins Blaue reist?
Doch unser Dünkel läßt den Wahn bestehen:
Er will durch Prüfung nicht beschämt sich sehen!
Ist's nicht, als ob der trügerische Geist,
Der Wahrheit ftemd, für Irrtum nur erglüht?
Vom Wunderbaren läßt sich das Gemüt
Gar leicht umstricken mit gefäll'ger Lüge.
Gleich einem schlechten Spiegel wirft es nicht
Das Bild der Wirklichkeit zurück: es bricht
Die Strahlen nur, verzerrt der Dinge Züge.
Der Mensch weiß nicht, wie weit sein Irrtum geht!
Als Weiser dünkt sich noch der größte Narr,
Bestaunt, von Eigendünkel aufgebläht,
Sein Können, bringt sich selber Weihrauch dar.
Schau, wie er täglich den Verstand mißbraucht!
Wenn Gold zu machen ein Adept verspricht,
<49>Sehn hundert gierbetörte Opfer nicht,
Wie in dem Tiegel all ihr Gut verraucht!
Ein Astrologe liest ein Strafgericht
Am Himmel und ein unheilschwangres Morgen;
Das Volk, verstört und stumm, ist voller Sorgen
Vor den Gefahren, die Saturn ihm droht.
Es wähnt, daß Gott, als Vorspiel großer Not,
Der Elemente feste Ordnung stört.
Wie? Stumme Sterne reden gleich Propheten?
Die Welt geht unter, zeigen sich Kometen?
Ich kenne manche, die der Wahn betört
Von Geistern und Vampiren, die uns plagen.
Nachts sehn sie jeden Schatten als Gespenst.
In stetem Grausen, das an Wahnsinn grenzt,
Und immerzu von Spuk beängstigt, klagen
Sie Tote an, den Lebenden zu schaden!
Allein mit Aberwitz noch mehr beladen
Ist spielend leicht betrogner Wunderglaube.
Das blöde Volk fällt jedem Schelm zum Raube,
Der mit Orakeln listig es belügt,
Durch Gaukelspiel von Wundern es betrügt.
Geh alle Zeiten durch und alle Lande:
An wunderlichen Kulten ist kein Mangel
Von Rom bis Peking, Memphis bis Archangel,
Daran die Menschheit hängt zu ihrer Schande.
Stets trieben Pfaffen ihr verruchtes Spiel
Mit unsrer armen Welt, der glaubenstollen;
Der Weihrauch dampfte vor dem Krokodil,
Verehrt ward alles bis zum Zwiebelknollen. 49-1
Schmach über Schmach! Selbst die Germanen brachten
Grausamen Göttern ihre Huldigung dar,
Und Menschenopfer sah man am Altar,
Um jener Götzen Zorn zu stillen, schlachten.
Doch hielt in ihrem Wahn die Welt noch Frieden;
<50>Des Glaubens Kraft ward nicht durchs Schwert entschieden:
In Blut erst watete das Christentum
Und brachte sich für neue Dogmen um.
Da war's, wo man den ftommen Mordsiahl schliff
Für einen Glauben, den kein Mensch begriff.
In neuem Wahn suchte die Welt ihr Heil,
Dem alten fluchend — keinem zu Gewinn!
Aus Schwäche zweifelt so der blöde Sinn
Des Volkes oder glaubt aus Vorurteil!
Wohin führt all der eitele Verstand,
Der prahlend uns als Herrn der Tiere preist?
Hirnlose Blödheit find' ich allermeist,
Das Denken geht mit Schwärmen Hand in Hand.
Ein Wahn, der schmeichelt, kann uns leicht bestechen;
Die siärlsie Seele zeigt sich voller Schwächen,
Und leider ist die Scheidung niemals rein:
Nur Scharfsinn sieht die eignen Schranken ein.
Den Sinnen haben alles wir zu danken;
Sie sind's, die unfern schwachen Geist ernähren;
Sie geben Halt und Stütze den Gedanken;
Erfahrung reift, verknüpfst Du ihre Lehren.
Läßt alles sich nur durch Vergleich begreifen,
Muß ohne sie der Geist ins Leere schweifen ...
Du, ein Atom im unermeßnen Raum,
Wähnst, daß Unendlichkeit sich Dir erschließt?
Dein Dünkel übers Ziel ins Blaue schießt:
Ein Mensch von Los, bist Du ein Gott im Traum.
Indes der Aar zum Sitz des Donners strebt,
Die bange Schwalbe scheu am Boden klebt.
Sei Du nicht zag, doch auch nicht flatterhaft:
Dir ziemt die Mitte; Vorsicht leite Dich!
Drum tadl' ich nicht den Hang zur Wissenschaft;
Sie ist dem Menschengeist gar förderlich.
Der Weise sei gelehrt, doch Eigensinn
Sei fern von ihm, sein Zweifel stets lebendig.
Sein Denken zügelnd, lerne er beständig
<51>Aus seiner eignen Ohnmacht Weisheit ziehn.
Ein Goldkorn hat für Arme hohen Preis,
Und vieles lernt, wer sieht, daß er nichts weiß.
Jedwedes Tier in dieser weiten Welt
Ist unter ein Gesetz und Ziel gestellt;
Natur hat allen ihren Platz gewiesen.
So gleicht der Mensch Antäus, jenem Riesen,
Der auf der Erde unbezwinglich blieb.
Ins Luftreich hob ihn Herkules empor:
Er starb, weil er sein Element verlor.
Nimm drum, o Mensch, mit deinem Reich fürlieb!
Wer könnte seiner Sphäre sich entziehn
Und atmen, wo Merkur und Venus kreist?
Der Pfau erstickt im Wasser, der Delphin
Stirbt in der Luft: so darf auch unser Geist
Der Sinnenwelt nicht ungestraft entfliehn.
Kurz, unsern Dünkel müssen wir verlieren;
Wir sollen handeln, nicht philosophieren.
Mit andren Sinnen wär' der Mensch geboren,
Wär' er zur Metaphysik auserkoren.
Dann wäre jedes Erdenband zerrissen;
Wir schwängen uns empor zu Himmelssphären,
Erkennten, was wir ahnen, doch nicht wissen:
Die ewigen Geister, Gott, den wir verehren.
Durchdringend wäre unser Blick, gestillt
All unser Sehnen ohne Astronomen.
Nichts war“ Problem, wo klarer Lehrsatz gilt,
Zerlegbar selbst Monaden und Atome,
Und die Natur erfassend im Entstehen,
Könnten wir auf den Grund der Dinge sehen.
Doch Gott hat diese Einsicht uns verwehrt;
Er macht uns glücklich ohne vieles Wissen.
Beugen wir uns in Demut seinen Schlüssen,
Zufrieden mit dem Los, das er beschert!
Sei Mäßigung und sei Behutsamkeit
Des schwachen Geistes ständiges Geleit!
In ihrer Hut erblühte ehedem
<52>Der Grieche,52-1 der uns selbst ein Vorbild war.
Des Geistes Dünkel kann' er, die Gefahr
Von einem klug gezimmerten System,
Und mit des Zweifels Schild bewehrt, entrann
Er weisheitsvoll des Irrtums Zauberbann.
Sein Schüler Cicero trug, was er lehrte,
Hinüber nach Ausoniens Gestad.
Vater des Vaterlands, groß im Senat,
Bedächtiger Denker, der dem Irrtum wehrte,
O weiser Cicero, sei Du mein Rat, —
Du, dessen Redekunst im Tribunal
Herniederschleuderte den Rachestrahl
Auf Catilinas schuldbedecktes Haupt,
Auf Verres, der SizUien ausgesogen,
Du, der nach Tuskulum zurückgezogen,
Die zweifeln lehrte, die zu leicht geglaubt,
Der uns den Weg zum wahren Glücke wies,
Indem er uns den Reiz der Tugend pries!
Ja, laßt im Himmel das erhabne Wissen!
Auf Erden bleibt das Lasier zu bezwingen.
Was hilft es uns, trotz allen Hindernissen
Zu Höll' und Himmel trotzig vorzudringen?
Statt uns in dieses Labyrinth zu wagen,
Laßt uns die Sittlichkeit im Busen tragen —
Sie, die gestreng das tiefste Herz ergründet,
Der Menschen Bosheit ungeschmintt verkündet,
Die Fehler geißelt, gegen Torheit kämpft,
Der Leidenschaften irren Taumel dämpft
Und unbestechlich Fehl und Tugend scheidet,
Die aller falschen Hüllen uns entkleidet
Und Rasende zur Menschlichkeit bekehrt,
Die hoffärtige Könige belehrt,
Daß sie nur Menschen sind, uns gleichgestellt,
Und die im Mißgeschick uns aufrecht hält.
O hehre Tugend, heilige mein Lied,
Daß Epikur der Stoa sich verbinde!
<53>Ihm leihe Schwung und mache sie gelinde:
Je sanfter man zu Dir des Weges zieht,
Je lieber wird die Menschheit Dir sich weihn.
Mein ganzes Forschen gelte Dir allein,
Solange das Geschick mir Frist gewahrt!
Nicht grübelnd will ich meine Zeit verschwenden,
Die zum Genießen die Natur beschert:
Mich soll Descartes und Leibniz nicht verblenden!
45-1 Jean Baptisie de Boyer, Marquis d'Argens, der Freund des Königs. Vgl. Bd. VIII, S.132 ff. und 192 f.
49-1 Vgl. Bd. I, S. 190.
52-1 Anmerkung des Königs: „Karneades.“ Er lehrte den Skeptizismus und stiftete die sogenannte neue Akademie in Athen (gest. 129 v. Chr.).