<116>nellen. Sie sind so groß, daß eine chinesische Familie in ihrem Bauche bequem wohnen könnte. Man versicherte mir, es sei ein großer Beweis von Höflichkeit, sie für einen Fremden lösen zu lassen, und der Gipfel der Ehre sei, sie mit Kugeln zu laden. Ich gestehe Dir, erhabner Kaiser, ich war hocherfreut, daß ich auf Deinen Befehl inkognito reise; denn das hat mich bei dieser Gelegenheit vor einer großen Gefahr behütet.
Wir fuhren durch ein ziemlich schmales Meer, das Europa von Afrika trennt, und nach vierzehntägiger Schiffahrt landeten wir glücklich in einem Hafen namens Ostia. Ich war verwundert über eine Menge von Dingen, die von allem, was man in Deinem unermeßlichen Reiche sieht, völlig verschieden sind, insonderheit die Sitten und Gebräuche der Europäer, die sich mit nichts vergleichen lassen. Pater Berteau redete mir zu, nach der Hauptstadt Europas zu reisen. Ich fand es fürwahr nicht lohnend, die kleinen Städte zu besuchen. Ging ich aber nach der größten, so fand ich dort das Original, von dem die andren nur Abbilder sind.
Rom ist für die Europäer das gleiche, was Tibet für die Mandschus und die mongolischen Tartaren ist. Dort residiert der große Lama, ein Priesterkönig. Man versicherte mir, seine geistliche Macht erstrecke sich weiter als die weltliche, und wenn er eine gewisse Formel sage, so erbebten die Könige auf ihren Thronen. Ich wollte es nicht glauben und fragte einen alten Bonzen, mit dem ich Bekanntschaft machte, ob die sonderbare Behauptung wahr sei.
„Sehr wahr“, sagte er. „Um Ihnen jedoch nichts zu verhehlen, muß ich Ihnen gestehen, daß die gute Zeit vorüber ist. Vor fünfhundert Jahren galten gewisse mystische Worte, die unser heiliger Oberpriesier aussprach, soviel wie Beschwörungen und ließen nach unsrem Belieben Kronen und Zepter fallen. Dies Vergnügen haben wir nicht mehr, aber wir besitzen andre Mittel, die uns doch noch immer Ansehen bei den Großen verschaffen und sie in ziemlich starke Bedrängnis bringen.“ — „Welch sonderbares Vergnügen“, fragte ich, „macht es Ihnen denn, derart Um frieden in Ländern zu stiften, über die Sie keine Gerichtsbarkeit haben?“ — „Keine Gerichtsbarkeit!“ erwiderte er. „Wie? Haben wir denn nicht die geistliche Gerichtsbarkeit über alle Seelen? Die Könige haben Seelen, folglich ...“ — „Ach!“ rief ich, „Ihre Meinung würde in Peking nicht gelten. Unsre erhabnen Herrscher haben auch Seelen. Sie sind aber fest überzeugt, daß sie ihnen selbst gehören und daß sie darüber nur dem Tien1 Rechenschaft schulden.“ — „Das ist“, entgegnete der Bonze, „just die Ketzerei derer, die sich von der Kirche getrennt haben.“ — „Was ist Ketzerei?“ fragte ich. — „Die Meinung aller, die nicht so denken wie wir.“ Ich tonnte mir nicht versagen, ihm entgegenzuhalten, ich fände es scherzhaft, daß er von jedermann verlangte, seine Meinung zu teilen. Denn als der Tien uns schuf, habe er jedem besondere Züge, einen besonderen Charakter und eine besondre Art, die Dinge zu sehen,
1 Der Himmel.