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Ludwig XIV. übertrug seine Rechte auf seinen Enkel Philipp von Anjou. Er hoffte, durch die Wahl eines Prinzen, der für den Thron Frankreichs nicht in Betracht kam, den Schwierigkeiten und Hindernissen zu begegnen, die Europas Eifersucht seiner Machterweiterung in den Weg legen konnte. Philipp ging nach Spanien und wurde von allen Fürsten mit Ausnahme Kaiser Leopolds als König anerkannt.

Zu Beginn des nun entstehenden Krieges befand sich Frankreich auf dem Gipfel seiner Macht. Es hatte all seine Feinde besiegt. Der Friede von Ryswik verkündete seine Mäßigung; Ludwig XIV. war gefürchtet und geachtet, seines Namens Glanz und Herrlichkeit breitete sich über öen ganzen Erdball aus. Frankreich glich einem Athleten, der allein zum Kampf gerüstet ist und einen Ringplatz betritt, auf dem noch kein Gegner erschienen. Für die Ausrüstung der Kriegsmacht, die zu Land und zur See gleichermaßen gewaltig war, wurde nichts gespart. Während seiner höchsten Kraftleistungen unterhielt Frankreich 400 000 Streiter. Allein die großen Feldherren waren tot. So kam es, daß Frankreich, bevor Villars' Genius hervortrat, 800 000 Arme hatte, aber keinen Kopf. So sehr trifft das Wort zu, daß das Geschick der Staaten oft nur von einem einzigen Mann abhängt!

Das Haus Österreich war nicht entfernt in so glücklicher Lage. Die Kriege, die es unaufhörlich führen mußte, hatten es fast erschöpft. Die Regierung war aus Ermattung in Schwäche versunken. Und trotz seiner Zugehörigkeit zum Deutschen Reich vermochte Österreich nichts ohne den Beistand der Holländer und Engländer. Dafür aber, daß es weniger Hilfsquellen und Truppen als Frankreich besaß, hatte es an der Spitze seiner Heere den Prinzen Eugen von Savoyen1.

Als König Wilhelm, der England und Holland regierte, den Tod Karls II. erfuhr, war er wie betäubt vor Überraschung und erkannte in einer Art Übereilung den Herzog von Anjou als König von Spanien an. Sobald er aber reiflich nachgedacht hatte, kehrte er zu seinem natürlichen Phlegma zurück und erklärte sich für das Haus Österreich, da die englische Nation es wollte und auch sein Interesse es zu fordern schien.

Der Norden war selbst in einen Krieg verwickelt, den Karl XII. gegen Dänemark führte. Die große Jugend des Schwedenkönigs hatte seinen Nachbarn die Kühnheit verliehen, ihn anzugreifen. Aber sie fanden einen Helden, der ungestümen Mut mit unversöhnlicher Rachsucht vereinte.

Friedrich III., der im Frieden lebte, nahm an der großen Allianz teil, die wider Ludwig XIV. geschlossen wurde. König Wilhelm war ihre Seele, der österreichische Erzherzog2 ihr Vorwand. Der Kurfürst nahm für seine Mitwirkung Subsidien an3, um seiner verschwenderischen Prachtliebe frönen zu können. Er hoffte, die Unterstützung, die er den Verbündeten lieh, werde ihm den Weg zum Königtum bahnen. Solcher Widersprüche ist der menschliche Geist fähig! Der Kurfürst, dessen Seele so


1 Vgl. Bd. II, G. 19 f.

2 Kaiser Leopold I. hatte seinen zweiten Sohn, Erzherzog Karl, den nachmaligen Kaiser Karl VI., zum Erben der spanischen Krone ausersehen.

3 Vgl. Bd. VII, S. 158.