<196> genug untergraben. So sind stets die reinsten Quellen des Guten zur Ursache von aller Art Übel für die Menschen geworden: die Religion, die Demut, Nächstenliebe und Geduld lehrte, wurde mit Feuer und Schwert verbreitet. Die Priester, deren Erbteil Heiligkeit und Armut hätten sein sollen, gaben sich einem anstößigen Wandel hin. Sie erwarben Reichtümer, wurden ehrgeizig, einzelne von ihnen waren mächtige Fürsten. Der Papst, der ursprünglich von den Kaisern abhing, maßte sich die Macht an, sie zu erheben und abzusetzen, schleuderte den Bannstrahl, belegte Königreiche mit dem Interdikt und trieb die Dinge derart auf die Spitze, daß die Welt sich schließlich so oder so gegen all diese Mißbräuche auflehnen mußte. Die Religion veränderte sich mit den Sitten. Von Jahrhundert zu Jahrhundert verlor sie ihre ursprüngliche Einfachheit mehr und wurde schließlich in all dem falschen Gepränge ganz unkenntlich. Alles, was man hinzutat, war nur Menschenwerk und mußte als solches zugrunde gehen. Auf dem Konzil von Nizäa (325) wurde die Gottheit des Sohnes der des Vaters gleichgestellt1, und durch Hinzufügung des Heiligen Geistes zu diesen zwei Personen entstand die Dreifaltigkeit. Ein Konzil zu Toledo (400) untersagte den Priestern, sich zu verheiraten; doch unterwarfen sie sich dem Willen der Kirche erst im 13. Jahrhundert. Später erhob das Konzil von Trient jene Vorschrift zum Dogma. Der Bilderkult war vom zweiten Konzil zu Nizäa (787) genehmigt worden. Und die Transsubstantiation wurde auf dem Konzil von Trient (1545) festgesetzt. Die Theologenschulen behaupteten die Unfehlbarkeit des Papstes bereits, seit die Bischöfe von Rom und von Konstantinopel sich feindlich gegenüberstanden. Einige Einsiedler gründeten religiöse Orden und wandten das Leben, das ganz im Dienste der Gesellschaft stehen soll, tatloser Beschaulichkeit zu. Die Klöster vermehrten sich ins Angemessene, und ein großer Teil der Menschheit vergrub sich in ihnen. Endlich wurden Betrügereien aller Art ersonnen, um die Leichtgläubigkeit des großen Haufens auszubeuten, und falsche Wunder wurden beinahe gang und gäbe.

Aber nicht aus den Umwälzungen in den religiösen Anschauungen konnte eine Reformation der Kirche hervorgehen. Der Scharfsinn der meisten denkenden Menschen richtet sich auf Dinge, bei denen ihr Eigennutz und Ehrgeiz ins Spiel kommt. Wenige befassen sich mit abstrakten Ideen, und noch kleiner ist die Zahl derer, die gründlich über so wichtige Fragen nachdenken. Und das Volk, der achtbarste, zahlreichste und unglücklichste Teil der Gesellschaft, folgt den Anregungen, die man ihm gibt.

Den Anstoß gab also nicht die tyrannische Macht, die der Klerus über die Gewissen ausübte. Die Priester nahmen dem Volke seine Habe und seine Freiheit; diese Skla-


1 Anmerkung des Königs: „Origines und der heilige Justin waren nicht dieser Ansicht; der letztere sagt in seinem Dialog [Frankfurt 1686, S.316] daß die Größe des Sohnes an die des Vaters nicht heranreicht.“ Justinus Martyr war ein Kirchenlehrer des zweiten Jahrhunderts. Gemeint ist seine Schrift: „Gespräch von der Wahrheit und Göttlichkeit der christlichen Religion mit dem Juden Trypho.“