<200> Sie benutzten die ihnen günstige Stimmung des Königs, um reformierte Prediger in den Ortschaften einzusetzen, wo vorher lutherische waren. Daraus ersieht man, daß die Religion keineswegs die menschlichen Leidenschaften vernichtet und daß die Priester, welchen Glaubens sie auch seien, immer bereit sind, ihre Gegner zu unterdrücken, sobald sie sich für die Stärkeren halten.

Es ist eine Schmach für den Menschengeist, daß sich im Anfang eines so aufgeklärten Jahrhunderts, wie des achtzehnten, noch alle Arten lächerlichen Aberglaubens erhalten hatten. Vernünftige Menschen glaubten ebenso wie die Schwachköpfe noch an Gespenster. Irgend eine Volksüberlieferung berichtete, daß jedesmal, wenn ein Prinz des Hauses Brandenburg sterben sollte, eine weiße Frau in Berlin sich zeigte. Der verstorbene König ließ einen Unglücklichen, der die Rolle des Gespenstes gespielthatte, ergreifen und bestrafen. Durch einen so unfreundlichen Empfang verstimmt, erschienen die Geister nicht wieder, und das Volk war von seinem Irrtum geheilt.

Im Jahre 1708 wurde eine Frau, die zu ihrem Unglück alt war, als Hexe verbrannt. Thomasius, ein gelehrter Professor in Halle1 den solch barbarische Folgen der Unwissenheit tief empörten, überschüttete die Hexenrichter und Hexenprozesse mit Lächerlichkeit. Er hielt öffentliche Vorträge über die natürlichen, physikalischen Ursachen der Dinge und hatte damit so großen Erfolg, daß man sich schämte, noch weiter solche Prozesse zu führen. Seitdem konnte das weibliche Geschlecht in Frieden alt werden und sterben.

Unter allen Gelehrten, die Deutschlands Ruhm bilden, haben Leibniz und Thomasius dem Menschengeist die größten Dienste geleistet. Sie wiesen der Vernunft die Wege, auf denen sie zur Wahrheit gelangt. Sie bekämpften jegliches Vorurteil, beriefen sich in all ihren Werken auf Analogie und Erfahrung, diese beiden Krücken unserer Urteilskraft, und fanden viele Schüler.

Unter der Regierung Friedrich Wilhelms wurden die Reformierten friedlicher, und die Religionsstreitigkeiten hörten auf. Die Lutheraner benutzten die Ruhe. Ohne selber dazu beizusteuern, gründete Francke2, ein Geistlicher aus ihrer Mitte, ein Stift in Halle, wo junge Theologen ausgebildet wurden. Daraus gingen später Scharen von Priestern hervor, die eine Sekte strenger Lutheraner bildeten3. Ihnen fehlte nur das Grab des heiligen Pâris4 und ein Abbé Bécherand, der darauf herumhüpfte5 — protestantische Jansenisten, die sich von den anderen nur durch ihre starre Mystik unterscheiden. Seitdem entstanden Quäkersekten aller Art, die


1 Christian Thomasius (1655 — 1728), Rechtslehrer.

2 August Hermann Francke (1663 — 1727), Prediger und Professor der Theologie in Halle.

3 Gemeint ist der Pietismus.

4 Francois de Pâris, Diakon von Saint-Médard in Paris († 1727), ein Jesuit, der sich durch Kasteiungen vorzeitig ins Grab brachte und nach seinem Tode für heilig galt. Sein Grab galt für wundertätig.

5 Dieser Abbe, der ein zu kurzes Bein hatte, hüpfte auf dem Grabe des Diakons Pâris herum, damit das Bein länger würde.